Als Ntailan Lolkoki (50) Opfer der rituellen Genitalverstümmelung wurde, war sie noch ein Kind. Dank einem chirurgischen Eingriff im Berliner Desert Flower Center entdeckt die Kenianerin nun die Lust am Leben. Und am Sex.
Als Ntailan Lolkoki aus der Narkose erwachte, fiel ihr auf, dass die Vorhänge gelber waren als sonst. Auch die Bäume hinter dem Fenster leuchteten in einem fast übernatürlichen Grün. Alle ihre Sinne schienen hellwach und geschärft zu sein wie die eines Tieres. Sie spürte mehr, «überall, nicht nur an dem kleinen Klitoris-Dings», wo sie operiert worden war. Obwohl die Ärztin sie gebeten hatte, es ruhig angehen zu lassen, konnte Ntailan Lolkoki nicht anders als aufzustehen, zu singen, durch die Gänge zu tanzen. «Es war wie eine Wiedergeburt», sagt sie, und das Lächeln, mit dem sie von dem grossen Moment erzählt, ist so breit, dass es den ganzen Raum erfüllt.
Ntailan Lolkoki ist eine zierliche Frau mit der Haltung einer Primaballerina. Sie ist fünfzig Jahre alt, könnte aber problemlos als Mitdreissigerin durchgehen. Lolkoki bewegt sich auffallend geschmeidig, als ob sie sich in ihrem Körper ganz und gar zuhause fühlen würde. Doch man sollte sich von ihrer physischen Ausstrahlung nicht täuschen lassen. «Noch immer gibt es viel Gefrorenes in mir, das erst auftauen muss», sagt sie. «Vielleicht sehe ich deswegen so jung aus, weil ich in sexueller Hinsicht noch ein Mädchen bin.»
Erst jetzt, nachdem die Operation ihre körperliche Integrität wiederhergestellt hat, kann sie Freude an ihrer Sexualität empfinden. In einem Alter, in dem sich bei anderen die Wechseljahre ankündigen, entdeckt sie ihren Körper neu und staunt wie eine pubertierende 14-Jährige, zu welchen Empfindungen er fähig ist. Dass sie öffentlich darüber spricht, ist eine kleine Sensation. Denn die meisten betroffenen Frauen würden lieber sterben als davon zu berichten, wie verheerend sich die Verstümmelung ihrer Genitalien auf das eigene Sexualleben auswirkt. Zu gross ist die Scham. Ntailan Lolkoki hat diese Scham abgestreift wie eine zu klein gewordene Haut. «Das hat mich befreit», sagt sie. «Aber weisst du, wie viel Kraft es mich gekostet hat?»
Wir treffen Lolkoki in ihrer Berliner Wohnung am Kurfürstendamm, die viel zu gross und zu teuer ist für eine so schmale Frau und ihre spärlichen Besitztümer. Deutschland hat ihr vor sieben Jahren eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, weil Lolkoki wegen ihres Traumas das Recht auf besonderen Schutz geniesst. Sie spricht ein recht gutes und blumiges Deutsch. Doch wenn sie von Emotionen übermannt wird, wechselt sie lieber ins Englische. Ihre sonst so volle und überraschend dunkle Stimme ist dann nur noch ein Flüstern, auch die expressive Mimik verstummt. Lolkoki ist barfuss und trägt ein kurzes Sommerkleidchen, obwohl draussen zum Zeitpunkt des Interviews noch strenger Frost herrscht. Die Heizung hat sie bis zum Anschlag aufgedreht.
Ntailan Lolkoki wuchs in einer Manyatta auf, einem traditionellen Dorf in der kenianischen Savanne. Ihr Vater, ein Samburu-Krieger, arbeitete lange als Mitglied einer Polizeieinheit gegen Wilderer und Viehdiebe, bevor er zum Bürgermeister aufstieg. Die Mutter, eine Massai, schildert Lolkoki als elegante Frau, die jedoch dem Alkohol verfiel und die Familie verliess. Im Alter von zwölf Jahren erlitt Ntailan Lolkoki den Initiationsritus Muratare. Ihre Beschneidung wurde in einer primitiven Klinik vorgenommen und nicht wie bei den meisten Mädchen durch eine traditionelle Beschneiderin. Doch war sie deswegen nicht weniger traumatisch. «Wenn ich darüber reden muss, fühle ich mich wieder wie das kleine Mädchen, das ich war und das sich nicht wehren konnte», flüstert sie kaum hörbar. Über die Erinnerungen an jenen Tag hat sich eine Art Taubheit gelegt, die nicht nur die Gedanken an das schreckliche Ereignis dämpft, sondern auch Lolkokis Lebensfreude.
