Im neuen Parlament ist Gleichstellung ein Reizwort, und Frauengruppen lösen sich auf. Das Fazit nach dem ersten halben Jahr: Die Mehrheit foutiert sich um Chancengleichheit.
Der Nationalrat gleicht einem Theater. Das Landschaftsbild mit Rütliwiese ist die Kulisse, davor monologisieren die Räte. Auf der Zuschauertribüne sitzen Senioren und Gymnasiasten, darunter eine junge Frau, knapp volljährig. Von hier oben hätte sie eine gute Sicht auf die Politiker im Parterre, auf dieses Meer von dunklen Sakkos und grau melierten Haaren, welches das Schweizervolk repräsentieren soll. Doch sie schaut lieber auf ihr Smartphone. Wieso? «Die da unten», flüstert sie, «was haben die schon mit mir zu tun?» Man könnte sie mit einer Aussage des Publizisten Roger Willemsen konfrontieren, der ein Jahr lang dem deutschen Parlament zuschaute: «Es ist der billigst zu habende Dünkel, sich als das Individuum zu verstehen, das nicht im Kollektiv aufgeht.» Andererseits ist es schon augenfällig, dass es zwischen dieser jungen – ja zwischen jeder beliebigen – Frau und den Menschen im Schweizer Parlament kaum Gemeinsamkeiten gibt: 68 Prozent des Nationalrats sind Männer, im Ständerat sogar 85 Prozent. Im Durchschnitt sind sie über fünfzig Jahre alt.
Man ahnte bereits vor den Wahlen im Herbst, dass es auch diesmal keine weibliche Revolution geben würde. Ein Lied gab die Richtung vor: «Wo e Willy isch, isch ou e Wäg», sang die Spitze der SVP. Willy ist das Sennenhundmaskottchen der SVP, und denkt man an die Werbeprofis im Rücken der Partei, so darf man annehmen, dass der Name kein Zufall ist: Der «Pons Dictionary» übersetzt «Willy» mit «Pimmel». «Wo e Willy isch, isch ou e Wäg» – man muss schon einen eigenen Sinn für Humor haben, um als Frau diese Strophe mitzusingen.
Gleichwohl siegte Willy: Der Frauenanteil stagnierte auf tiefem Niveau, und die Rechte legte zu. Wir besuchen die Frühlingssession und stellen fest: Gleichstellungspolitik hatte schon immer einen schweren Stand, jetzt aber ist sie chancenlos. Vaterschaftsurlaub, Lohngleichheit, Ehe für alle, Frauenquote: Das alles sind Reizwörter, bei denen die meisten Parlamentarier genervt die Augen verdrehen. Der Bundesrat schlägt obligatorische Lohnkontrollen für Firmen vor, weil Frauen bei gleicher Arbeit noch immer weniger verdienen als Männer. Doch der Nationalrat stimmt dagegen. Am selben Tag lehnt er auch einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub ab. Bundesrätin Simonetta Sommaruga möchte vorübergehend eine Frauenquote von dreissig Prozent in Verwaltungsräten und der Geschäftsleitung einführen, da alle freiwilligen Massnahmen über Jahre nicht gegriffen haben. Auch das ist nicht mehrheitsfähig. Genausowenig wie das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. Denkt man Gleichstellung konsequent, müsste die Wehrpflicht auch für Frauen gelten, gehörte die Witwenrente oder die Alimentszahlungen für Ex-Frauen abgeschafft. Doch da hört Gleichberechtigung sogar für die Linken auf. Eine Schweiz, in der Frauen und Männer gleiche Chancen und Pflichten haben? Nicht mit diesem Parlament.
Im Saal redet jetzt Magdalena Martullo-Blocher von der SVP. Die Unternehmenssteuerreform III wird verhandelt. Steuerprivilegien für international tätige Firmen sollen abgeschafft, dafür andere Steuererleichterungen eingeführt werden. SP-Nationalrat Beat Jans hat eine Frage: «Frau Blocher», fängt er an. «Ich heisse nicht Blocher, ich heisse Martullo», entgegnet die Unternehmerin, die mehr sein will als die Tochter ihres Vaters. Selbst die Linke leistet sich mal einen Gender-Fauxpas. Jans stottert, der Saal lacht, und die junge Frau auf der Zuschauertribüne schaut kurz von ihrem Smartphone auf.
