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Eine Sinnreise durch die Schweiz

Leben

Eine Sinnreise durch die Schweiz

  • Text und Fotos: Brigitte Zaugg

Vor einem runden Geburtstag stellt man sich so seine Fragen. Unsere Autorin hat zu ihrem Sechzigsten Antworten darauf gesucht – bei ganz besonderen Gleichaltrigen.

Erster Halt: Cern in Genf

Bibiip, bibiip – mein Handy sendet irdische Signale und holt mich zurück in einen kahlen Raum im Cern. Ein kosmischer Coitus interruptus, sause ich doch gerade mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch einen bläulich erhellten Tunnel hinaus ins Teilchenuniversum, hinter einem Irrlicht her, auf Kollisionskurs mit weiss Gott wem oder was. Mit einem Proton vermutlich, aber sicher bin ich da nicht, denn mein Kopfhörer hat den Geist aufgegeben. Ich schaue mich um: Niemand sonst in der international zusammengewürfelten Besuchergruppe hat das Piepsen vernommen. Alle starren, manche mit offenem Mund, auf die angebeamte Wand, in vager Erwartung eines Urknällchens, klobige Boxen auf den Ohren und dunkle 3D-Brillen auf der Nase. An die zwanzig Aliens – Physikstudenten, pensionierte Lehrerinnen mit ihren Enkeln, Weltreisende – sind nach Genf gekommen, um zu sehen, was am Europäischen Kernforschungszentrum Cern im 60. Jahr seines Bestehens so abgeht.

Und ich? Was mache ich hier? Ich relativitätstheoretische Dumpfbacke? Ich suche eine Gewissheit. Und zwar die, dass weder Himmel noch Fegefeuer oder sogar Hölle auf mich warten, sondern am liebsten einfach – nichts. Das virtuelle Nahtoderlebnis in der blauen Röhre beschert uns ein Film über die Detektorstation Atlas am Large Hadron Collider LHC, dem leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt. In diesem 27 Kilometer langen Ringtunnel bewältigt ein Protonenstrahl in nur zehn Stunden zehn Milliarden Kilometer, also ungefähr einmal Planet Neptun und zurück – eine unermesslich weite Reise, wenn man bedenkt, dass der Mars, verglichen mit dem Neptun, quasi vor unserer Haustür durch den Weltraum eiert. Der Atlas-Detektor selbst steht tief unten in einem bunt bemalten Betonbau mit einem Keller von der Grösse einer Kathedrale. Es ist eine zylinderförmige Maschine, 45 Meter lang und 25 Meter dick, 7000 Tonnen schwer, mit 3000 Kilometern Kabelsalat und ebenso vielen Mitarbeitenden aus fast vierzig Nationen.

Und all das zum Aufspüren von Dingen, die nicht mal die Grösse eines Atoms haben – irre! Kein Wunder, dass sich Polizeiinspektor Voss in Friedrich Dürrenmatts Komödie «Die Physiker» den Schweiss von der Stirn wischt und sagt: «Man kommt ganz durcheinander.»

Mir gehts genau gleich. Proton-Proton-Kollision, Kelvin-Grade, supraleitende Ablenkmagnete, Higgs-Boson … wahrlich unvorstellbar, was uns Teilchenphysiker Claudio Santoni nach dem Film zu erklären versucht. In meinem Kopf verdichten sich seine Worte zu einer rätselhaften dunklen Materie, und das hat wohl kaum damit zu tun, dass der italienische Wissenschafter ein mit englischen Ausdrücken gespicktes Französisch spricht: Herr Saurer, anno dazumal in Bern mein Physiklehrer, sprach Deutsch, und ich habe trotzdem nie begriffen, warum das Licht angeht, wenn man auf einen Schalter drückt.

Und doch fühle ich mich wohl in diesem multikulturellen Forschungsmekka im schweizerisch-französischen Grenzgebiet, wo rundherum die Kühe grasen, während untenrum die Teilchen rasen. Es ist nicht nur der Jahrgang 1954, der das Cern und mich verbindet. Uns beschäftigen auch die gleichen Fragen: «Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?», lese ich an der Wand im Kuppelbau Globe of Science and Innovation. Natürlich weiss das Cern schon viel mehr als ich. Dennoch ist es tröstlich, dass auch hier jede neue Gewissheit neue Fragen aufwirft.

