Eine Frau sieht Rot
- Text: Yvonne Eisenring; Illustration: Marcos Chin
Bekenntnisse einer Rothaarigen - Hexe, Pumuckl, Sexbombe: Unser Rotschopf Yvonne Eisenring begegnet den Vorurteilen mit Galgenhumor.
Wir schreien öfter, schluchzen lauter und weinen häufiger. Wir sind – sagen Wissenschafter – schmerzempfindlicher. Die Folge: Wir leiden, verglichen mit Andershaarigen, vermehrt unter einer Zahnarztphobie und gehen gemäss der zahnärztlichen Vereinigung der USA rund fünfzig Prozent seltener zum Zahnarzt. Doch das ist alles bald kein Problem mehr. Denn bald sind wir weg. Ausgestorben. Sind es bei den Blonden noch gut 200 Jahre, bleiben uns noch genau 90 Jahre. Das Ende zu verhindern oder hinauszuzögern, ist fast unmöglich. Denn ist unser Männlein blond, braun oder schwarzhaarig, ist sein Erbgut stärker als unseres, und schwupp sind die Kinder ebenfalls blond, braun oder schwarzhaarig. Wollen wir unsere rothaarigen Gene weitergeben, müssten wir uns entweder von Prinz Harry aus England, dem komischen Typen aus den Harry-Potter-Filmen oder Jan Bühlmann schwängern lassen. Letzterer hat eine rothaarige Mutter und somit ein unterdrücktes, verstecktes Rothaar-Gen, das bei der Erbgutweitergabe sein dominantes Braunhaar-Gen besiegen und uns kleine Rotschöpfe schenken könnte. Trifft der Konjunktiv nicht zu, haben wir Pech, und das Töchterchen oder Söhnchen sieht aus wie er. Aber sich für den Mister Schweiz zu entscheiden, könnte nicht nur wegen der Haarfarbe unserer Kinder ein Problem werden. Wie 46 Prozent aller Männer steht nämlich auch der schönste Mann der Schweiz auf Frauen mit blonden Haaren. Wir Rothaarigen gefallen laut der Studie eines Hamburger Forschungsinstituts gerade mal acht Prozent der befragten Männer. Wahrscheinlich stimmt die Studie. Sogar der beste Freund aus der Gymizeit antwortete auf die Frage, wie «sie» denn mal aussehen soll: «Hm. Also die Haarfarbe ist mir egal. Wirklich. Braun, blond, schwarz, alles okay. Nur rot, das ist jetzt nicht so meins.» Wir Rothaarigen sind dann kurz beleidigt, etwa ein Jahr später aber trotzdem seine Freundin. Für drei Monate. Dann macht er Schluss. Nicht wegen der Haare.
Später gibt er damit an, eine rothaarige Freundin gehabt zu haben. Denn wir rothaarigen Frauen haben mehr Sex. Besseren Sex. Wilderen Sex. Das hat der Hamburger Sexforscher Werner Habermehr herausgefunden. «Du bist bestimmt eine ganz Wilde im Bett», hören wir oft. Beleidigt sind wir wegen der plumpen Anmache nicht. Wir haben Verständnis. Denn laut Habermehrs Studie glauben Männer, «mit rothaarigen Frauen schneller im Bett landen zu können». Auch da können wir nur müde schmunzeln. Aberglaube ist für uns nichts Fremdes. Hätten wir ein paar Jahre früher gelebt, wären wir längst nicht mehr hier. Womöglich verbrannt worden. Rothaarige Frauen, das wusste jeder, sind gefährlich, sind böse, sind Hexen. Egal was wir machten, wir konnten uns noch so normal benehmen, wir landeten auf dem Scheiterhaufen. Das war bestimmt die Hölle. Zumal eine Studie der Universität Louisville herausfand, dass unser Heiss-kalt-Empfinden stärker ausgeprägt ist.