Später, im Café Vallotton im ersten Stock des Bundeshauses, lehnt Jacqueline Badran von der SP an der Bar und bestellt einen Beruhigungstee. Kathrin Bertschy, Nationalrätin der Grünliberalen und Präsidentin der Frauenorganisation Alliance F, setzt sich in eine ruhige Ecke und sagt: «Wir müssen mit den Gleichstellungsthemen raus aus der linken Ecke. Sonst erreichen wir gar nichts.» Sie spürt seit ein paar Jahren einen Überdruss, was Gender-Themen angeht. «Nicht schon wieder diese alte Leier», stöhnen sowohl Männer als auch Frauen – oder sie fragen genervt: «Was wollt ihr denn noch alles?» Deshalb sucht Bertschy Verbündete gerade dort, wo sie am schwierigsten zu finden sind: bei den Bürgerlichen und bei den Männern.
Bertschy weiss, wenn eine linke Gewerkschafterin gleichen Lohn für Frauen und Männer verlangt, geht ihre Forderung im parlamentarischen Stimmengewirr unter. Ruft ein Männergrüppchen mit Parlamentariern von links bis rechts zur Lohngleichheit auf, nickt immerhin der eine oder andere andächtig mit dem Kopf und denkt sich, da muss was dran sein. He for She nennt sich das Engagement der Männer für Frauenanliegen oder aktueller #heforshe. Eine noble Geste, initiiert von SP-Nationalrat Mathias Reynard, unterschrieben unter anderem von Martin Landolt (BDP), Hugues Hiltpold (FDP) und Christian Lohr (CVP). «Je suis féministe», sagt Reynard. Und er fügt an: «Die Lohndiskriminierung ist für mich eine der grössten Ungerechtigkeiten in diesem Land.»
Hier spricht kein «Opfer», und das macht den grossen Unterschied. Wenn Männer Gleichstellung fordern, mutet das irgendwie grosszügig an (klar geben wir euch was vom Kuchen ab). Tun es Frauen, hat es etwas Quengelndes (ich habe ein Recht auf dieses Stück Kuchen). Deshalb ist auch die Zeit der reinen Frauengruppen vorbei. Eine Einsicht, die unlängst etwa die bürgerlichen Frauen hatten: Seit März nehmen die FDP-Frauen auch Männer auf. Der Ansturm ist bescheiden, rund zehn Männer sind seither beigetreten. Die SVP-Frauen wurden gleich ganz abgeschafft. Ihre langjährige Präsidentin Judith Uebersax ist darüber nicht unglücklich. «Das Label Frau hat einen faden Beigeschmack. Deshalb wollen die Frauen nicht separat politisieren oder gefördert werden, sondern mit den Männern zusammen», sagt sie am Telefon. Dass mitsamt der Frauengruppe auch sie selbst hinfällig geworden ist, hätte Uebersax so nicht erwartet. Sie erfuhr aus den Medien, dass sie auch als Vizepräsidentin der SVP Schweiz nicht mehr erwünscht ist – und ist folglich aus der Partei ausgetreten «nach 17 Jahren ehrenamtlicher Arbeit». Schon wieder eine Frau weniger in der grössten Partei der Schweiz.
Mit Frauenförderung oder Frauenthemen kann man sich innerhalb der bürgerlichen Parteien nicht profilieren. Eine Erfahrung, die auch Claudine Esseiva gemacht hat, Generalsekretärin der FDP-Frauen. «Sogenannte Mentoren sagen mir regelmässig, ich solle endlich aufhören mit diesem ‹Gender-Zeugs›. Das schade meiner Karriere.» Auch SVP-Nationalrätin Nadja Pieren befand vor den Wahlen im Herbst, Esseiva sei «zu feministisch» für den Ständerat, ergo nicht wählbar. Eine Frau, welche die Anti-Gender-Regel erfolgreich verinnerlicht hat, ist die neue FDP-Präsidentin. Petra Gössi sagte gegenüber dem «Tages-Anzeiger», die Wirtschaft habe derzeit wichtigere Probleme als die Gleichstellung von Mann und Frau.
