El Salvador ist nicht nur eines der gefährlichsten Länder der Welt – auch die Abtreibungsgesetze sind nirgendwo so unerbittlich: Keine gute Kombination, wenn man eine Frau ist.
Am Freitag, dem 4. August 2017, dem Tag, an dem Elsy in den Augen des Staats zur Kriminellen wird, macht sie nichts falsch. Wie an jedem Tag holt sie Holz hinter der Kaffeeplantage, die ihr Vater verwaltet, und bringt es zum Feuermachen in die Küche. An dem Tag, an dem sie zur Kriminellen wird, spürt sie seit dem frühen Morgen statt der leichten Tritte ihrer ungeborenen Tochter in ihrem Bauch nur ein leichtes Ziehen im Rücken. Deswegen lässt sie die zweite Fuhre Holz liegen und kümmert sich um die Hausarbeit. «Was man als Frau eben so macht.»
Es muss gegen Nachmittag gewesen sein, als der Sturm nach Tepecoyo im Westen El Salvadors kam, wo die Häuser einstöckig und die Menschen arm sind, wo der Kaffee wächst und wo Elsy nicht ins Gymnasium gehen konnte, weil das in einem Quartier liegt, das von einer anderen Gang kontrolliert wird, als das, in dem sie wohnt.
Der Regen hämmert auf das Dach aus gewelltem Kunststoff wie Steinschlag. Ein unbarmherziges Dröhnen erfüllt die vier Räume, die sie sich mit ihren Eltern und ihrem Cousin teilt. Um fünf Uhr nachmittags, als ihr schwindlig wird und sie auf die Toilette rennt, scheint es ihr, als würde das ganze Haus beben im irren Dröhnen des Sturms. Sie setzt sich hin. Das Letzte, an das sie sich erinnert, ist der bohrende Gedanke: Habe ich grad mein Kind verloren? Sie blutet stark. Dann fällt sie in Ohnmacht. Wenig später findet ihr Vater sie.
Ihr Vater, ein kräftiger Mann, die Haut gegerbt von der unbarmherzigen Tropensonne, der immer noch nicht weiss, dass seine Tochter schwanger war, ruft die Polizei. Doch die winkt ab. Der Sturm sei zu heftig, er müsse schon selber schauen, wie er Hilfe bekommt. Der Vater des Kinds, Elsys Mann, war schon vor Monaten verschwunden. Als sie ihm von ihrer Schwangerschaft erzählte, sagte er nur «das ist dein Problem» und ging.
Sie nehmen das Motorrad des Cousins, das immer vor der Hecke aus Palmenbüschen und kleinen Bäumen steht, auf denen sie eine Rolle Stacheldraht ums Haus gespannt haben. Sie bringen Elsy ins Spital in San Rafael, ein Arzt versorgt sie. Dann kommt die Polizei. Du bist eine Mörderin, sagen die Männer in den dunkelblauen Uniformen. «Dein Kind ist tot. Wir nehmen dich wegen Mordes fest.»
In ihrem benommenen Zustand kamen ihr die Männer wie Figuren aus einem Albtraum vor, einer brutalen Dystopie, in die es sie aus ihrem Dorf geschleudert hatte. Sie kannte die Gesetze nicht. Konnte sich nicht erklären, was grad passierte. Sie sah das Linoleum auf dem Boden, die weissen Wände, dann wurde sie wieder ohnmächtig. El Salvador ist nicht nur eines der gefährlichsten Länder der Welt. 5257 Mordfälle gab es 2016 im Land, das grad einmal 6.4 Millionen Einwohner hat; die Tötungsrate ist damit rund viermal höher als etwa in Mexiko und fünfzehn Mal so hoch wie in den USA. Drei rivalisierende Banden stehen miteinander und mit dem Staat im Krieg. El Salvador ist ausserdem das Land mit den schärfsten Abtreibungsgesetzen weltweit. Abtreibung ist besonders schwerer Mord. So sagt es das Gesetz. Auch bei Gefährdung des Lebens der Mutter, im Fall von Vergewaltigung und Kindsmissbrauch.
Bei Fehlgeburten gilt nicht Mitleid als oberstes Gebot. Es gilt auch nicht die Unschuldsvermutung. Es wird davon ausgegangen, dass wer eine Fehlgeburt hat, diese mit Absicht herbeigeführt hat. Mehr als 20 Frauen sitzen zurzeit wegen Mords an ihren ungeborenen Kindern im Gefängnis. Fast alle hatten Fehlgeburten.
