«Eltern verstehen oft nicht, wie vielfältig die Internetnutzung ist»
- Interview: Leandra Nef; Foto: iStock
Sandra Cortesi ist Direktorin des Projekts «Youth and Media» an der Harvard-Universität. Intensive Handy-Nutzung von Kindern findet sie – in den allermeisten Fällen – unbedenklich und plädiert für weniger Regulierung und mehr offene Gespräche.
annabelle: Sandra Cortesi, ist es sinnvoll, den Digitalkonsum seiner Kinder zu regulieren?
Sandra Cortesi: Das kommt ganz darauf an, was Sie unter regulieren verstehen. Soll man sich für das digitale Leben seines Kindes interessieren? Ja. Soll man das Nutzungsverhalten des Kindes mithilfe von Regeln und Tools steuern und einschränken? Kommt aufs Alter an.
Das bedeutet konkret …?
Ab 13 Jahren sind jegliche Versuche, die Nutzung auf einen bestimmten Zeitraum oder auf bestimmte Plattformen zu beschränken, sinnlos. Natürlich können Eltern durchsetzen, dass Kinder das Handy am Esstisch weglegen, aber weiter reichende Regeln passen oft nicht in den Alltag der Jugendlichen. Stellen Sie sich vor, Sie sind eine 13-jährige Jugendliche in der Stadt Zürich, alle Ihre Freunde haben ein Smartphone, nur Sie nicht. Dann fühlen Sie sich vermutlich ziemlich ausgegrenzt und benutzen mit Sicherheit oft einfach das Handy Ihrer Freunde, um zum Beispiel Social Media zu checken.
Wie sieht es mit Regeln bei Kindern unter 13 Jahren aus?
Ein Kind merkt bereits in ganz jungem Alter, wenn seine Eltern immer wieder den gleichen Gegenstand – in unserem Fall ein Smartphone – in der Hand halten. Den wollen sie dann natürlich auch, gerade, wenn er spannende Geräusche von sich gibt. Dem Kind das Handy komplett zu verweigern, macht es oft nur noch attraktiver. Viel sinnvoller ist es, sich zu überlegen, wie man dem Kind einen wertvollen graduellen Einstieg ins Digitale ermöglichen kann.
Wie sieht ein solcher gradueller Einstieg aus?
Bis die Kinder fünf Jahre alt sind, würde ich ihnen tatsächlich nur selten Zugang zum Internet ermöglichen: Mal einen Videochat mit der Familie erlauben oder ihnen ein Video auf Youtube zeigen, das ich selbst schon gesehen habe. Zwischen fünf und zehn Jahren würde ich mein Smartphone ab und zu an das Kind ausleihen, damit es lernt, auch mal selbstständig einen Film zu wählen oder mit Freunden zu kommunizieren. So schiesst der Digitalkonsum nicht von null auf hundert, sobald das Kind sein eigenes Smartphone bekommt. Idealerweise sollte man diese Aktivitäten während des Tages ermöglichen und nicht kurz vor dem Zubettgehen.
Sobald ein Kind oder Jugendlicher ein eigenes Smartphone besitzt: Was halten Sie von Apps, die die Internetnutzung tracken oder gewisse Inhalte blockieren?
Bringt alles nichts. Die Kinder finden nach zwei Minuten heraus, wie man von Youtube Kids aufs normale Youtube umstellt oder die Tracking-App umgeht. Fragen Sie sich lieber, warum Sie eine solche App installieren wollen. Wollen Sie verstehen, was ihr Kind im Internet macht? Dann fragen Sie es doch einfach. Lassen Sie sich zum Beispiel erklären, was Snapchat ist. Fragen Sie Ihr Kind: Kommunizierst du über die App mit den gleichen Freunden wie in der Schule? Worin liegt der Unterschied, wenn du persönlich oder auf digitalem Weg mit ihnen sprichst?
Nachfragen ja, regulieren nein. Eltern müssen also einfach akzeptieren, dass ihr Kind oft Zeit im Internet verbringt?
Das Problem ist, dass Eltern oft nur das intensive Nutzungsverhalten ihres Kindes sehen, das sich vom eigenen unterscheidet. Sie verstehen oft nicht, dass die Internetnutzung unglaublich vielfältig sein kann. Früher haben wir Hausaufgaben gemacht und danach vielleicht eine Stunde Zeitungen, Magazine oder Bücher gelesen, eine Stunde Fernsehen geschaut, Radio gehört, Playstation gespielt und später noch telefoniert. Heute machen Kinder all das auch – einfach mit ein und demselben Gerät und übers Internet.
Trotzdem: Irgendwann ist dieses intensive Nutzungsverhalten doch zu intensiv?
Das kann man so nicht sagen. Stellen Sie sich vor, Ihr Kind sitzt fünf Stunden am Handy. Das klingt erstmal nach wahnsinnig viel. Es könnte aber sein, dass das Kind fünf Stunden lang Games programmiert, wie es zum Beispiel mit der App Scratch möglich ist. Das wiederum wäre doch irgendwie cool und erhöht erst noch spätere Berufschancen. Solche Kinder sollte man in ihrer Passion fördern. Wenn Sie früher fünf Stunden am Tag Saxofon geübt haben, waren Ihre Eltern schliesslich auch stolz darauf, dass Sie musikalisch sind.
Was aber, wenn das Kind fünf Stunden Ballergames spielt?
