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«Die Emanzipation bietet für den Mann auch Chancen»

«Die Emanzipation bietet für den Mann auch Chancen»

  • Interview: Sven Broder & Frank Heer; Foto: Screenshot

«Die Emanzipation bietet auch für den Mann Chancen und Möglichkeiten», sagt Andreas Borter, «leider deklariert er sich lieber zum Verlierer.» Der Genderexperte erklärt, warum Männer auf der Suche nach neuen Rollen erst mal wissen müssen, was sie eigentlich selber wollen. 

annabelle: Andreas Borter, man kann nicht über Männer reden, ohne über Frauen zu reden. Beginnen wir bei Ihrer Mutter. Was hat sie Ihnen mit auf den Weg gegeben?
Andreas Borter: Das Bild einer Frau, der das berufliche Engagement ebenso ein Anliegen war wie die Betreuung der vier Kinder. Meine Mutter war eine passionierte medizinische Laborantin. Gemeinsam mit meinem Vater, einem bekannten Internisten und Herzspezialisten, führte sie eine Praxis.

War Ihre Mutter eine frühe Feministin?
So würde sie es selbst nicht sehen. Meinem Vater legte sie jeden Morgen die Kleider zurecht und hinterfragte das nicht. Sie vertritt bis heute sehr traditionelle Familienwerte. Dass sie Erfüllung auch in ihrem Beruf suchte, war weniger ein Gleichstellungsgedanke als vielmehr ein gewerblicher, ähnlich wie in einem Familienbetrieb, in dem alle mit anpacken müssen. Für mich steht Mütterlichkeit also nicht nur für etwas betont Fürsorgliches, sondern auch für Selbstständigkeit und Mitverantwortung im Erwerbsleben.

Was hat Ihnen Ihr Vater mit auf den Weg gegeben?
Die Leidenschaft für eine Sache. Die Klarheit seiner Überzeugungen hatte mich fasziniert. In diesem Punkt sind wir uns ähnlich. Gleichzeitig hatten wir riesige inhaltliche Differenzen, teilweise brach der Kontakt sogar ab. Für ihn war meine Haltung in Sachen Armee, Politik, Gesellschaft oder Ethik eine komplette Enttäuschung. Ich war von der 68er-Bewegung geprägt, mein Vater hingegen war zum Beispiel überzeugt, dass Sex vor der Ehe die Gesellschaft zerstöre.

Was hatte das bei Ihnen bewirkt?
Es hatte dazu geführt, dass ich sein moralisches Weltbild erst recht verwarf. Wobei meine Generation noch weit davon entfernt war, Erotik und Körperlichkeit entspannt anzugehen. Zwar redeten wir an der Uni immer wieder über Sexualität und neue Lebensformen, aber diese Diskussionen waren sehr theoretisch und drehten sich kaum um unsere persönlichen Bedürfnisse und Beziehungen. Wir wollten die Gesellschaft revolutionieren und dachten, die neuen Familien und Lebensmodelle würden sich dann automatisch etablieren.

Die Männer hatten immerhin das Privileg, ausprobieren zu dürfen, was ihnen gefällt – im Gegensatz zu den Frauen, die sich ein allzu ausschweifendes Sexualleben damals nicht leisten durften.
Aber daraus ist keine Diskussion darüber entstanden, wie eine neue und gute männliche Sexualität aussehen könnte. Wir bekamen zwar mit, dass Frauen Workshops zu Themen wie «erfüllte Sexualität» veranstalteten, aber bei uns lief nichts in diese Richtung. Überhaupt war so etwas wie Selfcare, also die Achtsamkeit sich und seinen Bedürfnissen gegenüber, unter uns Männern kein Thema. Und wenn wir ehrlich sind: bis heute nicht.

Da haben es die Frauen besser?
Mädchen und Frauen werden in ihrer ganzen körperlichen Entwicklung viel besser begleitet und betreut. Bis heute gibt es zum Beispiel in der Schweiz kaum Männerärzte und auch keinen Männergesundheitsbericht.