Im Gegensatz zum 16. Jahrhundert, wo wir als Hexen galten, ist Pumuckl, das Rüebli oder Pippi Langstrumpf reiner Pipifax. Lustig ist es trotzdem nicht, als Kind möchten wir, wie alle anderen, normal sein, dabei sein, dazu gehören. Was wir nicht können.
Wir – also ein Prozent aller Menschen – sind eine Minderheit. Durch die ständigen Hänseleien werden wir darum entweder zu frechen Gören (wir müssen uns ja ständig wehren), oder wir werden zu den beschützten Stummen, die eine blonde oder braunhaarige Freundin haben, die sich für uns wehrt. Doch egal wofür wir uns entscheiden. Wir schämen uns für unsere Haarfarbe. Und dann werden wir rot. Immer und sofort. Das Verflixte daran ist, dass wir nicht nur dann rot werden, wenn uns etwas peinlich ist. Wir erröten auch, wenn wir lachen müssen. Wenn wir uns sportlich betätigen. Wenn wir einen Vortrag halten. Leider legt sich das mit den Jahren nur minimal. Auch später, wenn wir zufällig einen Mann treffen, den wir vor Jahren vielleicht ansatzweise interessant fanden, der Kontakt dann aber, warum auch immer, abbrach und wir beinah vergessen haben, dass der Typ existiert. Auch dann werden wir rot wie eine Tomate. Wir merken es, denken, es ist doch gar nicht peinlich. Zu spät. Jetzt ist es peinlich. Und wir werden noch röter. Für uns ist das alles andere als süss oder sympathisch – wie so oft behauptet wird.
Wir wünschen uns dann, man würde uns nicht bemerken. Doch das geht nicht. Wir fallen auf. Immer. Schön für Mütter rothaariger Töchter. Die Tochter im Migros oder Zoo wiederzufinden, ist einfacher, wenn sie leuchtend rote Haare hat. Die Tochter aber, die kann sich nicht verstecken. Nicht vor der Mutter, nicht vor dem Lehrer und auch sonst nicht. Wenn wir in einem Job arbeiten, wo wir ab und zu gesehen werden, wie zum Beispiel beim Fernsehen, hören wir zwei-, dreimal pro Tag: «Sind Sie nicht, aber Sie sind doch, ja, ich hab Sie sofort erkannt, Sie fallen halt auf.» Das freut uns. Meistens jedenfalls. Weniger, wenn wir einen schlechten Tag erwischt haben, hundsmiserabel aussehen und unerkannt zum Coop schleichen wollen, um Schoggiglace zu kaufen. Dann wird das Schleichen zum Spiessrutenlauf. Spätestens bei der Kasse endet dieser abrupt. «Ach du meine Güte, sind Sie krank? Sie sehen so bleich aus.»
So sehr wir unsere Haarfarbe dann verfluchen, sie ändern, nein, das machen wir nicht. Würde auch nichts nützen. Rein medizinisch gesehen. Um narkotisiert zu werden, müssen wir mehr Betäubungsmittel einnehmen, damit es wirkt. Schuld daran ist irgendein mutiertes MC1R-Gen, das ein Protein produziert, das für unser Aussehen und eben auch für unser Schmerzempfinden verantwortlich ist. Damit wir während der Operation nicht plötzlich aufstehen, muss der Chirurg uns deshalb zwanzig Prozent mehr Anästhetika geben. Wir sind eitel. Auch wenn wir damit meist im Hintertreffen liegen: Bei Schönheitswahlen ist die Rothaarquote oft gleich null. Noch nie haben wir zum Beispiel das Miss-Schweiz-Krönchen geholt.
Aber irgendwann, wenn die Pumuckel-Zeit abgeflaut ist und die Männer anfangen zu glauben, wir seien Sexgöttinnen, irgendwann beginnen wir auf unsere Haare stolz zu sein. Und wenn dann Rothaarige auf uns fliegen, siehts mit dem Überleben unserer schützenswerten Art gar nicht so schlecht aus. Vielleicht sterben wir dann erst in 120 Jahren aus.