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Geschätzte Fahrgäste, hören Sie auf zu jammern

Geschätzte Fahrgäste, hören Sie auf zu jammern

  • Text: Leandra Nef; Foto: GettyImages

Über die öffentlichen Verkehrsmittel – und vor allem die SBB – wird leidenschaftlich und oft gejammert. Es reicht, findet unsere Autorin, und setzt zu einem Loblied an.

Ich schreibe diese Zeilen an einem Freitagabend, im Interregio 70 nach Luzern mit Halt in Baar, wo ich um 18.02 Uhr einen Anschlussbus erwischen muss. Das Gute: Ich habe mir einen Platz am Fenster ergattert, während sich die nachkommenden Pendler, tropfnass vom Regen und schwer atmend vom Sprint ins Wochenende, mit der Treppe begnügen müssen. Das Schlechte: Es ist 17.40 Uhr, der Zug sollte seit fünf Minuten unterwegs und schon mindestens auf Höhe des Fifamuseums sein. Aber anstatt über die Gleise zu gleiten, liegt er im Zürcher Hauptbahnhof, bewegungslos und träg und schwer wie ein gestrandeter Blauwal am Südseestrand. Störung an der Lok. Augenrollen bei den Pendlern. Die denkbar schlechtesten Umstände, um eine Ode an die SBB zu schreiben.

Während der Lokführer das Zugpersonal per Durchsage bittet, sich bei ihm zu melden (Hat es sich heimlich aus dem Staub gemacht?), ruft mein Sitznachbar, der schon seit geraumer Zeit vor sich hin lamentiert, Murphy’s Law aus, wonach alles, was schiefgehen kann, auch schiefgehen wird. Er fahre eigentlich nie Zug. Genau deswegen. Und immer, wenn er dann doch mal mit dem Zug fahre, habe der Verspätung. Jedes Mal. «Wissen Sie, ich wusste es.» Ich beschliesse, dass mich sein Gezeter wesentlich mehr nervt als die Verspätung des Zugs. Und dass genau jetzt eben doch der richtige Zeitpunkt ist, eine Ode an die SBB zu schreiben.

Denn während der arme Herr neben mir sich zu einem besonders charakteristischen Exemplar der Gattung Pechvogel hinaufstilisiert – ich dagegen tippe eher auf übler Fabulant –, kann ich mich als regelmässige Pendlerin nicht beklagen. Geschätzte 18 von 20 Arbeitstagen pro Monat fahren mich die Schweizerischen Bundesbahnen bequem und auf die Minute genau ans Ziel. Wenn ich mich dann noch für den Bummler anstatt für den Schnellzug in Kombination mit dem Bus entscheide, dann habe ich, zumindest frühmorgens, ein halbes Abteil für mich allein und somit meine Ruhe. Perfekt, um eine Stunde Zeitung zu lesen, Podcasts zu hören oder – dem monotonen Rattern der Räder lauschend und meditativ aus dem Fenster schauend – in einem Zustand höchster Entspannung in den Tag zu starten. Und wenn dann doch mal jemand vorbeikommt, dann höchstens die freundliche Zugbegleiterin. Ja, richtig. Freundlich. Noch nie habe ich Erfahrung mit unfreundlichem Zugpersonal machen müssen. Das mag Glück sein. Vielleicht ist es aber auch einfach logische Konsequenz: Wer ein Ticket besitzt und respektvoll ist, wird auch respektvoll behandelt. Und vermutlich ist im Umkehrschluss genau dies das Problem all der Bahn-Nörgler und SBB-Basher.

17.47 Uhr, rums. Der Zug setzt sich ruckelnd in Bewegung. 12 Minuten Verspätung. Seufzer und Kopfschütteln bei den ungeduldigen Mitreisenden. «Nichts im Vergleich zum Schienenverkehr in anderen Ländern», möchte ich einwerfen, «Schon mal eine Doku über Zugfahren in Indien geschaut?» Und: «Jetzt hört doch endlich mal auf, über die SBB zu jammern!» Aber mir ist grad nicht nach Diskutieren.

Zumindest die Studien geben mir recht – und man muss nicht mal mit dem Totschlagargument Indien auftrumpfen, ein Blick nach Europa reicht: Der öffentliche Verkehr der Schweiz punktet im europäischen Vergleich mit einer hohen Netzdichte, einem grossen Angebot und einer herausragenden Pünktlichkeit. Pro Tag bedienen die SBB mit fast 10 700 Zügen 3200 Streckenkilometer und 800 Haltestellen. Laut internationalem Eisenbahnverband UIC waren in der Schweiz bei der letzten Erhebung 98.6 Prozent der Züge pünktlich. Strenger sehen das die SBB selber, die mit anspruchsvolleren Massstäben rechnen: Ein Zug gilt nur bis drei Minuten Verspätung als pünktlich. Ausserdem müssen die Anschlüsse der Reisenden gewährleistet bleiben. Die so errechnete Kundenpünktlichkeit der SBB lag im Jahr 2017 bei 89 Prozent. Deckt sich also ziemlich genau mit meiner Schätzung von vorhin.

Eine Durchsage reisst mich aus meiner Recherche. Ausserordentlicher Halt wegen Abwarten eines anderen Zugs. «Auch das noch!», echauffiert sich mein Sitznachbar, seine Nasenflügel vom theatralischen Ausschnaufen aufgeplustert wie die eines Stiers vor dem finalen Kampf. Ich werfe ihm einen bitterbösen Blick zu. Klar, man soll kurz mal fluchen dürfen, wenn man just an dem Tag Zug fährt, an dem einen die SBB nicht pünktlich nachhause bringen. Wie aber wärs, wenn wir das Schimpfen nächstes Mal wirklich auf ein Minimum begrenzen? Einmal kurz ausrufen und es dann wieder gut sein lassen? Und überhaupt: Was ist denn bitte eure Alternative, liebe Querulanten? Auto fahren? Na, dann viel Spass im Stau.

18.18 Uhr, der Zug rollt weiter. Meinen Anschlussbus um kurz nach sechs habe ich schon vor einer halben Stunde abgeschrieben, für den um 18.17 Uhr bestand leise Hoffnung. Die verfliegt, als wir in Baar einfahren und ich den Bus gerade noch davonbrausen sehe. Dennoch, liebe SBB: Ich möchte euch nicht missen. Nicht die meditativen Morgenstunden, die ich mit euch verbringe, nicht das freundliche Zugpersonal, nicht das hervorragend ausgebaute Schienennetz, nicht die Pünktlichkeit und – für den Fall, dass dann doch mal was schiefgeht – nicht euren Einsatz, mit dem ihr Störungen schnellstmöglich zu beheben versucht. Es bedarf zweifellos einer Menge Organisation, wie ihr nach einem Zugausfall in Windeseile Ersatzzüge und -busse organisiert, Reisende umleitet, informiert. Ob diese Effizienz wohl auch schon Inhalt einer Studie war? Vermutlich schon, und ihr habt im internationalen Vergleich bestimmt wieder gut abgeschnitten. Aber das recherchiere ich ein andermal. Wenn ich jetzt nicht aussteige, verpasse ich nämlich auch noch den Bus um halb sieben.

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