Das einzige Frauenthema, für das man sich rechts aussen gefahrlos einsetzen darf, ist die Sicherheit. SVP-Nationalrätin Natalie Rickli profiliert sich damit seit Jahren (Verwahrung von Sexualstraftätern), nun haben das Thema auch die Herren entdeckt: «Mehr Schutz für unsere Frauen und Töchter» stand im Vorfeld der Durchsetzungsinitiative auf den SVP-Schäfchenplakaten. Kolumnistin Güzin Kar fand dafür die richtigen, weil ironischen Worte: «Obwohl ich selber keine Frauen besitze, habe ich jubiliert.» Dieselbe Partei, die angesichts der «muslimischen Bedrohung» feministische Forderungen stellt, hat vor wenigen Wochen ein internationales Abkommen zum Schutz der Frauen vor Gewalt abgelehnt. Zwar schon 13 Jahre her, aber unvergesslich: Die SVP forderte, dass Vergewaltigungen in der Ehe straffrei bleiben.
Natalie Rickli humpelt an Krücken durch die Wandelhalle, SP-Nationalrätin Martina Munz beisst in ein Rüebli, und nebenan, bei den Ständeräten, sucht FDP-Ständerätin Karin Keller-Sutter eine Steckdose für ihr Smartphone. Eine gläserne Decke gebe es in der Schweizer Politik nicht, sagt sie. «Aber Frauen stehen immer noch unter erhöhter Beobachtung. Sie dürfen sich kaum Fehler erlauben, wenn sie sich in einem politischen Amt halten wollen. Für einen Mann reicht manchmal auch einfach Durchschnitt.» Keller-Sutter ist gegen Quoten: «Der Beste soll gewinnen, egal ob Mann oder Frau.» Dass sie soeben eine andere Realität beschrieben hat, scheint für sie kein Widerspruch.
SP-Ständerätin Anita Fetz ging in den Achtzigerjahren für die Sache der Frau auf die Strasse und nahm dafür selbst Ohrfeigen in Kauf. Heute sagt sie: «Die Politik ist immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Früher haben die Frauen ihre Rechte laut eingefordert. Heute spüre ich kaum mehr Druck aus der Bevölkerung.» Das mag einerseits stimmen, ist andererseits aber auch einfach eine Ausrede für mangelnde Ausdauer beim Endspurt. Anders als Fetz politisiert Brigitte Häberli-Koller abseits der medialen Aufmerksamkeit. Sie gilt als stille Schafferin mit enormem Durchsetzungsvermögen und als eine der einflussreichsten Frauen der Schweizer Politik. Die Ständerätin der CVP ist gegen Lohnkontrollen: «Wenn Frauen gleiche Löhne wollen, müssen sie diese bei den Vorgesetzten einfordern.» Häberli-Koller ist auch gegen Quoten oder einen öffentlich finanzierten Vaterschaftsurlaub, aber «selbstverständlich für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie». Insofern ist sie eine typische Vertreterin der CVP: Man redet zwar ständig über Familienpolitik, stimmt in den entscheidenden Momenten aber häufig so, dass die Schweiz auch weiterhin eines der familienunfreundlichsten Länder Europas bleibt.
Die gute alte Vereinbarkeitsfloskel nehmen heute alle gern in den Mund, selbst die SVP, weil die Vereinbarkeit nicht einfach «nur» den Frauen dient, sondern der Wirtschaft beziehungsweise der Bekämpfung des Fachkräftemangels. Gleichzeitig ist man gegen staatliche Massnahmen wie Betreuungsgutscheine, flächendeckende Tagesschulen oder eben besagten Vaterschaftsurlaub. Nationalrätin Regine Sauter von der FDP sprach von einer «teuren Geste, die wir uns nicht leisten können». Der Vaterschaftsurlaub hätte 200 Millionen im Jahr gekostet. Das Geschenk, das der Rat am selben Tag den Bauern machte, war doppelt so gross. Aber das kostbarste Präsent gab es für die Unternehmen: Mit der Abschaffung der Stempelsteuer kriegen sie 2.4 Milliarden – das wären dann zwölf Jahre Vaterschaftsurlaub. Und so bleibt eben alles beim Alten: Man bekommt in unserem Land weiterhin mehr Freitage für einen Umzug als für eine Geburt und erhält für eine Kuh in etwa gleich viel staatliche Unterstützung wie für ein Kleinkind.