Hingegen die weibliche Sexualität scheint gerade eine Blütezeit zu erleben.
Nachdem sie über Jahrhunderte hinweg tabuisiert worden ist und so gut wie gar nicht stattgefunden hat, geniesst sie heute eine positive, sinnliche Ausstrahlung. Bücher wie «Fifty Shades of Grey» erreichen ein Millionenpublikum, Frau darf ohne Scham einen Orgasmusworkshop besuchen oder sich im schicken Erotikshop einen Dildo kaufen. Die männliche Sexualität jedoch steckt seit Jahren in derselben Schmuddelecke zwischen Pornografie und Prostitution und gilt primär als potenziell gefährlich, aggressiv, triebgesteuert.

Hat denn Mann die Lektion der modernen, emanzipierten Frau überhaupt verstanden: Wenn du bei mir landen möchtest, musst du dir Mühe geben?
Es ist sogar das Gegenteil der Fall. Dadurch, dass die Bedürfnisse der Frauen stärker in den Vordergrund gerückt sind – zu Recht, will ich betonen –, haben viele Männer den Mut verloren, ebenfalls hinzustehen und zu sagen, was sie möchten und brauchen. Warum geht der Konsum von Pornografie und Prostitution nicht zurück? Vielleicht, weil innerhalb der Beziehungen eben doch nicht so viel möglich ist aus Sicht des Mannes.

Mann hatte die Erwartung: Wenn du dich öffnest gegenüber den Bedürfnissen der Frau, wirst du dafür belohnt – bestenfalls sogar sexuell. Diese Hoffnung hat sich für viele Männer nicht bewahrheitet.
Richtig. Der Idealmann des Feminismus ist eben nicht zwingend auch der ideale Sexualpartner. In Schweden etwa trafen wir junge Frauen, die schwärmten von ihren schwedischen Männern, sie seien sensibel, verständnisvoll, die besten Väter der Welt. Gleichzeitig meinten sie aber auch, dass sie froh seien, dass es noch Migranten gebe – und zwar fürs Bett.

Die neue Generation Mann ist mit der feministischen Stimme im Ohr sozialisiert worden: Mann, du hast nicht nur einen Penis, du hast auch einen Kopf. Momentan treten feministische Autorinnen wie Claire Dederer («Love and Trouble») oder Michèle Binswanger («Fremdgehen. Ein Handbuch für Frauen»), so scheint uns, mit der umgekehrten Botschaft an die Frauen heran: Du hast nicht nur Kopf und Bauch, du hast auch eine Vagina …
… also hol dir, was dir zusteht. Diese Message bringt uns schon ein Stück weit in die Defensive. Daher gibt es hierzulande auch Männer, die sich – überfordert von den Ansprüchen und dem Selbstverständnis hiesiger Frauen – auf Frauen aus anderen Kulturkreisen einlassen, die sie nach ihrer Pfeife tanzen lassen können. Es ist schade, dass die Erstarkung der modernen Frau die Männer allgemein nicht auch gestärkt hat.

Sie sind also keiner dieser Maskulinisten, die über die Emanzipation und den Feminismus wettern und die Zeit am liebsten zurückdrehen würden?
Im Gegenteil. Die Emanzipation bietet auch für den Mann Chancen und Möglichkeiten. Das gesprengte Korsett der Frau kann man auch als den gesprengten Panzer des Mannes betrachten. Aber statt den Gewinn aus der Emanzipation für sich fruchtbar zu machen, deklariert er sich lieber zum Verlierer.

Sie haben schon in den Achtzigerjahren eine Selbsthilfegruppe für Männer und Väter gegründet – leisteten in diesem Bereich also Pionierarbeit.
Damals begannen wir auch damit, in der Arbeit mit Männern den Begriff Empowerment zu benutzen. Das Wort entlehnten wir der Frauenbewegung. Es bedeutet Ermächtigung. Wir forderten: Auch die Frau und Mutter muss ihre häusliche Rolle überdenken, in der sie sich installiert hat, nicht nur der Mann. Es kann keine Gleichstellung geben ohne die Ermächtigung des Mannes zum eigenständigen Vatersein. Natürlich war die alte Patriarchatskritik vonseiten der Feministinnen dann gleich zur Stelle.

