Epilepsie: Wie Daniela Wenger mit der Krankheit lebt
- Interview: Tina Huber; Foto: ZvG
«Das ist wie ein Charakterzug»: 70 000 Menschen in der Schweiz leiden an Epilepsie. Daniela Wenger (30) ist eine davon. Sie hat sich mit ihrer Krankheit arrangiert.
ANNABELLE: Daniela Wenger, Sie mögen das Wort Epilepsie nicht. Sie sprechen lieber von Epi. Warum?
DANIELA WENGER: Epilepsie ist der medizinische Begriff und klingt nach Krankheit. Das mag ich nicht. Für mich ist Epilepsie keine Krankheit, sondern ein Teil von mir, wie ein Charakterzug.
Das können Sie sagen, weil Sie eine milde Form von Epilepsie haben.
Das stimmt, ich habe Glück. Ich habe pro Monat bis zu zwei Absencen, also kleine epileptische Anfälle, und die nur im Schlaf. Meistens erwache ich kurz und schlafe gleich wieder ein. Sehr selten habe ich einen grossen.
Einen Grossen?
Einen grossen Anfall. Man unterscheidet zwischen grossen und kleinen Anfällen. Vor der Diagnose, als ich noch keine Medikamente nahm, hatte ich bis zu neun Absencen im Monat, auch tagsüber.
Sie haben eine zweijährige Tochter. Epilepsiemedikamente können schwere Schäden beim Ungeborenen hervorrufen. Nahmen Sie während der Schwangerschaft trotzdem die gleiche Dosis Medikamente?
Leider ja. Das Risiko von grossen Anfällen wäre sonst gestiegen. Mein Medikament birgt jedoch kein stark erhöhtes Fehlbildungsrisiko beim Ungeborenen, dies ist nur bei einzelnen Antiepileptika der Fall. Lange vor der Schwangerschaft nahm ich vorbeugend Folsäure ein.
Epilepsie ist vererbbar. Hat dies Ihren Kinderwunsch beeinflusst?
Nein. Bei meiner Epi-Form liegt die Wahrscheinlichkeit, sie zu vererben, bei 2 bis 2.5 Prozent. Wenn man bedenkt, dass etwa ein Prozent aller Menschen Epilepsie hat, war das Risiko zwar doppelt so hoch, aber immer noch klein.
Zweifelten Sie daran, dass Sie in der Lage sein würden, ein Baby zu betreuen?
Nein. Aber ich habe meinen Kinderwunsch mit meinem Arzt besprochen.
Wann erfuhren Sie von Ihrer Epilepsie?
Mit zwanzig. Da hatte ich frühmorgens im Schlaf meinen ersten Grossen. Ich hatte Zuckungen und erwachte erst im Spital.
Hatten Sie sich vorher jemals Gedanken zur Epilepsie gemacht?
Nie, obwohl ich schon früher Absencen hatte – ohne es zu wissen. Ich roch und schmeckte immer intensiver als alle anderen. Bei extrem starken Gerüchen, wie auf einem Bauernhof oder bei Abgasen, würgte es mich, oder ich musste mich übergeben. Manchmal bin ich sekundenlang weggetreten. Es war wie eine Überreizung des Gehirns, für andere jedoch oft unsichtbar.
Welche Einschränkungen macht Ihnen die Epilepsie im Alltag?
Ich koche nur auf den hinteren Herdplatten, damit ich bei einem Anfall keinen Kochtopf zu Boden werfe. Ein Bad nehme ich nur, wenn jemand im Haus ist, und ich lasse dann die Tür offen. Zudem bade ich meine Tochter nicht allein, und der Wickeltisch ist tabu. Ich wickle sie auf dem Bett. Auto fahren darf ich hingegen seit einigen Jahren wieder.
Epileptische Anfälle kündigen sich oft an durch ein Vorgefühl, eine sogenannte Aura. Viele haben dann Kopfschmerzen, Unwohlsein oder Ähnliches. Sie auch?
Ja, ich spüre eine Aura häufig. Es ist schwierig, sie zu beschreiben. An solchen Tagen ist es, als müsste ich mich stärker auf mich konzentrieren.
Ist dieses Gefühl zuverlässig?
Nicht immer, aber sehr oft. Ich habe festgestellt, dass die Absencen häufig in Ruhephasen auftauchen, wenn ich mich entspanne oder schlafe. Habe ich eine Aura, lege ich mich am Nachmittag hin, um eine Absence zu provozieren.
Wie wirkt sich die Epilepsie auf Ihre Arbeit aus?
Ich arbeite in der Vermögensverwaltung. Spüre ich eine Aura, melde ich es meinen Kollegen und erledige an diesem Tag vielleicht keine grossen Börsengeschäfte. Anders als bei meiner früheren Stelle ist die Epi hier aber kein Problem.
Was war bei der früheren Stelle anders?
Nach der Diagnose waren die Leute wie ausgewechselt. Es gab tatsächlich welche, die mir nicht mehr Guten Morgen sagten.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ich denke, sie hatten Angst vor dem Bild der Person, die zuckend auf dem Boden liegt. Dabei gibt es Dutzende von verschiedenen Epi-Formen. Manche Leute machen bei einem Anfall bloss einzelne Bewegungen, klopfen dreimal auf den Tisch oder blinzeln mit den Augen. Früher wurde Epi mit schwarzer Magie in Verbindung gebracht, von dieser Vorstellung sind möglicherweise viele nicht losgekommen. So habe ich von älteren Leuten mehr negative Reaktionen bekommen als von jüngeren.
Epilepsie ist ein griechisches Wort und kommt von «Anfall/Übergriff». Nehmen Sie sie so wahr?
Ja, schon. Die Epi klopft ja nicht an.
Hat Ihnen die Unberechenbarkeit Mühe bereitet?
Natürlich. Anfangs hatte ich immer ein Bild im Kopf, ein Selbstporträt des Malers Arnold Böcklin: ein Mann, dem ein Totenkopf über die Schulter schaut. Genau so fühlte ich mich. Es schien, als würde mir die Epi im Nacken sitzen und nur hervorkommen, wenn sie Lust hatte. Von diesem Bild musste ich mich lösen.
Wer sitzt Ihnen heute auf der Schulter?
Niemand. Heute sind die Epi und ich eins.