Graupapageien ergrauen nicht

Zu einem Altersgenossen, der auf solche Fragen mit grosser Wahrscheinlichkeit pfeift, spaziere ich am anderen Ende der Schweiz. Durchs idyllische Hönenschwilertal bei Dicken SG führt ein geteertes Strässchen an dunkelbraunen Bauernhäusern mit weiss gerahmten Fensterreihen vorbei zum Papageienhof. Ob er wohl etwas sagen wird, der 60-jährige Graupapagei in der Auffangstation, in der Marcel Jung und sein Team verwaiste und verstossene Exotenvögel durchfüttern?

Ja, der Papagei könne sprechen, hat mir Tierheimgründer Jung am Telefon gesagt. Vielleicht habe er dann aber gerade keine Lust zu reden, das müsse man respektieren, er sei eben trotz allem ein Wildtier.

Und wirklich: Bei meiner Aufwartung hüllt sich die graue Eminenz mit den leuchtend korallenroten Schwanzfedern in tiefes Schweigen. Äusserlich beneidenswert alterslos, wohnt der Vogel zusammen mit einem halben Dutzend anderen Graupapageien und zwei schneeweissen Kakadus in einer geräumigen Voliere mit Kletterbaum und Ausflugsmöglichkeit ins Gartengehege. Woran sie denn erkenne, welches jetzt genau der 60-Jährige sei, frage ich Papageienhof-Mitarbeiterin Sanja Jovanovic. «An seinem Verhalten», erklärt sie. «Egal, was die andern machen, er bleibt am liebsten auf dem Futtertisch.»

Tatsächlich bewacht da einer aufmerksam die zwei mit Körnern, Kernen und Nüssen aller Art gefüllten Fressnäpfe. Er lässt sich am Schnabel streicheln, ja sogar unter den gestellten Federn am warmen Nacken kraulen, und mustert mich mit seinen kugelrunden Äuglein mal von links und mal von rechts – doch zu sagen hat mir mein gefiederter Jahrgänger offenbar nichts. Bis ich mich zum Gehen wende und einen Kakadu, der sich auf meine Schulter gesetzt hat, sachte auf einen Ast zurückbugsiere. An der Volierentür schaue ich mich noch einmal um, da reckt der Graupapagei den Hals und pfeift mir hinterher – genau so, wie in den Sechzigerjahren die Papagalli an Italiens Stränden den Teenies aus dem Norden nachpfiffen, mir zum Beispiel 1968 in meinen ersten Adriaferien in Rosapineta.

Rocco, so heisst der kleine Macker hier, könnte übrigens ebenso gut eine Sie sein, Graupapageien tragen schliesslich Unisex. Ich mache mich kundig: Die einfachste Methode zur Geschlechtsbestimmung wäre eine DNA-Analyse, wozu man dem Hönenschwiler Pensionär freilich bei lebendigem Leib eine Feder ausrupfen müsste.

Seinen Trick aber will ich mir merken: ruhig bleiben und immer schön den Futtertrog im Auge behalten.

Untergangsstimmung

Eine relativ harte Nuss knacke ich zurzeit daheim in Zürich – ich bin seit Wochen am Ausmisten. Selbst wenn man sich von manchen Dingen ungern trennt: Es tut gut, vor einem runden Geburtstag wieder mal sein Hab und Gut zu straffen. Beim Stöbern stosse ich auf vieles, von dem ich nicht mehr weiss, wie es je in meinen Besitz kam. So auch auf ein Schwarz-Weiss-Bild, das ein Bergdorf mit stattlichen Bürgerhäusern, Ställen und Scheunen in einem unverbauten Hochtal mit saftigem Wiesengrund zeigt.

