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«Es fühlt sich überhaupt nicht an wie arbeiten»

Leben

«Es fühlt sich überhaupt nicht an wie arbeiten»

  • Interview: Leandra Nef; Fotos: GettyImages, Birgit Pestalozzi  

Nach einem schweren Unfall 2015 beschliesst Birgit Pestalozzi (42), Digitalnomadin zu werden. Seither reist sie als Beziehungscoach um die Welt. Im Interview gibt sie Tipps und Tricks zum Nomadentum und verrät, was Neueinsteiger nicht unterschätzen dürfen.

annabelle: Birgit Pestalozzi, Sie kommen soeben aus Kairo zurück – haben sie dort gearbeitet? Oder Ferien gemacht?
Birgit Pestalozzi: Für mich gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Freizeit und Arbeitszeit, es gibt nur noch Lebenszeit. Ich war in Kairo, um meinen Partner zu besuchen. Er ist ebenfalls Digitalnomade und viel unterwegs, wir sehen uns deswegen nur alle paar Monate. Aber das funktioniert gut, wir sind seit vielen Jahren ein Paar.

Sie sind seit 2015 Digitalnomadin, leben und arbeiten mal hier, mal dort. Welchen Vorbereitungen bedarf ein solches Leben?
Damit ich heute ortsunabhängig leben kann, habe ich damals alles digitalisiert. Sprich: Ich habe alle meine Unterlagen eingescannt und auf der Dropbox gespeichert. Ich habe mir eine SuisseID zugelegt, eine digitale, notariell beglaubigte Unterschrift. Habe jeden gebeten, mich nur noch per Mail zu kontaktieren. Falls mir heute doch mal jemand etwas per Post schickt, wird das von PEAX, einem Dienst für digitale Post, eingescannt und per Mail an mich weitergeleitet. Zuletzt habe ich meine Wohnung aufgelöst, alles verkauft, weggeworfen. Rund zwei Monate hat das alles gedauert. Es ist sehr viel Arbeit, aber es lohnt sich.

Und dann? Wie wird man Digitalnomade?
Eine «Digital Nomad Cruise» ist ein Supereinstieg ins Ganze. Das ist eine zehntägige Atlantiküberfahrt, zum Beispiel von Gran Canaria nach Salvador in Brasilien, mit 150 bis 200 Digital Nomads. Die Community ist total herzlich, man findet sofort Freunde und ist vom ersten Moment an super vernetzt. Auf dem Schiff gibt es täglich mehrere Workshops: Wie schalte ich Facebook-Anzeigen? Wie generiere ich ein passives Einkommen? Wenn ich nämlich ein Produkt entwickle, das ich kostenpflichtig zum Download anbieten kann – in meinem Fall zum Beispiel eine Anleitung zur Paartherapie im Selbstcoaching –, dann kann ich im Schlaf damit Geld verdienen. Vor allem aber ist die Nomad Cruise ein guter Einstieg, weil man sich mit Leuten umgibt, die diesen Lifestyle schon leben. Das ist am Anfang ganz wichtig, um zu sehen: «Wow, es ist wirklich machbar, es ist keine Utopie». Denn die Freunde in der Schweiz werden vermutlich Zweifel am neuen Lebensentwurf haben.

Wenn man den Einstieg geschafft hat: Wie darf man sich den Arbeitsalltag eines Digitalnomaden vorstellen?
Ich arbeite meist in Coworking-Coliving-Spaces, in denen ich auch wohnen kann. Zwei bis drei Stunden pro Tag coache ich meine Kunden via Zoom, das ist ein Videokonferenzdienst. Ausserdem betreibe ich vier bis fünf Stunden Marketingarbeit pro Tag, dazu kommen Strategieüberlegungen, Weiterbildungen und so weiter. Ich arbeite also noch mehr als früher, es fühlt sich aber überhaupt nicht an wie arbeiten. Ich muss aufpassen, dass ich zwischendurch mal eine Pause einlege.

Hört sich nicht nach Arbeit unter Palmen an.
Mich sieht man tatsächlich nie mit dem Laptop auf dem Liegestuhl. Wenn die Umgebung zu schön ist, lenkt das nur ab, ich arbeite lieber in einem richtigen Büro. Das Schöne ist aber: Der Strand läuft einem nicht davon, er ist immer da. In unserem Lifestyle ist man ja nicht nur zwei Wochen auf Bali und muss das Beste draus machen. Sondern zwei Monate, man kann alles viel mehr geniessen und ist nicht so gestresst.

Von all den Orten, an denen Sie bisher waren: Welcher eignet sich am besten zum Arbeiten?
Den idealen Ort habe ich noch nicht gefunden. Aber das ist auch nicht wichtig. Das Ideal ist ja, frei zu sein, überall auf der Welt sein zu können. Für viele ist es aber tatsächlich Bali oder Chiang Mai, auch Lissabon ist gerade im Kommen. Ich finde Santa Cruz in Kalifornien ziemlich toll: gutes Wetter, gesundes Essen, eine grosse Digital-Nomad-Community, Natur – ist nur leider ziemlich teuer.