Alle elf Sekunden wird irgendwo auf der Welt ein Mädchen genitalverstümmelt. Hochgerechnet aufs Jahr sind das fast drei Millionen weibliche Körper, die im Namen der Tradition versehrt werden. Nach Schätzungen der WHO sind insgesamt 250 Millionen Frauen und Mädchen beschnitten, allein in der Schweiz leben 15 000 betroffene Migrantinnen. Manche mussten das grausame Ritual bereits als Säugling erleiden, andere zu Beginn der Pubertät oder vor der Hochzeit.
Wer den Eingriff überlebt, ist fast immer schwer traumatisiert und leidet unter schmerzhaften Vernarbungen, Schwierigkeiten beim Wasserlassen, Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt, Entzündungen im Genitalbereich oder Fisteln – Verbindungen zwischen Enddarm und Vagina oder Vagina und Harnröhre, die bei der Beschneidung entstanden sind. Manche Frauen trauen sich kaum aus dem Haus, weil sie durch die Scheide unkontrolliert Harn verlieren. Oder Stuhl.
Auf Hilfe können die wenigsten von ihnen zählen. Doch einige haben Glück und finden den Weg zu Cornelia Strunz – so wie Ntailan Lolkoki.
Als sie 2013 im Radio hörte, dass in Berlin das weltweit erste Zentrum für die ganzheitliche Betreuung von genitalverstümmelten Frauen eröffnet worden war, rief sie gleich am nächsten Tag an, zitternd vor Aufregung. Zu diesem Zeitpunkt hatte Lolkoki bereits drei Jahrzehnte desaströser Männerbeziehungen hinter sich. Erst heiratete sie einen englischen Soldaten, dem sie so lange vormachte, den Sex mit ihm zu geniessen, bis sie es keinen Tag länger ertrug. Dann flüchtete sie in die Religion, die ihr weismachte, Sex sei etwas Schmutziges, von dem man sich tunlichst fernzuhalten habe – was sie eine Weile lang auch tat. Sie taumelte durch die Welt, jobbte mal in Deutschland als Model, mal in Kenia als Sozialarbeiterin und zog in London mit einer schrillen Truppe von Paradiesvögeln um die Häuser. Nicht jeder der Männer, von denen sie sich durchfüttern liess, meinte es gut mit ihr. Es folgten Depressionen, Klinikaufenthalte, ein Lichtblick in Form einer Schauspielschule in Berlin, die sie sachte daran heranführte, ihren Körper nicht mehr ausschliesslich als Problem wahrzunehmen. Dass ihre Schwierigkeiten mit der Verstümmelung zusammenhingen, realisierte sie erst spät. «Es war ja alles tot in mir», sagt sie. Dann endlich der Wendepunkt: der Anruf bei Cornelia Strunz.
Krankenhaus Waldfriede in Berlin-Zehlendorf, einem der nobleren, grünen Viertel der Stadt. Cornelia Strunz, 47 Jahre alt, blond, herzlich, zupackend, trägt selten Kittel. «Ich möchte eine Ärztin zum Anfassen sein», sagt sie, und angefasst wird sie tatsächlich oft, «inklusive Umarmungen und Küsschen». Ihre Patientinnen nennen sie nur Doktor Conny.
Strunz ist Fachärztin für Chirurgie und Gefässchirurgie. Sie trägt immer ein Telefon bei sich, damit die Frauen, wenn sie sich endlich ein Herz gefasst haben und anrufen, nicht erst mit einer Sekretärin sprechen müssen und vielleicht wieder den Mut verlieren. Sondern gleich mit Doktor Conny, deren Stimme vor Tatkraft und mütterlicher Zuversicht nur so strotzt.