Es ist Marmorera an der Julierstrasse im Bündnerland, wie ein Blick auf die Rückseite des Fotos zeigt. Vielmehr: Es war Marmorera. Das ganze Dorf wurde 1954 meinem dritten Gleichaltrigen, dem Marmorera-Stausee, geopfert. 96 Menschen mussten ihre Häuser für immer verlassen, einige unter Zwang, vor allem Frauen, denen das Stimmrecht noch verwehrt war, als die Gemeindeversammlung im Oktober 1948 mit 24 gegen 2 Stimmen beschloss, der Stadt Zürich die Konzession zum Bau eines gewaltigen Erddamms zu erteilen. Als in der Kirche von Marmorera am 9. Mai 1954 die letzte Messe gelesen wurde, sollen selbst die hartgesottensten Bergler Tränen in den Augen gehabt haben. Tags darauf wurde die Kirche gesprengt, das Dorf geschleift, die Talsenke geflutet. In Luzern war meine Mutter gerade im sechsten Monat mit mir schwanger, und mein Vater rechnete mit Sorgenfalten seinen Bähnlerlohn auf die bald fünfköpfige Familie um.

Sechzig Jahre später stehe ich an einem sonnigen Montagvormittag auf dem Damm über dem in diesem Frühsommer halb leeren Stausee. Kein schöner Anblick, der schrundige, nackte Felsgrund unter der Uferlinie, an den sich noch immer tote, grau wie der Stein gewordene Arven- und Lärchenstrünke mit ihrem nutzlosen Wurzelwerk klammern. Weit unten liegt der Restsee stumm und blau. Eine unheimliche Vorstellung, dass auf seinem Grund einst Vieh weidete, Kinder zur Schule gingen, Frauen Pizokel kochten und Männer in der Dorfbeiz über den schicksalhaften Handel mit dem fernen Zürich stritten und darüber, dass man doch wenigstens die Toten mitnehmen können sollte.

«Erigia al Matg 1954 dala Cited da Turitg», steht auf einer schwarzen Marmorplatte am Friedhofseingang im heutigen Marmorera am Steilhang über dem See: Errichtet im Mai 1954 von der Stadt Zürich. 360 Gebeine wurden damals umgebettet, die meisten ins Gemeinschaftsgrab zu Füssen des Gekreuzigten. Gern würde ich eine Kerze anzünden, aber ich finde hier keine Kerzen. Auch in der nahen Kapelle nicht, die ist geschlossen. Die Dorfstrasse ist menschenleer. Scheppernd beginnt die Kapellenglocke zu läuten, es ist zwölf Uhr mittags. Zeit, dem aufkeimenden Weltverdruss die Stirn zu bieten – mit einem Stück Bündner Nusstorte im Beizchen talauswärts mit Aussicht aufs Wasser, das in Zürich, wer weiss das schon so genau, vielleicht mein Nachttischlämpchen zum Leuchten bringt.

Da habe ich Glöggli

Samstags um 16 Uhr schlägt für die Kirchenglocken von Schönenbuch BL eine besondere Stunde: Es gilt, den Sonntag einzuläuten. An diesem Samstagnachmittag werden sie auch für mich erklingen, denn ich statte ihnen ganz oben in ihrem engen, dunklen, zugigen Glockenstuhl einen Geburtstagsbesuch ab. Als Tochter einer Oberwalliserin und eines Oberaargauers bin ich von klein auf an Kuh- und Kirchenglocken in allen Tonlagen gewöhnt und gehöre deshalb nicht zu denen, die gleich entnervt auffahren, sobald es irgendwo bimmelt.

Zwei der drei Schönenbucher Glocken, die mittlere und die grosse, werden dieses Jahr auch gerade 60, und Irene Fischer, Sigristin der schmucken Dorfkirche Johannes der Täufer, will sie mir vor dem Vieruhrläuten vorstellen. Auf der Empore gleich neben der Orgel hat ihr Mann schon vorsorglich die schwere Estrichleiter aus der Decke heruntergezogen, der Weg nach oben ist frei.