Elsy, deren Nachname aus Sicherheitsgründen nicht genannt wird, sitzt in einem Haus in der Hauptstadt, damit die Gangs sich nicht wundern, dass sie ausländischen Besuch hat. Hier erzählt sie ihre Geschichte. Eine befreienkleine, stämmige Frau mit breitem Gesicht und Augen, die den Schrecken nicht vergessen haben. Immer wieder wird sie von Weinkrämpfen geschüttelt.
Sie liegt nach dem Tag ihrer Fehlgeburt noch zwei Tage im Spital, dann bringen sie sie in eine Polizeistation und halten sie dort für einen Monat in einer Zelle fest. Niemand darf sie in dieser Zeit besuchen. Die Polizisten erklären ihr nebenbei, dass 30 Jahre Gefängnis auf sie warten. Dann kommt sie nach Ilopango, wo das grösste Frauengefängnis des Landes steht.
Sie denkt: «Ich habe doch nichts gemacht.» Sie denkt an ihren Sohn, an ihre Eltern, daran, was die jetzt über sie denken würden. Und sie denkt: «Ich habe doch meine Tochter nicht getötet.» Doch der Arzt im Spital hatte behauptet, es habe sich um eine Abtreibung gehandelt. Dass Gerichtsmediziner kurz darauf zum Schluss kommen, es sei eine Fehlgeburt gewesen, interessiert damals niemanden.
Das Frauengefängnis in Ilopango ist ein grosser Komplex mit gelben Mauern und einem gelben Tor, vor dem jeden Morgen die Angehörigen mit grossen Taschen in langen Schlangen auf Einlass warten. Elsys grosses Glück ist, dass die weiblichen Gangmitglieder, die im Gefängnis einsitzen und es kontrollieren, die Gefängnisleitung so verärgert haben, dass sie nicht aus ihren vollgestopften Zellen dürfen. Sie kommt in einen Block nah der Kirche. Sie stürmt ins kleine Gotteshaus, gleich am ersten Tag, und betet. Betet zu eben jenem Gott, von dem die Kirchen hier sagen, er heisse gut, dass man Frauen, die ihr Kind nicht möchten, wegsperrt, für 30 Jahre. Eine alte Frau sieht die 26-Jährige weinend vor dem Alter. Und Elsy vertraut sich ihr an. «Sag das niemandem hier», rät ihr die Frau. «Niemandem.»
Denn die Kindsmörderinnen, wie sie hier heissen, stehen in der Gefängnishierarchie ganz unten. Die alte Frau erzählt ihr von einer Gruppe aus einem anderen Block, Frauen, die ihre Kinder verloren haben wie Elsy. Wie sie die Frauen der Gangs bedienen müssen, fast wie Sklavinnen, wie sie nicht aufbegehren können, weil dann die Gangs draussen ihre Familien ermorden. Wie sie geschlagen werden, vergewaltigt, von den Frauen der Gangs. Hündinnen nennen sie sie.
Wann immer sie gefragt wird, sagt Elsy nun: «Ich habe Drogen verkauft.» Ansonsten versucht sie die meiste Zeit in der Kirche zu sein. Sieben Monate geht das so. Sie sieht keine Verteidiger, bekommt keinen Gerichtstermin.
Zuhause sitzt ihr Sohn. Drei Jahre alt. Und wartet. Elsys Schwester bringt ihm Armbänder, die Elsy im Gefängnis häkelt. «Deine Mama arbeitet im Ausland», sagt sie ihm dann, «schau, was sie dir geschickt hat.» Doch Elsy sitzt in Gefängnis, und sie weiss: Wenn sie 30 Jahre hier in diesen stinkenden, überfüllten Zellen wird leben müssen, in denen es nach Schweiss und nach Urin stinkt, dann muss sie es ihrem Sohn irgendwann sagen. Dann wird er hierherkommen müssen, mit ihrer Schwester, um seine Mutter zu sehen. Die nichts getan hat. Die ihr Kind verlor, über das sie noch immer weint, wenn sie davon erzählt, und die Opfer eines brutalen Machismo wurde.
Denn in El Salvador gehört nicht nur die Bandengewalt zum Alltag, auch Gewalt gegen Frauen und Vergewaltigung sind traurige Normalität.
In einer kleinen Klinik im Herzen der Hauptstadt San Salvador sitzt ein Arzt, dessen Name hier nicht genannt werden kann, weil er sonst bis zu zehn Jahren ins Gefängnis gehen würde.