Viele ihrer Patientinnen wüssten gar nicht, wie eine nicht beschnittene Frau «untenrum» aussieht, sagt Strunz. Fast jede könne sich an ihre Beschneidung erinnern, in allen grausigen Details. Und kaum eine von ihnen habe jemals Geschlechtsverkehr gehabt, den sie als schön oder zumindest angenehm bezeichnen konnte. Strunz erzählt von Frauen, die sich nichts sehnlicher wünschen als schwanger zu werden, es aber unmöglich können, weil ihre Schamlippen bis auf eine stecknadelkopfgrosse Öffnung zusammengenäht sind. Von einer bildhübschen jungen Frau, die eine Liebschaft nach der anderen beendet, sobald es intim werden könnte, weil ihr das, was ihr Freund zwischen ihren Beinen zu sehen bekäme, so schrecklich vorkommt. Es wird viel geweint in der Sprechstunde. Und manchmal weint Doktor Conny mit.
Mehr als 350 Frauen hat Cornelia Strunz behandelt, seit im Krankenhaus Waldfriede vor viereinhalb Jahren das Desert Flower Center eröffnet worden ist. Auch eine aus der Schweiz angereiste Patientin war dabei, denn die spezifische Betreuung, die sie brauchte, hatte sie zuhause nicht gefunden. Neben Strunz, die die Behandlungen koordiniert und kleinere Operationen selbst ausführt, gehören Darm- und Beckenbodenchirurgen zum Team. Es gibt einen plastischen Chirurgen, einen Gynäkologen, einen Proktologen, eine Physiotherapeutin, die auch als Psychotherapeutin ausgebildet ist, und weitere Beraterinnen, die sich um die Betreuung der Frauen kümmern. Darunter zwei Frauen aus Kenia und Somalia, die ganz genau wissen, unter welchem Druck unbeschnittene Frauen in ihren Heimatländern stehen. Viele Patientinnen zögerten, sich operieren zu lassen, erzählt Cornelia Strunz, weil sie schreckliche Angst davor hätten, in ihrer Community ausgegrenzt zu werden. «Die sagen: Ich muss zuerst einen Mann kennen lernen, und der muss sehen, dass ich beschnitten bin. Erst dann kann ich mich operieren lassen.»
Einmal im Monat trifft sich im Krankenhaus Waldfriede die Selbsthilfegruppe. Dreissig, vierzig Frauen hocken dann mit ihren Kindern im Gymnastikraum auf dem Boden und sprechen bei Kaffee und Kuchen darüber, wie ihnen geholfen werden könnte. Manche trauen sich nicht, ihren Namen zu nennen, doch dazu zwingt sie hier auch keiner. Andere sind bereits operiert und machen den Verzagten Mut. Doktor Conny klärt darüber auf, dass die Klitoris nicht, wie viele glauben, ein böser Stachel sei, der immer weiter wächst, wenn man ihn nicht abschneidet. Dass die meisten Frauen nach der Operation normale Empfindungen haben können. Inklusive Orgasmen.
Eigentlich müsste es in jeder grossen Stadt ein Desert Flower Center geben. Die Welt ist voll von Migrantinnen, die unter den Folgen genitaler Verstümmelung – oder englisch: Female Genital Mutilation (FGM) – leiden. Doch weil auch Spitäler Unternehmen sind, die rentabel wirtschaften müssen, setzt sich fast niemand für sie ein. Denn Geld verdienen lässt sich mit schlecht oder gar nicht versicherten Migrantinnen kaum.
Auch das Krankenhaus Waldfriede könnte die finanzielle Belastung nicht aus eigener Kraft stemmen. Hat eine Patientin keine Krankenkasse, springt der mit Spendengeldern finanzierte Förderverein ein. Zudem wird das Spital von der Desert Flower Foundation unterstützt, der Stiftung von Waris Dirie. Ende der 90er-Jahre hatte die Somalierin mit ihrem autobiografischen Bestseller «Wüstenblume» das Thema FGM einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Heute kämpft das ehemalige Topmodel als Menschenrechtsaktivistin gegen Genitalverstümmelung. In den letzten Jahren sind nach Berliner Vorbild drei weitere Desert Flower Centers entstanden: in Stockholm, Paris und Amsterdam.