Inwiefern?
Ich musste zum Beispiel einmal einen Workshop-Flyer zum Thema «männliche Sexualität» zurückziehen, weil er einen Penis zeigte, aus dem ein paradiesischer Lebensbaum wuchs. Jede Art feministischer Bilder hatte Platz, stellte man zur Abwechslung aber eine phallische Energie dar, wurde man zurechtgewiesen. Wir hatten uns schon fast für unser Mannsein zu entschuldigen. Das empfand ich als Affront.

Das ist heute anders, oder?
Natürlich, die Fronten sind aufgeweicht, man arbeitet besser zusammen, und die Bereitschaft, Männer einzubeziehen, gerade bei der Erziehung, ist vorhanden. Doch nach wie vor wird Frauen etwa in Fragen rund um das Kleinkind eine grössere Kompetenz zugeschrieben. Junge Väter, die sich von Anfang an auf Augenhöhe mit ihrer Partnerin bewegen wollen, riskieren nicht selten ernsthafte Konflikte: Die Mutter fühlt sich aus ihrer Rolle verdrängt, wehrt sich – er gibt nach.

Zum Beispiel?
Männer sind im häuslichen Bereich zum Teil immer noch die guten Helfer, die Unterstützer, diejenigen, die auch noch beteiligt sind am Hüten und Erziehen. Sie sollen etwa die Wäsche machen, aber räumen sie dann die Kleider nicht so ein, wie es Frau möchte, wird wieder aus- und umgeräumt – aus Sicht der Frau ganz selbstverständlich. Ich unterstütze Männer, die sich solches nicht mehr bieten lassen möchten. Gemeinsam Regie zu führen, mag im Alltag mühsam sein und für Diskussionen sorgen, ist letztlich aber ein Gewinn für beide.

Warum reagieren Männer auf weibliche Stärke denn oft mit Schwäche? Haben sie Angst dagegenzuhalten, weil sie die Reaktion fürchten, die Emotionen?
Auch, aber vor allem ist einigen Männern mit der Macht auch die Sicherheit abhandengekommen. Die moderne Frau lässt sich nicht mehr alles bieten, und sie hat die Stärke, das Selbstverständnis und auch das gesellschaftliche Momentum im Rücken, um ihre Ansprüche nicht nur auszusprechen, sondern auch durchzusetzen. Und sie hat heute – zum Glück! – oft auch die nötige materielle Unabhängigkeit. Laut Statistik sind es die Frauen, die in der Mehrzahl einen Schlussstrich unter eine Beziehung ziehen – und Mann ist sich dessen durchaus bewusst.

Also versucht er sich anzupassen?
Ja. Ich beobachte eine starke Tendenz auch bei jungen Männern, alles, was sie machen, gerade auch als Vater, an der Zufriedenheit ihrer Partnerin zu messen. Im familiären Bereich ist dies übrigens aus Studien erhärtet: Für Väter ist bei der Pflege des Kindes nicht das Wohlbefinden des Kindes der primäre Massstab, sondern die Zufriedenheit der Partnerin.

Sich als Mann nach den Bedürfnissen der Frau zu richten, wäre an sich doch ein hehres Anliegen?
Nur solang er sich dabei nicht selbst verleugnet. Zudem fällt die Ausrichtung natürlich schwer, weil Frau oft selber gar nicht so genau weiss, wie sie ihren Mann denn gern hätte. Da steckt ja selten ein starres Bild dahinter. Deshalb sind Ehrlichkeit und Authentizität mit Sicherheit das nachhaltigere Konzept. Viele Männer jedoch nehmen jede Kritik als Kritik an ihrem So-Sein und versuchen sich anzupassen.

Und was raten Sie in diesem Fall?
Ich appelliere vor allem an das erwähnte männliche Empowerment. Schauen Sie: Da gibt es Männer, die erzählen mir, dass sie 100 Prozent arbeiten und 100 Prozent des Familieneinkommens beisteuern. Und trotzdem sei die Erwartung da, dass sie die hälftige Hausarbeit übernehmen. Da frage ich dann schon nach: Männer, wo ist eure Verhandlungskultur geblieben? Denn wenn du als Mann 100 Prozent arbeitest und 100 Prozent des Gelds verdienst und dann am Wochenende auch noch wäschst und bügelst, stimmt etwas nicht.