Und extrem steil. Drei Leitern nur sind es, doch sie verlangen mir alles ab. Die fünf Stockwerke, die ich daheim mangels Lift jeden Abend erklimme, sind nichts im Vergleich zu dieser Kraxelei im Dunkel, an das sich meine Augen erst langsam gewöhnen. Wobei ich gar nichts sehen müsste, um zu spüren, dass fast überall, wo ich hintrete und -lange, vorher Tauben waren. Viele Tauben. Eine Tatsache, die es mir zusätzlich erschwert, mich beim Aufstieg irgendwo am Gebälk festzuhalten.

Die sportliche Sigristin ist längst oben, als ich endlich keuchend den Glockenstuhl erreiche. «Es wird gleich halb vier schlagen», warnt sie und kramt in ihrer Umhängetasche, «möchten Sie Ohro…?» Zu spät: Das «…pax» geht in einem ohrenbetäubenden Ding-dong, Ding-dong der kleinen Marien- und der mittleren Christusglocke unter. Was für ein Glück, dass die grosse Pius-Glocke, mächtig wie der Reifrock einer Rokoko-Hofdame und nur eine Handbreit von mir entfernt, erst zur vollen Stunde schlagen wird. «Anno canonisationis MCMLIV», lese ich auf ihrem Bauch, «im Jahr der Heiligsprechung 1954». Heiliggesprochen wurden Päpste schon damals, in diesem Fall war es Pius X.

Eine Kirchenglocke kann gut 500 Jahre oder älter werden, weiss Irene Fischer. Man müsse allerdings spätestens alle fünfzig Jahre den Klöppel auswechseln, weil die Glocke sonst zu scheppern beginne. Wie das? Das Metall des Klöppels muss weicher sein als das der Glocke, lerne ich. «An der Aufschlagstelle», so die Sigristin, «wird es jedoch mit den Jahren immer härter. Irgendwann tönt das dann furchtbar.» In Schönenbuch habe man deshalb alle drei Klöppel vor einigen Jahren ersetzt. «Seither klingen unsere Glocken wieder wunderschön, ganz besonders die grosse!» Auch die ausrangierten Klöppel sind nicht verstummt. Kopfüber in Holzsockel gesteckt, zieren sie als Kunstinstallation den Kircheneingang. «Das Trio singt und tanzt nun weiter», besagt ein Täfelchen. Wenn die drei in fünfzig Jahren ein Sextett sind, weiss der Kuckuck, in welchem Chor ich dann mitsinge.

Das Samstagsläuten höre ich mir draussen vor der Kirche an, in sicherem Abstand zu den ehernen Brummern oben im Turm, die nun ihr Bestes geben: ein minutenlanges Ständchen mit überraschenden Synkopen, verspielten Triolen und freejazzigen Rhythmusverschiebungen, das mit dem tiefen, warmen A der grossen Glocke ausklingt. Eine mitreissende und auch meditative Dreitonmusik – wenn man geburtstagshalber mal genau hinhört.

Nicht verzagen, Maite fragen: Interview mit Marie-Theres Nadig

Wie sehr meine Knie zitterten, ist mir erst wieder unten im sicheren Kirchenschiff aufgefallen. Du heiliger Bimbam, ich muss dringend etwas für meine Fitness tun!

Ein glücklicher Zufall, dass 1954 auch das Sportidol meiner Jugendzeit geboren wurde: Marie-Theres «Maite» Nadig, Doppelolympiasiegerin in Sapporo 1972 in der Abfahrt und im Riesenslalom, Gesamtweltcupsiegerin 1980/81, heute Juniorentrainerin im Skiverband Sarganserland-Walensee. Sie treffe ich im Bahnhofbuffet von Sargans SG zu einem Kurzinterview übers Älterwerden, über Jugenderinnerungen und über Fitness für Spätzünderinnen wie mich.

ANNABELLE: Marie-Theres Nadig, wollen wir uns duzen … so unter Gleichaltrigen?
MARIE-THERES NADIG: Kein Problem. Mir sagen hier sowieso alle du.

Darf ich dich Maite nennen?
Sicher. Gern.

Kennst du den alten Schlager «Mit 17 hat man noch Träume»?
Äh … ja (schaut fragend), aber Musik ist nicht so meine Stärke.