Ntailan Lolkokis Glück war, dass ihre Beschneiderin lausige Anatomiekenntnisse besass. Zwar glaubte sie wohl, Lolkokis Klitoris entfernt zu haben, doch das Organ ist viel grösser als die Spitze, die äusserlich sichtbar ist. Neunzig Prozent liegen im Körperinneren und umschmiegen beidseitig die Vagina. Der Chirurg im Krankenhaus Waldfriede trug vorsichtig das vernarbte Gewebe ab und zog die Klitoris leicht nach vorne. Über der neuen, zunächst hochempfindlichen Spitze würde sich später ein schützendes Häutchen bilden.
Erfunden hat diese OP-Technik der Pariser Urologe und Chirurg Pierre Foldès, der zu Beginn für jede Operation ins Berliner Desert Flower Center einflog. Inzwischen hat sie Uwe von Fritschen weiterentwickelt, Chefarzt der Klinik für Plastische und Ästhetische Chirurgie des Helios-Klinikums Emil von Behring, mit dem das Krankenhaus zusammenarbeitet.
Als Ntailan Lolkoki aus der Narkose erwachte, verspürte sie ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung. «Endlich war ich Mensch», sagt sie, «endlich keine Hülle mehr!» Es war nicht nur der Genuss beim Sex, der ihr gefehlt hatte. Das sexuelle Empfinden bedeutet viel mehr als das: Es ist Teil der Identität, der Ausstrahlung, der Selbstentfaltung. Die durch die Verstümmelung blockierten Nervenenden an ihrer Klitoris hatten ihre gesamte Körperwahrnehmung behindert. Erst jetzt, nachdem die Operation ihre physische Unversehrtheit wiederhergestellt hatte, konnte sie auch seelisch gesunden. Doch erst einmal musste Lolkoki lernen, mit den neuen Empfindungen umzugehen.
«Meine Gedanken waren alles andere als rein», sagt sie, und das kleine, schlüpfrige Grinsen, das dabei ihre Lippen kräuselt, zeigt, wie viel Spass es ihr macht, so etwas auszusprechen. Nacht für Nacht wälzte sie sich schlaflos in den Laken, verwirrt und überfordert von der Lust, die sie so lange vermisst hatte. «Am liebsten hätte ich mit jedem Sex gehabt. Mit jedem!» Wenn sie mit ihrem Samburu-Gang die Strasse entlang schritt und ihre brandneue erotische Ausstrahlung ausprobierte, entflammten die Männer wie Pawlowsche Hunde. Also floh sie wieder ins Haus, wo es sowieso am schönsten war, weil sie dort mit sich allein sein und ihren Körper erkunden konnte.
«Sexualität bedeutet Kraft», sagt Ntailan Lolkoki. Verheerend findet sie, dass diese Kraft so vielen Frauen in Afrika genommen werde, obwohl sie sie doch wegen der vielen Bürgerkriege, Naturkatastrophen und Hungersnöte ganz besonders bräuchten. Nachdem sie entdeckt hatte, was ihr all die Jahre entgangen war, erfasste sie eine rasende Wut. Sie ist wütend auf ihre Mutter, die zugelassen hatte, dass sie für immer beschädigt wurde, weil sie sonst als unrein und nicht heiratsfähig gegolten hätte. «Dabei steckt die Unreinheit in den Köpfen der Männer, die ihre Gedanken nicht kontrollieren können und deshalb die Sexualität der Frauen zerstören.» Sie ist wütend auf ihre Kultur, auf ihren Stamm, auf ihr Land. «Lieber würde ich sterben, als dorthin zurückzugehen.» Manchmal träumt sie davon, mit den Ältesten ihres Stammes zu sprechen, um ihnen zu erklären, welche Zerstörungen die Beschneidung anrichtet, doch das ist bloss eine Fantasie. «In Wirklichkeit würden sie mich gar nicht ernst nehmen, denn ich bin ja nur eine Frau und damit in ihren Augen nicht mehr wert als ein Stück Vieh.» Lolkokis Wut ist wie eine gigantische, rot glühende Dampfwalze, die jeden platt machen will, der ihr Leid zugefügt hat. Aber sie ist auch der Gegenpart zu ihrer stillen Schwester, der Depression, die sie immer wieder heimsucht.