Die Statistik gibt doch den Frauen recht: Mann beteiligt sich schlicht zu wenig am Haushalt.
Aber bei all diesen Statistiken wird die häusliche Beteiligung nie in Relation zum Einkommen gesetzt. Man könnte ja sagen: Solang Männer 80 Prozent des Haushaltseinkommens beisteuern, könnte Frau gerechterweise auch 80 Prozent der Hausarbeit und der Kinderbetreuung übernehmen. Aber im Gleichstellungsdiskurs wird oft unabhängig von der Erwerbssituation eine
Fifty-fifty-Regelung für den Haushalt gefordert.

Kommen wir zurück auf Ihre eigene Biografie. Gab es Männer, die Sie bewunderten?
Als Teenager hatte ich eine Zeit lang ein Poster von John F. Kennedy in meinem Zimmer hängen …

Sie befassten sich auch intensiv mit Männern wie Martin Luther King oder dem Befreiungstheologen Dom Hélder Câmara. Studierten Sie deshalb Theologie?
Mich faszinierte schon früh die Verbindung von Glaube und Politik. Wobei ich ursprünglich an die Schauspielschule wollte. Doch weil das meine Eltern komplett erschreckt hätte, entschied ich mich für Theologie.

Nach dem Studium arbeiteten Sie als reformierter Pfarrer in einer Landgemeinde in Berner Seeland.
Ich war Theologe mit Leib und Seele und stürzte mich voll in die Arbeit.

Ganz wie Ihr Vater!
Richtig. Es wäre mir zu Beginn nicht in den Sinn gekommen, mich beruflich zurückzunehmen und mir wirklich Zeit für meine Familie zu nehmen.

Von den progressiven Familienmodellen, die Sie an der Uni diskutiert hatten, blieb nichts haften?
Nun, es ging uns um «gesellschaftliche Beziehungen», um «Sexualität in einer kapitalistischen Gesellschaft», um «strukturelle Gewalt» und nicht um die persönliche Befindlichkeit. Zudem gab es für uns kaum Alternativen zu den Männer- und Vatermodellen, mit denen wir aufgewachsen waren. Klar war damals viel in Bewegung. Aber das war vor allem äusserlich: lange Haare, Gegenkultur, Rockmusik. Wir wussten, was wir persönlich nicht wollten. Aber was wir wollten, das wussten wir nicht wirklich.

Mit der Geburt ihres zweiten Kindes, das geistig und körperlich behindert auf die Welt kam, wurde ihr eigener Lebensentwurf dann komplett infrage gestellt.
Ich war total überfordert. Ich empfand es schon fast als Beleidigung, Vater eines behinderten Kindes zu sein. Dafür hatte ich doch nicht studiert!

Sie rutschten in eine persönliche Krise.
Ja, und sie erwischte mich zu einem Zeitpunkt, in dem ich einen akademischen Aufstieg anstrebte und mich beruflich im Aufbruch befand. Das zweite Kind ist ohnehin eine Herausforderung. Doch ein behindertes Kind – daran zerschellen viele Väter. Zwar zeigen Männer am Anfang oft mehr Stärke als die Mütter, spielen den Troubleshooter, den Feuerwehrmann, den Fels in der Brandung, doch die langfristige Auseinandersetzung mit der Behinderung ihres Kindes setzt Männern oft stärker zu als Frauen, die mehr Durchhaltevermögen zeigen als ihre Partner. Mir ging es genauso.

Der Schritt in die Teilzeitarbeit wurde Ihnen also von aussen aufgezwungen?
Zum Teil, ja. Meine Frau war nicht gewillt, sich allein um die Kinder zu kümmern, während ich mich beruflich verwirklichte. Also einigten wir uns darauf, Beruf und Familie untereinander aufzuteilen.