Mit 17 hast du in Sapporo zwei Goldmedaillen geschafft. Alle Träume erfüllt, könnte man sagen.
Das hätte ich damals gar nicht zu träumen gewagt. Die Favoritinnen waren andere, Annemarie Pröll vor allem. Wir Schweizerinnen waren ein extrem junges Team, alle unter zwanzig. Wir mussten hart kämpfen, der Verband wollte das Frauenteam sogar auflösen, weil man sich nichts von uns versprach. Ja, Sapporo war wirklich ein Paukenschlag für die Schweizer Skifahrerinnen.

Dein 60. Geburtstag war am 8. März. Was hast du an dem Tag gemacht?
Am Morgen hatten wir ein Training im Toggenburg, dort fand ein Rennen statt. Am Abend gab es ein Essen im engsten Familien- und Freundeskreis. Grosse Partys sagen mir nichts. Ich bin ohnehin eher der Typ Mensch, der nicht am Geburtstag, sondern Ende Jahr ein Fazit zieht.

Manche Leute erleben schon vor ihrem 30. oder 40. panische Momente …
Das kann ich gut verstehen, Alter ist ja ein relativer Begriff. Für 20-Jährige ist doch bereits 30 alt, und 30-Jährige finden 40 alt. Und was passiert? Plötzlich ist man 60. So ist das halt. Man weiss nie, wie alt man dann wirklich wird. Wovon träumst du mit 60? Heute wünsche ich mir, gesund zu bleiben. Solange ich gesund bin, kann ich eigentlich alles machen, was ich will.

Bernhard Russi – sechs Jahre älter als wir zwei – hat diesen Frühling mal am Radio gesagt, er mache jeden Morgen beim Zähneputzen fünfzig halbe Kniebeugen, und zwar fünfzig auf dem rechten und fünfzig auf dem linken Bein. Das hat mich total frustriert, denn ich kriege auf beiden Beinen gerade mal 15 hin – und ebenfalls allerhöchstens halbe.
Lass dich von so was bloss nicht entmutigen. Es ist doch sonnenklar, dass jemand, der ein Leben lang trainiert hat, mehr Kniebeugen schafft als jemand, der damit erst in deinem Alter anfängt. Bleib einfach dran, du kannst dich bei den Übungen notfalls an einem Tisch festhalten. Irgendwann sind es dann zwanzig, dreissig oder vierzig Kniebeugen.

Was kann ich sonst noch tun?
Die Muskulatur ist nur das eine. Das Gleichgewicht – und das ist im Alter ebenso wichtig – ist eine Kopfsache. Trainieren kannst du das, indem du zum Beispiel beim Zähneputzen abwechselnd auf einem Bein stehst. Achte aber darauf, dass du dabei immer in der Achse bleibst.

Muss ich ins Fitnesszentrum?
Ach was, mach deine Kniebeugen, geh viel laufen, und zwar mit Stöcken, und iss gesund: von allem etwas, von nichts zu viel.

Bringst du mir noch eine richtige Kniebeuge bei?
Aber klar.

Und so kommt es, dass zwei 60-jährige Ladys am Bahnhof Sargans ein paar Mal in die Hocke gehn, langsam und mit angespannten Muskeln, die eine mit geradem Rücken, braun gebrannt und ganz die alte Pistenkönigin, die andere haltsuchend vorgebeugt, mit rotem Kopf und brennenden Oberschenkeln.

Erde an Neptun: Bitte kommen

Ein Paar Laufstöcke könnte ich mir von meinem Liebsten zum Geburtstag am 19. August wünschen, überlege ich. Dann würde ich einen Ausflug ins Grüne machen, zum Beispiel mit der Luftseilbahn Adliswil-Felsenegg, Baujahr 1954. Bei der einzigen Luftseilbahn im Kanton Zürich, so heisst es auf der Website, könne man das ganze Jubeljahr 2014 lang in einem Wettbewerb «ein exklusives Candle-Light-Dinner für zwei» in der Bähnlikabine gewinnen. Eine Chance, die man sich – Stichwort: Futtertrog – nicht entgehen lassen sollte.

