Jónína Kristín Guðmundsdóttir ist Sekretärin und Touristenführerin in Island – und stammt von einer landesweiten Berühmtheit ab.
Bis ins Mittelalter kann ich meine Abstammung zurückverfolgen. Weiter geht es auch nicht, weil davor war Island nur dieser öde Vulkanklecks im Atlantik. Dann nahmen die Wikinger das Land in Beschlag. Weil das Leben rau und anstrengend war, kamen aber nicht allzu viele, und wir Isländer sind alle irgendwie miteinander verwandt. Vor ein paar Jahren hat jemand eine Datenbank angefangen, in die jeder seine Ahnen eintragen konnte. Plötzlich hat man erfahren, dass man mit seinem Cousin 5. Grades verheiratet war. Das ist mir nicht passiert.
Ich wollte wissen, wie ich mit den Frauen verbunden bin, die ich aus unseren Sagen kannte. Stundenlang ist meine Mutter früher mit mir über die moosbewachsenen Hügel gewandert und über die Steine am Fjord geklettert. Dabei erzählte sie von den Menschen, die als erste in diesem Tal waren: den Lachstal-Menschen. Unter ihnen gab es eine Frau, die ich besonders bewundert habe: Guðrún Ósvífursdóttir, sie soll 974 geboren worden sein. Jeder in Island kennt sie.
Hätte es im Mittelalter Feministinnen gegeben, wäre sie die grösste unter ihnen gewesen. Sie war viermal verheiratet, wegen ihr haben sich Brüder ermordet, sie besass Land, was Frauen eigentlich nicht durften. Sie bot den Männern die Stirn und liess sich nichts gefallen. Sie war eine aussergewöhnliche Dame, sehr kämpferisch und eigenwillig. Ihr Sohn hat sie mal gefragt, welchen ihrer Liebhaber sie allen anderen vorziehen würde, und sie hat geantwortet: «Als ich am grausamsten war, habe ich am meisten geliebt.»
Irgendwann habe ich ihren Namen in die Datenbank eingegeben, und siehe da! Ich bin ihre Urenkelin in der 27. Generation. Sagenhaft, oder? Das ist ungefähr so, wie wenn eine Französin sagen könnte, sie sei die Ururururenkelin von Jeanne d’Arc. Seitdem ich das weiss, fühle ich mich wie eine Kvenskörungur. So nennen wir selbstbewusste Frauen, die nur nach ihren eigenen Regeln leben.
Wie Guðrún ausgesehen hat, ist nicht bekannt, es gibt keine Bilder. Aber die Landschaft hat sich nicht verändert. Die Orte tragen noch die alten Namen. Meine Mutter lebt auf einem alten Gehöft, das Kambsnes heisst. Es liegt auf einer Landzunge, die in den Breiðafjord hineinragt. Guðrún hat hier mal ihren Kamm verloren. Ich lebe zwei Kilometer entfernt in Búðardalur. In Búðardalur geht immer ein Wind. Die Ruhe ist in Eile, sagen wir. Wenn ich am Hafen stehe, blicke ich rüber nach Laugar, wo Guðrún aufgewachsen ist. Ich kenne ihre Geschichte in- und auswendig, auch weil ich sie täglich vor Augen habe. Ich würde sie gern bis ins kleinste Detail glauben, aber wenn ich ehrlich bin, weiss ich nicht genau, was alles stimmt.
Niemand kann sagen, ob es eine Guðrún wie in den Sagen gegeben hat oder ob sie eine Erfindung ist, die sich aus vielen Frauen zusammensetzt und so in die Ahnenforschung eingegangen ist. Quasi ein Best-of dieser Zeit, verschmolzen zu einem. Mir ist das egal. Als ich herausgefunden habe, dass ich Teile von ihr in mir trage, fühlte ich mich stärker. Ich wollte schon immer Touristen mein Land zeigen und die alten Geschichten erzählen. Aber lange habe ich gedacht: Ach, wer kommt denn hierher? Wen sollte das interessieren? Aber ich habe gemerkt, dass das die falschen Fragen sind. Guðrún hat nicht gefragt, welche Bedingungen es gibt und wie sie Erwartungen erfüllen kann. Sie hat gemacht, was sie wollte, und geschaut, wie weit sie kommt. Ist sie gescheitert, hat sie an einer anderen Stelle weitergemacht. Das habe ich ihr abgeguckt. Ich mache jetzt mein Ding. Manchmal fragen mich die Besucher: «Wenn aber doch alles nicht wahr ist …» Ich sage dann: «Wahr ist vielleicht nicht die ganze Geschichte, aber wahr ist die Wirkung, die sie auf dich hat.»