In einer kleinen Aluschale liegt ein sechs Wochen alter Embryo. Eine 17-Jährige ist grad aus der Tür gehuscht. Ihr Onkel hat sie vergewaltigt. Immer wieder. Seit Jahren. Und natürlich ohne Verhütung. Der Onkel meinte nur, sie müsse sich keine Sorgen machen, er sei unfruchtbar. Dann wurde sie schwanger und kam hierher. «Es gibt sehr viele solche Fälle», sagt der Arzt. Der Onkel seiner Patientin ist 50 Jahre alt, ihre Eltern haben sie in seiner Obhut gelassen, als sie nach Norden migriert sind, für ein besseres Leben.
Der Arzt ist ein zarter Mann, schlank, mit den Händen eines Pianisten. Er spricht leise, als wäre die Vorsicht bereits zu seinem zweiten Wesen geworden. Er arbeitet in einem Netzwerk von fünf Ärzten, die zusammen das ganze Land abdecken. Seit 2004 macht er illegale Abtreibungen. Schon als Student hatte er damit angefangen.
«Natürlich habe ich Angst», sagt er. «Jeden Tag. Um meine Familie. Um mich.» Keiner der anderen Ärzte, die hier im Haus praktizieren, weiss, was er hier macht. Die Medikamente, die er für die Abtreibungen benötigt, meistens Cytotec und Mifepristone, versteckt er in einem Sack, er redet nie über seine Arbeit und nimmt nur Patienten an, die über Menschen kommen, die er kennt. Wenn jemand einfach so anruft, stellt er sich dumm.
Schrecken und Angst sind normal geworden in diesem kleinen Land, das einstmals für seinen Kaffee berühmt war, aber heute nur noch für seine Gangs, die zwei Barrio-18-Gangs und MS 13. «Es ist doch meine Pflicht als Arzt», sagt er, «wenn ich es nicht mache, gehen die Frauen zu schlecht ausgebildeten Leute oder machen es selbst und sterben.»
In letzter Zeit seien die meisten Patientinnen Vergewaltigungsopfer. Die Täter sind meist Gangmitglieder, aber vermehrt auch Verwandte. «Und niemand interessiert sich so wirklich dafür», sagt er, während er in seinem kleinen Behandlungszimmer sitzt. «Es gibt verdammt viele Selbstmorde deswegen.»
El Salvador ist, so der Arzt, ein Land der Doppelmoral. «Vergewaltiger werden weniger streng bestraft als Frauen, die abtreiben. Frauen, die Fehlgeburten hatten, sitzen 30 Jahre im Gefängnis. Die Politik und die Kirche wollen das so.» Hunderttausende Dollar schicken amerikanische evangelikale Kirchen jedes Jahr nach El Salvador, damit das so bleibt.
«Das Problem hier ist aber, dass niemand dieser Leute wirklich pro Life ist. Die sind pro Birth. Nach der Geburt sind ihnen die Kinder egal.» Es gibt ein Sprichwort in El Salvador: Es ist ein Verbrechen, jung zu sein. Denn wer jung ist, landet oft in den Gangs. Und wer diesen beitreten will, muss morden. Anders geht es nicht. Und wer einmal in einer Gang ist, kommt nie wieder heraus. Wer jung ist, hat oft keine Zukunft.
Diese Atmosphäre der Angst und der Gewalt, sagt der Arzt, dringe auch in die Familien ein, und die, die darunter am meisten leiden, seien die Frauen. Gangmitglieder zwingen junge Frauen oft zum Sex. Wenn sie sich weigern, so drohen sie, ermorden sie ihre Familien. Die Opfer sind in ungefähr der Hälfte der Fälle unter 15 Jahren alt. Nur 10 Prozent der Täter, so heisst es bei einer lokalen NGO, werden verurteilt.
Er selbst leidet nicht mehr unter den Geschichten, die er hört. «Ich bin mit Gewalt aufgewachsen», sagt der Arzt, bevor er weitermuss, «wir leben in einem Land der Gewalt, es ist schade, und es ist nicht normal, aber für mich ist es normal.»
In Jiquilisco, im Osten des Landes, versammeln sich einige Tage später mehr als hundert Frauen, die sich mit dieser Normalität nicht mehr abfinden wollen.
Jiquilisco sieht auf den ersten Blick aus wie eine idyllische kleine Stadt. Ein Dorfplatz mit hohen, schattenspendenden Bäumen, einem Basketballcourt, einem Spielplatz und belebten kleinen Geschäften. Doch die Stadt liegt an einer Bucht, in der ein paar kleine Inseln liegen. Diese dienen den Gangs, die die Stadt in Atem halten, als Versteck.
An diesem Mittwoch stehen vor dem kleinen Gerichtsgebäude des Orts die Frauen der Organisation Agrupación Ciudadana und ihre Unterstützer und schreien durch grosse Lautsprecher, die auf einem roten Kleinwagen stehen, gegen die Ungerechtigkeit an.
