Ernestine Sheppard: Bodybuilderin mit 76 Jahren
- Text: Lars Jensen
Sie stemmt Hanteln, läuft 130 Kilometer pro Woche und hat es als Bodybuilderin ins «Guinnessbuch der Rekorde» geschafft. Und das mit 76 Jahren.
Es ist kurz vor neun Uhr morgens in Randallstown, einem Vorort von Baltimore, und im Fitnesscenter Energy Fitness wird Ernestine Sheppard gleich eine Klasse trainieren: «Bodybuilding mit Ernie.» Der Raum füllt sich mit Frauen und Männern, die ein paar Kilo abnehmen müssen oder einfach nur ein wenig schwitzen wollen. Als alle auf ihren Matten Platz genommen haben, erscheint die Trainerin.
Bühnenreifer Auftritt: pinkes Aerobictop, pinke Shorts, dazwischen ein perfekt definierter Bauch; Lippenstift und Kajal trägt Ernestine Sheppard farblich abgestimmt zum Outfit, ebenso die Turnschuhe. Ihr Gesicht ist faltenfrei, Rücken, Schultern, Arme, Beine so makellos wie mit Photoshop retuschiert. Sie schaltet den Ghettoblaster ein. Eine Stunde lang stemmt Ernestine Sheppard Hanteln, sie springt Seil, dehnt Gummibänder, niemand kann ihr folgen. Zum Abschluss ein paar Liegestütze … 18, 19, 20. Die Schüler liegen schnaufend am Boden, sie springt auf und ruft: «Schönen Tag noch!» Wenn Ernestine 30 Jahre alt wäre, würde sich niemand über ihre Form wundern. Aber weil sie demnächst ihren 76. Geburtstag feiert, tritt sie an medizinischen Konferenzen und in Talkshows auf. Die Leute wollen ihr Geheimnis erfahren, und sie antwortet stets mit ihrem Mantra: Disziplin, Hingebung, Zielstrebigkeit.
Klingt nicht nach besonders viel Spass, eher wie das Motto über einem Gefängnistor. Doch Ernestine Sheppard hat ihre ganz eigene Auffassung davon, was Freude bedeutet: Jeden Morgen um drei Uhr aufstehen, eine Stunde Meditation, eine Stunde Yoga, zwei Stunden Lauftraining im Wald, 130 Kilometer pro Woche. Täglich nimmt sie sechs Mahlzeiten zu sich, morgens Haferbrei, dann grüne Bohnen, braunen Reis, ein wenig Hühnerfleisch und Eiweiss von zehn Eiern. «Das lasse ich in Beuteln aus Kalifornien einfliegen von Eggology», erzählt sie. 1700 Kalorien und einen halben Liter Wasser nimmt sie pro Tag zu sich, keine Präparate, keine Hormone. Bis im letzten Sommer eine Edith Connor aus Denver auftauchte, die ein paar Monate vor ihr geboren wurde, hatte das «Guinnessbuch der Rekorde» Ernestine Sheppard als älteste aktive Bodybuilderin geführt.
Ihre Eitelkeit trieb Ernestine ins Fitnessstudio
Die ersten 55 Jahre ihres Lebens hatte Ernestine jede körperliche Aktivität abgelehnt. «Ich brach mir das Fussgelenk, als ich elf war, und nahm das zum Anlass, mich vor Sport zu drücken. Ich wollte bloss schön aussehen. Meine Freunde nannten mich Miss Priss, weil ich so eitel war.» Bei den Männern in Baltimores East Side kam Ernestine Sheppard mit ihren aufwendigen Frisuren und den bunten Fingernägeln gut an. Ihr Mann Collin (82) erinnert sich: «Ich ging in den Supermarkt, wo sie als Kassiererin arbeitete, und war sofort von ihrer Schönheit fasziniert. Allerdings dachte ich, sie sei schon verheiratet, weil sie so viel Schmuck trug.» Ihre Eitelkeit trieb Ernestine Sheppard schliesslich ins Fitnessstudio. Vor zwanzig Jahren probierte sie mit ihrer älteren Schwester Badeanzüge an. «Wir schauten in den Spiegel. Mildred lachte mich aus, und ich erklärte ihr, dass sie auch nicht besser aussehe. Ein paar Tage später begannen wir mit dem Training.» Zunächst in Aerobic-Klassen, dann mit einem persönlichen Trainer. «Mildred arbeitete härter und kam schnell in Form. Sie träumte davon, dass wir es als Bodybuilder ins ‹Guinnessbuch der Rekorde› schaffen.»
1993 starb Mildred überraschend an einer Hirnblutung, was Ernestine Sheppard lange nicht verwinden konnte: Depressionen, Ess- und Schlafstörungen, Selbstmordgedanken. «Bis ich diese Eingebung hatte: Ich wollte Mildreds Traum verwirklichen.» Sie engagierte Yohnnie Shambourger, Mister Universum 1995, der sie zu zwei internationalen Bodybuildingtiteln führte.
Was treibt Ernestine Sheppard an, nachdem sie Mildreds Traum verwirklicht hat? «Ich will den Frauen zeigen, dass man auch im Alter den Lebenswandel ändern und sich sexy fühlen kann.» Ihr Mann beschwert sich darüber, dass ihr so viele Verehrer nachstellen. «All die Jungs zu vertreiben, hält ihn fit», sagt Ernestine Sheppard. Dann öffnet sie einen Sack Eggology und trinkt ihr zweites Eiweiss des Tages. Zum Wohl.