Klingt exemplarisch.
Männer brauchen oft einen Anstoss, um sich mit dem eigenen Mannsein auseinanderzusetzen. Meistens ist es ein persönliches Erlebnis, das uns zwingt umzudenken. Im besten Fall sind es die Kinder, die dem Vater bewusst machen, was er verpasst, wenn er sich zu 100 Prozent auf seinen Beruf stürzt. Im schlechtesten Fall ist es die Trennung von der Partnerin, die ihn einknicken und über sich selbst nachdenken lässt. Dann merkt der Mann plötzlich, dass er allein ist.

Sind leidenschaftliche Wochenendväter denn automatisch schlechtere Väter?
Nein, aber auch da berufe ich mich auf einen Schlüsselmoment in meiner Biografie: Während wir ums Überleben unseres behinderten Sohns kämpften, merkte ich, wie sehr die intensive Nähe zu meinem Kind und zu meiner Familie mein Leben positiv veränderte.

Inwiefern?
Die Familie holte mich auf den Boden. Zu Anfang habe ich immer noch bis 2 Uhr in der Früh gearbeitet, obwohl ich nach einem Tag mit unserem Sohn bereits um 22 Uhr todmüde war. Doch ich dachte: Als Mann muss ich etwas leisten, eine Wertschöpfung erzielen. Die Neubewertung von Leistung fiel mir enorm schwer, war aber nötig, gerade auch als Vater eines schwerbehinderten Kindes, bei dem es – formulieren wir es krass – keinen Return on Investment gibt, jedenfalls nicht im klassischen Sinn.

Die Familie half Ihnen, sich von überholten männlichen Wertvorstellungen zu befreien?
Ja, und ich spürte meine Bedürfnisse klarer. Erziehung ist ja nicht nur eine Anwendung, sondern immer auch eine Auseinandersetzung mit sich selber. Damit Erziehung authentisch ist und damit auch erfolgreich, muss ich wissen, was ich will. Aber Authentizität ist nicht unbedingt das, was man als Mann primär lernt.

Ihr behindertes Kind war quasi der Realitätstest?
Ja. Ein Beispiel: Früher sagte ich zu meiner Frau immer: «Ich tue alles im Haushalt, aber Kinderkacke putze ich nicht.» Ich hatte eine veritable Abneigung dagegen, eine riesige Abscheu. Und dann bekamen wir ein Kind, das zehn Jahre lang Durchfall hatte! Ich will nicht sagen, dass diese Erfahrung heilsam war, aber wie gesagt: Sie holte mich auf den Boden.

Nochmals grundsätzlich gefragt: Warum soll der Vater nicht 100 Prozent arbeiten dürfen, wenn die Mutter einverstanden ist und ihm der Job Freude bereitet?
Ich propagiere kein bestimmtes Familienmodell für unser Land. Doch die Zahlen einer Studie, die von Pro Familia in Auftrag gegeben wurde, sind eindrücklich: 90 Prozent der befragten Schweizer Männer wünschen sich eine
Reduktion der Arbeitszeit, etwa um mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können

Warum tun sie es nicht?
Vielleicht, weil sie den Mut nicht aufbringen, ihren Wunsch mit dem Arbeitgeber zu besprechen. Oder aus Angst vor höhnischen Bemerkungen von Arbeitskollegen. Es gibt aber auch Männer, die sich nicht trauen, ihre Bedürfnisse gegenüber ihren Partnerinnen zu formulieren. Statt mit ihnen ein Teilzeitmodell auszuhandeln, höre ich Sätze wie: «Meine Frau will lieber bei den Kindern sein.» Ich fragte dann: «Und was willst du?» In der Bundesverfassung ist die gemeinsame Verantwortung und die Gleichstellung von Mann und Frau in Beruf und Familie festgelegt. Es gibt kein Recht für die Partnerin, zuhause zu bleiben, so wenig, wie es eine Pflicht für den Partner gibt, die Ernährerrolle allein zu übernehmen.