Denn die Operation bedeutet noch keine Heilung, sie hat bloss die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Lolkoki ihr Trauma eines Tages überwinden kann. Noch immer ist sie in Therapie. Sie schreibt, sie tanzt, sie singt, sie malt, um ihre Wut zu kanalisieren. «Oft denke ich, ich bin nicht gut genug», sagt Lolkoki. Für Männer ist es deshalb ein Leichtes, sie auszunutzen. Einmal gab es eine grosse Liebe und mehrmals auch eine kleine, doch am Ende haben sich die Männer immer zurückgezogen, weil ihnen das Verständnis für ihr Trauma fehlte oder sie nicht bereit waren, die Auswirkungen mitzutragen. Lolkoki ist ganz allein.
Ab und zu arbeitet sie als Komparsin beim Film, und auch das Buch, das sie über ihre Erfahrungen geschrieben hat (siehe Seite 29), bringt ein kleines Einkommen. Doch Lolkoki fällt es schwer, für sich selbst zu sorgen. Hat sie Geld, gibt sie alles auf einmal aus, sodass sie gleich wieder keines hat. Am Tag des Interviews ist sie so pleite, dass es gerade noch für eine Flasche Saft gereicht hat, um die Reporterin zu bewirten, nicht jedoch für WC-Papier. Gegessen hat sie länger nichts mehr. «Egal», sagt Lolkoki leichthin, als mache ihr das tatsächlich nicht viel aus, «fasten ist gesund.» Wenn es ganz schlimm sei, gehe sie zu einer Tafel für Bedürftige.
Einige Monate nach dem Interview kann sie die Miete am Kudamm nicht mehr bezahlen und landet dort, wo sie niemals hin wollte: in einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Köpenick. Doch auch ihre Wohnungslosigkeit nimmt Lolkoki hin wie eine überraschende, aber keinesfalls bedrohliche Laune des Lebens. In zuversichtlich tönenden E-Mails beschreibt sie den Wald, in dem sie gerne spazieren geht, und den idyllischen See in der Nähe. Die Sozialarbeiter seien nett und engagiert, das Heim ein bisschen wie eine Manyatta, ein Dorf voller Menschen aus aller Welt, die ebenso traumatisiert seien wie sie selbst. Die Gesellschaft ihrer Mitbewohner scheint ihr gutzutun. «Auch wenn es nicht der ideale Ort für meine Heilung ist, bin ich den deutschen Steuerzahlern zutiefst dankbar dafür, dass sie mich hier wohnen lassen», schreibt sie.
Das Leben hat ihr bisher keinen Rosengarten geboten, doch ihre Träume sind konkreter denn je: Ntailan Lolkoki wünscht sich einen Mann, «einen mit Kultur, einen, der mit seiner Männlichkeit im Reinen ist, der weiss, wer er ist, und auch seine dunklen Seiten kennt.» Und sie hätte gern eine Wohnung mit dicken Wänden oder schwerhörigen Nachbarn, sodass sie dort mit ihrem Mann «einen lauten, ja, schreienden, ganz und gar befreiten Orgasmus» haben könnte und all ihre Ängste von ihr abfielen wie die vertrockneten Schalen einer Zwiebel. Für andere Frauen mag das nichts Besonderes sein. Für Ntailan Lolkoki bedeutet es die Welt.
Verstümmelt, weil die Tradition es will
Nicht nur in 29 afrikanischen Ländern wird weibliche Genitalverstümmelung (englisch Female Genital Mutilation oder FGM) praktiziert, sondern auch in einigen arabischen Staaten wie Jemen, Oman oder Irak sowie in Asien (etwa Malaysia, Indonesien). Der Eingriff ist in der Tradition der jeweiligen Länder verankert. Mit dem Islam hat er nichts zu tun, auch Christinnen, Jüdinnen etc. gehören zu den Opfern. In manchen afrikanischen Staaten wie etwa Somalia sind laut Unicef bis zu 98 Prozent aller Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren beschnitten. Weigern sich die Eltern, ihre Töchter dem grausamen Ritual zu unterziehen, werden sie von der Gemeinschaft geächtet.