Dann ist das wahrscheinlich etwas viel. Aber auch hier sollte man sich fragen: Mit wem spielt das Kind – allein oder im Team? Lernt es etwas dabei, muss es zum Beispiel Strategien entwickeln? Und dann natürlich: Funktioniert alles andere noch? Hat es gesunde Gewohnheiten, schläft es genug, ist es sozial kompetent, gut in der Schule, geht es ab und zu raus? Dann würde ich sagen: Sie haben vermutlich einfach ein Kind, das viel und gern Ballergames spielt. So schlimm ist das nicht. Wäre es mein Kind, würde ich vermutlich fragen, ob ich mal mitspielen dürfe, um zu verstehen, wo Anreiz und Motivation für das Spiel liegen.
Im allgemeinen Sprachgebrauch spricht man in Fällen solch intensiver Nutzung oft von Handysucht. Sie plädieren dafür, diesen Begriff mit Vorsicht zu verwenden. Weshalb?
Er ist kontraproduktiv. Eine Sucht liegt vor, wenn jemand etwa schulische oder freizeitliche Aktivitäten aufgrund des Gebrauchs aufgibt oder einschränkt. In der Öffentlichkeit wird «Handysucht» leider oft scherzhaft und leichtfertig verwendet, was in wirklich problematischen Fällen dazu führt, dass Betroffenen erst spät geholfen wird. Zudem finde ich das Wort süchtig extrem stigmatisierend und ungeeignet, um eine ganze Generation zu beschreiben.
Was aber tue ich, wenn mein Kind tatsächlich eine problematische Internetnutzung an den Tag legt?
Das Problem liegt in solchen Fällen oft tiefer als bei der übermässigen Internetnutzung. Eventuell hat das Kind Ängste, eine Depression oder Aufmerksamkeitsstörung – das Internet wirkt nur als Ventil. Therapieren muss man also nicht primär die «Handysucht», sondern das Problem dahinter. Solche Fälle sind mir zum Glück nur selten begegnet.
Sollen Eltern ihren Kindern öffentliche, für jeden einsehbare Social-Media-Profile erlauben?
Ja. Sie sollen aber unbedingt das Thema Privatsphäre ansprechen und dem Kind erklären, dass seine Posts für jeden sichtbar sind – also auch für zukünftige Lehrmeister. Selfies und Partybilder machen sich da nicht so gut. Wenn ein Kind aber kreative Inhalte postet, kann das sogar eine gute Visitenkarte sein. Viele Jugendliche haben heute einen öffentlichen und einen geschlossenen Account. Im öffentlichen stellen sie sich vorteilhaft dar, legen Filter über die Bilder und gehen strategisch vor, um möglichst viele Kommentare und Likes zu erhalten. Im geschlossenen Account laden sie Inhalte hinauf, die nur enge Freunde sehen dürfen: Memes, Witze, Gedanken zum Weltgeschehen. Diesen Ansatz finde ich sinnvoll.
Wenig bis keine Regulation bedeutet im Umkehrschluss aber auch wenig bis kein Schutz für die Kinder.
Nicht unbedingt. Schützen kann man etwa, indem man vertrauensvoller Ansprechpartner ist und dem Kind mit Rat und Tat zur Seite steht. Ansonsten gilt: Eltern können nicht verhindern, dass manches früher oder später den Weg ihrer Kinder kreuzt, ob nun in der digitalen oder der analogen Welt. Mobbing beispielsweise ist ein viel besprochenes Thema. Aber Mobbing geschieht noch immer viel häufiger off- als online, und meistens sind es hier wie dort dieselben Täter: die Schulgspänli. Viel eher sollten sich Eltern Gedanken machen, wie sie dem Kind die Qualität von Information näherbringen können. Nicht alles, was im Internet steht, ist wahr. Kinder sollten lernen, Gelesenes kritisch zu hinterfragen.
Statt Regulation propagieren Sie ausserdem den gemeinsamen Internetkonsum. Können Sie uns das erklären?
Ich finde es grossartig, gemeinsam als Familie zu gamen. Mit den Kindern meines Partners – sie sind 15 und 17 Jahre alt – spielen wir zum Beispiel «Clash Royale» oder «Clash of Clans». Wir entwickeln gemeinsam Strategien, wie wir etwas sammeln, aufbauen oder angreifen wollen. Das schweisst zusammen. Wenn Familienmitglieder ein grosses gemeinsames Interesse haben – zum Beispiel Musik, Natur, Kunst –, lohnt sich ausserdem ein Familien-Instagram-Account zum Thema.
Wir dürfen also davon ausgehen, dass Sie den Kindern nie das Handy weggenommen haben zur Strafe?
Richtig. Das passt nicht zu unserem Erziehungsstil. Und es ist auch nicht etwas, das ich von meiner Forschung her als wirkungsvoll beschreiben würde. Das Digitale war bei uns immer mehr Chance als Druckmittel: Weil die Kinder meines Partners bei ihrer Mutter und nicht bei uns wohnen, gab es uns die Möglichkeit, mit ihnen in Kontakt zu bleiben – etwa über den Whatsapp-Gruppenchat. Und ganz ehrlich: Wir sind hyperdigitale Eltern, da können wir schlecht antidigitale Regeln machen.
Sandra Cortesi (35) studierte Psychologie an der Universität Basel. Heute ist sie Direktorin des Projekts «Youth and Media» am Berkman Klein Center for Internet & Society der Harvard-Universität und leitet die Zusammenarbeit des Centers mit der Unicef. Ausserdem ist sie zurzeit als Unterstützerin des Youth Lab von «20 Minuten» tätig.