Frauen sind schuld, dass Männer zu viel arbeiten?
Nein, die Paare! Statt fair miteinander zu verhandeln, fällt man nach dem ersten Kind zurück in die alte Familienordnung, die man zuvor belächelt hatte. Der Trend momentan: Kinderlose Frauen unter 30 erhoffen sich, Erziehung und Beruf dereinst partnerschaftlich organisieren zu können. Männer unter 30 interessiert das weniger. Sie möchten sich auf ihre Karriere konzentrieren und der Frau den grösseren Teil der Familienarbeit überlassen. Bei den über 30-Jährigen sieht es plötzlich anders aus: Hier nimmt das Bedürfnis auf beiden Seiten zu, sich mehr Zeit für die Familie zu nehmen.

Was man sich leisten können muss.
Die Teilzeitarbeit des Vaters bedeutet, dass die Mutter ihr Arbeitspensum aufstocken muss. Auch wenn sie dazu bereit ist, muss dann in vielen Fällen mit einem tieferen Haushaltseinkommen gerechnet werden. Mit diesem Umstand können oder wollen viele Familien nicht leben. So bleibt dem Mann oft nichts anderes übrig, als halt weiterhin den Ernährer zu spielen.

In unserem Umfeld arbeiten die meisten Mütter Teilzeit. Entspricht diese Beobachtung nicht der Regel?
In der Tat nehmen in der Schweiz vier von fünf Müttern am Arbeitsmarkt teil – europaweit ein sehr hoher Anteil. Aber gleichzeitig ist das Arbeitspensum dieser Frauen rekordverdächtig tief. Das zwingt den Mann, den Haupterwerb nachhause zu bringen. Und statt zu verhandeln und die eigenen Bedürfnisse zu formulieren, fällt auch er ins alte Rollenmuster zurück.

In Ihrer Studienzeit galt die traditionelle Familie als Auslaufmodell, heute ist sie für viele junge Paare wieder erstrebenswert.
Für unsere Generation ist es in der Tat verrückt zu sehen, wie selbstverständlich viele junge Leute wieder nur von Kleinfamilie reden. Wir waren überzeugt, dass sich dieses Modell spätestens in 50 Jahren überlebt hat.

Wie erklären Sie sich diesen Gegentrend?
Einerseits sehnt man sich in unsicheren Zeiten ganz allgemein nach Stabilität, nach Verlässlichkeit, nach sicheren Werten. Andererseits haben gerade Millennials auch ein starkes Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit. Sie wollen etwas Nachhaltiges bewegen in ihrem Leben und nicht einfach nur Geld und Karriere machen.

Könnte es auch daran liegen, dass für viele junge Erwachsene das Versprechen, Karriere und Familie unter einen Hut zu bringen, eine Mogelpackung ist, weil in der Realität der Hut immer ein wenig zu klein ist?
(überlegt lang) Das mag natürlich eine Rolle spielen, klar. Wenn du miterlebst, wie deine Eltern sich aufreiben im Schwitzkasten von Beruf und Familie, ständig gestresst sind, streiten, krank werden, dann hinterfragst du auch das Modell, das sie vorgelebt haben. Diesen Retraditionalisierungstrend stellen wir ja nicht primär bei schlecht ausgebildeten, finanziell schwachen Familien fest, sondern im Gegenteil bei Familien, die es sich leisten können, dass Frau zuhause bleibt.

Es ist auch eine traurige Realität, dass die Zahl der Burn-out- und Depressionserkrankungen insbesondere bei berufstätigen Müttern massiv zugenommen hat.
Richtig. Frauen haben ja auch kein anderes Modell von Arbeit, Führung, Erfolg und Macht, an dem sie sich orientieren und an dem sie gemessen werden, als das altbekannte männliche Modell. Gleichstellung bedeutet für viele: das Gleiche tun zu können wie die Männer. Mit dem Ergebnis, dass die Frauen ihren Kopf an Dingen stossen, an denen Mann schon seit Jahrhunderten seinen Kopf einrennt. Diesbezüglich sind wir wirklich nicht schlauer geworden. Aber ein Wirtschaftssystem wie der Kapitalismus konstruiert eigene Wirklichkeiten und sieht für die Geschlechter bestimmte Rollen vor – und ein alternatives Wirtschaftsmodell ist nicht absehbar.