Gibt es Orte auf der Welt, die Sie nicht empfehlen können?
Grundsätzlich alle Hostels und Hotels. Dort herrscht Ferienstimmung, das lenkt ab. Und Länder mit schlechter Infrastruktur, weil da immer irgendwas ausfällt: entweder der Strom, der Empfang oder das Internet. Brasilien zum Beispiel fand ich ganz schwierig: Da war das Internet total instabil. Ausserdem waren die Distanzen sehr gross und ich habe mich unsicher gefühlt. 

Wie informieren sich Digitalnomaden über Orte, an denen sie noch nie waren?
Nomadlist.com bietet tolle Analysen zu allen Städten: Lässt es sich dort gut arbeiten? Wo sind die Coworking-Spaces? Wie gut ist das Internet? Auch Facebook-Gruppen sind sehr hilfreich. Einfach «Digital Nomad» und den Namen der Stadt im Suchfeld eingeben, schon hat man eine gefunden.

Welche Fehler dürfen Neueinsteiger auf keinen Fall machen?
Der grösste Anfängerfehler ist, sich an denen zu orientieren, die schon lange als Digitalnomaden unterwegs sind. Wenn die nachmittags um drei zum Strand gehen, denken viele Einsteiger: Wenn die sich das leisten können, kann ich das auch. Aber am Anfang ist dieses Leben alles andere als ein Zuckerschlecken, da muss man sich wirklich reinknien. Auch wichtig: nicht zu viel umherreisen. Es braucht wahnsinnig viel Energie, ständig neue Orte zum Arbeiten zu suchen. Ich bleibe am liebsten drei Monate an einem Ort, so kann ich auch mein Business am besten vorantreiben. Wenn man alles richtig macht, kann man als Digitalnomade mehr verdienen als mit einer gut bezahlten Stelle in der Schweiz.

Haben Sie denn nie Leute scheitern sehen?
Scheitern nicht. Aber stolpern. Es sind vor allem die sehr jungen Digitalnomaden, die nicht genug Geld verdienen, um sich einen geeigneten Arbeitsplatz mit stabilem Internet leisten zu können. So können sie dann nicht arbeiten und kommen in einen Teufelskreis. Ich dagegen bin 42, habe eine klassische Karriere hinter mir, könnte jederzeit zurück in die Schweiz fliegen und einen Job antreten, wenn es nötig wäre. Das gibt Sicherheit.

Sie sprechen von Selbstständigkeit. Anders ist ein Leben als Digitalnomade nicht denkbar?
Doch, klar. Ich kenne sehr viele Freelancer – Texter, Werber, Social Media Manager –, die ihr Können über spezielle Plattformen anbieten. So habe ich zum Beispiel meine Assistentin gefunden, die auf den Philippinen lebt und mir mit meiner Website hilft. Und es gibt auch immer mehr Firmen, die dieses Lebensmodell unterstützen, Buffer zum Beispiel oder Airbnb. Einziger Nachteil: Auf dem Arbeitsmarkt konkurrenziert man dann plötzlich mit der ganzen Welt.

Wie sieht es als Familie aus? Lässt sich Elternsein mit Nomadentum vereinbaren?
Ja. Eine meiner besten Freundinnen reist als erfolgreiche Journalistin und Bloggerin um die Welt – und hat einen kleinen Sohn. Schwierig wird es erst, wenn die Kinder in die Schule kommen. Aber ich bin überzeugt davon, dass es auch dafür bald eine Lösung geben wird, schliesslich gibt es auch Lehrer, die gerne Digitalnomaden wären.

Sie kehren zwei bis drei Monate pro Jahr in die Schweiz zurück. Wo wohnen Sie, wenn Sie hier sind? Ihre Wohnung haben Sie ja aufgegeben.
Entweder wohne ich dank Projekt Interim in einer Wohnung zur Zwischennutzung oder passe als Housesitterin auf eine Wohnung oder eine Villa auf. Auch bei meinem Vater in der Zentralschweiz kann ich jederzeit wohnen – übrigens genau wie bei meiner Mutter in Phoenix.

Vermissen Sie Ihre Familie nicht, wenn Sie ständig unterwegs sind?
Doch, natürlich. Ich finde es zum Beispiel sehr schade, dass ich wichtige Meilensteine im Leben meiner zwei Göttikinder verpasse. Auch langjährige Freundschaften leiden unter meiner Abwesenheit. Und ich muss schon sagen: Wenn ich bei meinem Vater in der Schweiz oder bei meiner Mutter in Amerika bin, dann ist es schön, sich wie zuhause zu fühlen, die Kleider mal wieder in einen Schrank zu hängen, nicht aus dem Koffer zu leben.

Klingt ein bisschen wehmütig. Wie lange wollen Sie noch als Digitalnomadin leben?
Für immer. Das ist keine Phase, das ist für mich die ideale Lebensform, auch wenn sie nicht nur Vorteile hat. Für Menschen mit einem hohen Sicherheitsbedürfnis ist es vermutlich reinster Horror, nicht zu wissen, wo auf der Welt sie als Nächstes sein werden. Für mich bedeutet es absolute Freiheit. Und die wünsche ich jedem.