Für alle 60-Jährigen offeriert die Bahn zudem Nordic-Walking-Kurse auf der Felsenegg. Das wäre doch etwas für mich und meine neuen Gehhilfen. Von der Felsenegg würde ich danach, wie schon seit Jahren nicht mehr, munter auf dem Üetliberg-Planetenweg zum nahen Neptun und weiter bis zur Erde stöckeln, und zwar – interplanetar gesehen – mit mehr als doppelter Lichtgeschwindigkeit. Laut Wegbeschreibung sollte ich nämlich in eineinhalb Stunden dort sein. Hin und zurück bräuchte ich folglich bloss drei Stunden statt zehn wie der Protonenstrahl im LHC-Teilchenbeschleuniger am Cern.

Der Planetenweg auf dem Zürcher Hausberg stellt unser Sonnensystem allerdings im Massstab 1:1 000 000 000 dar. Entsprechend heruntergerechnet wäre ich nur noch ein Milliardstel meiner selbst, ein Fränkli im Vermögen eines Milliardärs. Auf eine Formel gebracht: Statt 1.70 Meter gross wäre ich auf einen Schlag 1.7 x 10^–9 m klein, eine Null mit erst mal acht Nullen hinter dem Komma – und trotzdem immer noch gut fünfzigmal grösser als ein Wasserstoffatom. Beim Versuch, mir das plastisch vorzustellen, scheitere ich kläglich. Aber ich erahne, was es heisst, ein Teilchen zu sein, so winzig vielleicht, dass man es unter Umständen noch gar nicht entdeckt hätte. Und zaghaft geht in der dunklen Materie in meinem Kopf ein Lichtlein auf: Das beste Anschauungsmaterial in Sachen Relativitätstheorie bin ich selbst.

Bevor ich mich nun vollends in nichts auflöse: Das SMS, das mich im Cern aus dem Teilchenuniversum zurückholte, war von Swisscom. «Willkommen in Frankreich! Mobiles Surfen jetzt noch günstiger, zum Beispiel mit dem Data Travel 200 MB Paket …» Dazu eine Reihe Roamingtarife. Geburtstagswünsche ans Cern hätten besser gepasst. Immerhin wurde dort das World Wide Web erfunden, und zwar vor 25 Jahren. Damals schrieb ich noch auf einer Hermes Baby, ich war zarte 35 und sah besorgt meinen 40. nahen. Und jetzt werde ich plötzlich erstaunliche 60 – und frage mich, warum ich vor dieser Reise eigentlich so genau wissen wollte, was einmal sein wird.

— Dauerausstellungen und geführte Touren am Cern (E/F): www.cern.ch
— Infos über den Papageienhof Dicken und Vogelpatenschaften: www.papageienhof.ch
— Jubiläumsprogramm der Luftseilbahn Adliswil–Felsenegg: www.laf.ch

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1.

Grundsatzfragen stellt sich auch das Cern: «Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?».

2.

Der «Globe of Science and Innovation» sorgte schon an der Landesausstellung Expo.02 für Aufsehen — als «Palais de l’Equilibre» in Neuenburg.

3.

Im Cern-Entrée fällt als erstes die Fahne zum 60-Jahr-Jubiläum ins Auge.

4.

Bunt und fröhlich: Der Betonbau, in dem sich tief unten der Detektor «Atlas» verbirgt.
 

5.

Klare Ansage an einer Mauer im «Atlas»-Gebäude: Bis hierher und nicht weiter.

6.

Heimat für verstossene und verwaiste Exotenvögel: Papageienhof Dicken.

7.

Graupapagei Rocco: 60-jährig — und vermutlich sehr, sehr weise.

8.

Rückt Brigitte Zaugg auf die Pelle: Kakadu mit erhöhtem Kuschelbedarf.
 

9.

Im Jahr der Heiligsprechung 1954: Die grosse Schönenbucher Glocke, die Papst Pius X. geweiht ist.

10.

Kunstinstallation mit drei ausrangierten Klöppeln: «Die singenden Glocken» von Brigitte Lacau (2012).
 

11.

Das Gemeinschaftsgrab der Toten aus dem versunkenen Bergdorf Marmorera.