Das Problem ist also ein politisches?
Es wäre jedenfalls töricht zu behaupten, das traditionelle Familienmodell mache grundsätzlich glücklicher. Das mag funktionieren, solang die Kinder klein sind, aber auf lange Sicht, das wissen wir aus diversen Studien, macht es vor allem die Frauen unzufriedener. Das Bild der Hausfrau entspricht nicht mehr dem Selbstverständnis der modernen, gut ausgebildeten Frau und auch nicht mehr den gesellschaftlichen Realitäten. Das Problem ist, dass das politische und gesellschaftliche Umfeld nach wie vor in vielen Belangen auf dieses Modell ausgerichtet ist, obwohl es faktisch ein Auslaufmodell ist.

Die Familien bräuchten mehr politischen Support?
Ganz klar. Eltern in der Schweiz, ganz egal, in welcher Familiensituation sie sich befinden, laufen nicht selten im roten Bereich. Trotzdem erachtet insbesondere die politisch Rechte die Familie nach wie vor als Privatsache, aus der sich die Politik herauszuhalten hat. Dies führt zur absurden Situation, dass die Schweiz der Familie gesellschaftlich zwar den grössten Wert beimisst – sie ist quasi die Basis von allem –, gleichzeitig gibt es kaum ein anderes Land, das so wenig für die Familie tut. Das sieht man etwa daran, dass es bis heute kein Familienministerium gibt. In der Schweiz bekommt jede Kuh mehr Subventionen als ein Kind.

Gibt es das überhaupt: das ideale Familienmodell?
Ob Kleinfamilie, Grossfamilie, Patchwork oder alternative Lebensmodelle – die Form ist nicht die Hauptsache. Viel entscheidender ist, dass das Modell fair und gleichberechtigt ausgehandelt wurde. Ich sage jungen Vätern deshalb auch immer: Wenn ihr auf ein nachhaltiges Projekt setzen wollt, dann setzt auf eure Kinder. Eure Partnerschaft mag in die Brüche gehen, aber die Bindung, die ihr zu euren Kindern aufbaut, ist entscheidend dafür, wie es weitergeht. Nach der Trennung ist es zu spät, ein guter Vater zu werden.

Gewissen Männern lässt sich vorwerfen, dass sie sich nach der Scheidung plötzlich in der Vaterrolle gefallen, die sie vorher nur als Nebenrolle gespielt hatten.
Leider. Umso mehr plädiere ich für eine Förderung der Vater-Kind-Bindung in der Frühphase. Und deshalb auch für einen Vaterschaftsurlaub, zu dem wir im Juli eine Volksinitiative eingereicht haben. Aktuelle Studien zeigen: Neun von zehn Menschen in der Schweiz fordern einen bezahlten Elternurlaub, acht von zehn einen Vaterschaftsurlaub. Das heisst doch, dass wir in der Realität schon viel weiter sind, als es die Politik ist.

Im Herbst gehen Sie als Geschäftsleiter des Schweizerischen Instituts für Männer- und Geschlechterfragen in Pension. Haben Sie erreicht, was Sie wollten?
Mehr als das. Als ich vor über 30 Jahren in die Männerarbeit einstieg, hätte ich nicht zu träumen gewagt, dass sich in diesem Feld so viel bewegen würde. Darauf bin ich schon fast ein wenig stolz. Heute gehört es zum Selbstverständnis der meisten jungen Schweizer Männer, dass sie aktive Väter sein wollen und familiäre Beziehungen ernst nehmen. Sie reden mit, bringen sich ein. Erfüllung im Beruf ist immer noch wichtig, aber nicht mehr die absolute Priorität in einem Männerleben. Ich finde es auch gut, dass Genderfragen heute nicht mehr so verbissen ideologisch diskutiert werden wie damals. Wir waren eine Oppositionsbewegung, die sich dialogisch Schritt für Schritt vorangekämpft hatte. Heute ist die neue Väterlichkeit fast schon Mainstream geworden.