Fehlende Vereinbarkeit wird auch gern als Argument herbeigezogen, weshalb alle Parteien – ausser der SP – bei den Frauen ein Nachwuchsproblem haben. Weitere Gründe, die auch von der Wissenschaft ins Feld geführt werden: Frauen trauen sich ein politisches Amt oft nicht zu, haben für den Wahlkampf im Durchschnitt weniger Geld zur Verfügung als die Männer, oder sie werden von den Medien weniger beachtet und erhalten weniger Redezeit. Zudem mangelt es an weiblichen Vorbildern.
Im Nationalratssaal drehen sich die Voten im Kreis, es wurde zwar schon alles gesagt, aber noch nicht von jedem und vor allem nicht mit jedem Verb («Emissionsabgabe abschaffen, beseitigen, streichen»). Die junge Frau auf der Tribüne ist noch immer mit ihrem Smartphone beschäftigt. Vielleicht surft sie gerade auf der pinkfarbenen Website von Operation Libero. Die poppolitische Gruppierung, welche mit ihrem Kampf gegen die Durchsetzungsinitiative bekannt wurde, hat keinerlei Probleme mit weiblichem Nachwuchs. Warum sollte sie auch? Selten wirkte eine politische Bewegung so feminin. Das hat auch mit Aushängeschild Flavia Kleiner zu tun, 25 Jahre alt, intelligent und warm. Sie taugt hervorragend als Identifikationsfigur. Deshalb erstaunt es nicht, dass 53 Prozent Frauen die Operation Libero unterstützen, 46 Prozent Männer und 1 Prozent Other (so lautet die Geschlechtskategorie, die Operation Libero ihren Mitgliedern ebenfalls anbietet). Auch in den leitenden Funktionen ist das Geschlechterverhältnis ungefähr ausgeglichen. Auf die Frage, ob sie eine Feministin sei, sagt Kleiner am Telefon: «Klar bin ich eine Feministin. Bei Libero sind wir alle Feministen, denn wir fordern gleiche Rechte für Männer und Frauen.»
Es heisst immer, Frauen interessieren sich weniger für Politik als Männer. Bloss stellt sich die Frage: Frustrieren die Inhalte oder nicht vielmehr die Strukturen der Politik? Vielleicht geht es einfach vielen wie Flavia Kleiner, die sich fragt, wer vom Parlament denn schon mal einen Fuss in eine Kinderkrippe gesetzt hat, und die gelangweilt die Zeitung weglegt, wenn dort die abtretenden Parteipräsidenten Brunner, Darbellay und Müller Anekdoten von feuchtfröhlichen Zugreisen erzählen und sich dabei gegenseitig auf die Schultern klopfen. Oder es geht ihnen wie Johanna Gündel, die genervt wegzappt, wenn man sich in der «Arena» einen Schlagabtausch liefert, der statt zu Einsichten zu hervortretenden Halsschlagadern führt. Johanna Gündel ist mit ihren 25 Jahren gleich alt wie Kleiner und hat ebenfalls gegen die Abschottungspolitik der SVP gekämpft. Die Studentin konnte nicht mitansehen, wie der Gemeindeammann von Oberwil-Lieli sich weigert, Asylbewerber aufzunehmen, und lieber eine Strafgebühr zahlt. Sie brachte knapp die Hälfte der Gemeinde auf ihre Seite. Nachdem sie schweizweit Schlagzeilen gemacht hatte, bekam Gündel Angebote von mehreren Parteien, lehnte aber alle ab: «Parteipolitik interessiert mich nicht.» Sie engagiere sich lieber in gemeinnützigen Vereinen und habe keine Lust auf endlose Diskussionen, die zu keinen Lösungen führen: «Ich will machen, nicht reden.»
Auf der Tribüne sitzen noch ein paar ausdauernde Rentner. Der Platz der jungen Frau ist leer. Was nimmt sie von diesem Tag mit nachhause, was erzählt sie ihren Kolleginnen, was postet sie auf Facebook, was auf Instagram? Vermutlich etwas in der Art von today @bundeshaus, #gähn. Man darf den Gedanken zulassen, dass das nicht nur an ihr liegt.