Es soll heute der Fall von Imelda Cortez verhandelt werden, einer jungen Frau, grad mal 20 Jahre alt, die seit ihrem 13. Lebensjahr von ihrem Schwiegervater vergewaltigt wurde. Dann wurde sie schwanger und hatte eine Fehlgeburt. Nun sitzt sie im Gefängnis. Dann wird die Verhandlung plötzlich abgesagt. Es gebe leider kein Auto für den Transport, heisst es aus dem Gefängnis.
«Das machen sie mit Absicht. Das ist nur eine weitere Form der Repression», sagt Sara Garcia Gross, eine der Mitbegründerinnen der NGO Agrupación Ciudadana, in deren Zentrale in San Salvador Kampagnen geplant, Anwälte für die Frauen im Gefängnis organisiert und Radiosendungen produziert werden. Man will den betroffenen Frauen direkt helfen, aber man will auch internationale Aufmerksamkeit produzieren und damit den Druck auf die Regierenden und Richter erhöhen, die unmenschlichen Gesetze endlich zu ändern.
Im Hintergrund skandiert die Menge: «Richter, hör uns! Wir sind viele, und wir werden kämpfen bis zum Schluss!» Selbst gemalte Transparente werden wütend in die Luft gereckt.
Sara Garcia Gross steht in blauem T-Shirt, weiter schwarzer Hose und Sandalen am Rand. «Wir haben hier eigentlich einen starken Fall, eine gute Beweislage für uns», sagt sie zögerlich, als hätte sie sich den Optimismus vorsichtshalber abgewöhnt. «Aber man weiss nie. Wir haben Beweise, die Forensiker sagen, es sei keine Abtreibung gewesen, und wir wollten das heute vor Gericht alles präsentieren. Aber ohne Verhandlung können wir sie auch nicht aus dem Gefängnis holen.»
Man lebe in El Salvador in einem System des Machismo, sagt sie. Frauen würden unterdrückt. Seien Bürger zweiter Klasse. Hinzu komme eine fundamentalistische christliche Kirche. Sie nennt das ein Komplott der Mächtigen: Aus der Partei Arena, den evangelikalen Kirchen, Opus Dei und den konservativen Medien formt sich die Front, gegen die sie ankämpft.
Denn während sie dafür kämpft, zumindest Artikel 133 durchzubekommen, der besagen würde, dass Frauen abtreiben dürfen, wenn sie vergewaltigt worden sind, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist oder der Fötus eine starke Behinderung aufweist, kämpfen andere Abgeordnete dafür, die Gefängnisstrafen für Abtreibungen von 30 auf 50 Jahre zu erhöhen.
Seit sie 2009 begonnen haben, konnten sie immerhin 21 Frauen befreien.
Eine davon ist Elsy, nach neun Monaten Haft, am 21. Juni 2018. Der Richter hat schliesslich den Forensikern geglaubt und nicht dem Arzt, der behauptet hatte, es habe sich um eine Abtreibung gehandelt. Sara Garcia Gross und ihre NGO haben von anderen Frauen, mit denen sie im Gefängnis in Kontakt standen, von Elsys Fall gehört. Zwei Monate danach war sie frei.
Ihre Schwester wartet vor dem Tor auf sie, dann fahren sie zu ihrem Sohn. Sie rennt die Strecke vom Auto bis zum Haus. Dann nimmt sie ihn in den Arm. 25 andere Frauen mit ähnlichen Schicksalen bleiben zurück, hinter den Mauern der Gefängnisse des Landes, das seine Moral verloren hat.
1.
«Ich habe doch nichts gemacht»: Nach ihrer Fehlgeburt kam Elsy ins Gefängnis – einen Rechtsbeistand sah sie erst nach sieben Monaten
2.
Gefährliches Pflaster: 5257 Morde gab es in El Salvador 2016 – Gewalt gegen Frauen gehört zum Alltag
3.
Vor dem Frauengefängnis in Ilopango: Angehörige bringen den Frauen Essen und Hygieneartikel
4.
Seit 2009 konnten Sara Garcia Gross (Mitte) und ihre Mitstreiterinnen von Agrupación Ciudadana 21 Frauen aus dem Gefängnis befreien
5.
«Natürlich habe ich Angst. Jeden Tag»: Einer aus einem Netzwerk von fünf Ärzten, die Abtreibungen vornehmen
6.
Gangmitglieder im Gefängnis: Machismo und Gewalt prägen den Alltag in El Salvador