Fast alle Beschneidungen werden ohne Betäubung und unter mangelhaften hygienischen Bedingungen durchgeführt. Weinen oder Schreien gilt als unerwünscht und kann auf den Leumund der ganzen Familie abfärben. Die Beschneiderinnen sind oft ältere Frauen, die einen hohen sozialen Status geniessen, aber kaum Anatomiekenntnisse haben. Mit einer Glasscherbe, Rasierklinge oder einem Messer schneiden sie ab, was angeblich unrein ist, und verschliessen die Wunde mit Nähten oder Akaziendornen. Oft werden die Beine des Mädchens zusammengebunden, um ein erneutes Aufreissen der Wunde zu verhindern. Laut Schätzungen der WHO überleben zehn Prozent der beschnittenen Mädchen und Frauen den Eingriff nicht, weil sie verbluten oder wegen des Schmerzes einen Schock erleiden.
Weibliche Genitalverstümmelung in der Schweiz
In der Schweiz gilt FGM seit 2012 als Offizialdelikt wird mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft. Anzeigen gab es bisher nicht. Beschneiderinnen, Eltern oder weitere involvierte Verwandte können belangt werden, auch wenn die Tat im Ausland begangen wird, wo sie womöglich nicht strafbar ist. Das soll Eltern hindern, ihre Töchter für die Beschneidung in die Heimat zu schicken.
Die vier Formen der Beschneidung gemäss WHO
Typ I (Klitoridektomie): Die Klitorisvorhaut und eventuell der äusserlich sichtbare Teil der Klitoris werden entfernt. Dieser Typ ist selbst für Ärzte nicht immer leicht zu erkennen.
Typ II (Exzision): Die Klitorisvorhaut, der äusserlich sichtbare Teil der Klitoris sowie die kleinen Schamlippen und eventuell auch die grossen Schamlippen werden entfernt.
Typ III (Infibulation/Pharaonische Inzision): Die Klitorisvorhaut, der äusserlich sichtbare Teil der Klitoris sowie die kleinen und eventuell die grossen Schamlippen werden entfernt und die Vulva bis auf eine winzige Öffnung für Urin, Vaginalsekrete und Menstruationsblut zugenäht.
Typ IV: alle anderen Formen wie zum Beispiel das Einreissen oder Einstechen der inneren oder äusseren Genitalien.
Hilfsangebote
Das Desert Flower Center der Klinik Waldfriede bietet medizinische und psychosoziale Hilfe für Betroffene, auch für nicht in Deutschland lebende. Zweimal jährlich findet ein «Intensivseminar FGM» für hospitierende Ärztinnen und Ärzte statt.
Adresse: Argentinische Allee 40, D-14163 Berlin-Zehlendorf, Tel. 0049 308 18 10 85 82, dfc-waldfriede.de
Spenden: Förderverein Krankenhaus Waldfriede e.V., Bankverbindung: DKB Bank, IBAN: DE24 1203 0000 1020 1450 15, BIC: BYLADEM1001, Verwendungszweck: Desert Flower Center
Auch das Universitätsspital Genf und das Inselspital in Bern sind Anlaufstellen für FGM-Opfer. Weitere Kontakte nennt das unter anderem von Caritas und Terre des Femmes gegründete Netzwerk Mädchenbeschneidung. Hier gibt es Informationen zu FGM in vielen Sprachen.
mädchenbeschneidung.ch
Buch
Ntailan Lolkoki hat ihre Geschichte niedergeschrieben. Sie zeigt, wie FGM in das Leben der betroffenen Frauen eingreift – und welche Chancen eine Operation bietet. «Flügel für den Schmetterling», Knaur-Verlag, München 2017, ca. 24 Franken
1.
«Ich möchte eine Ärztin zum Anfassen sein»: Chirurgin Cornelia Strunz mit zwei Patientinnen