Eine Begegnung mit der Autorin Marisha Pessl
- Text: Sascha Verna; Foto: David Schulze
Endlich! Marisha Pessls zweiter grossartiger Roman ist da. Wir haben die raffinierte Autorin getroffen – und eine Frau kennen gelernt, die nicht halb so schlagfertig ist wie ihre Figuren.
Marisha Pessl trägt an ihrer rechten Hand einen Goldring mit einem von kleinen Diamanten umgebenen Opal. Der Ring hat ihrer Grossmutter gehört, die im Alter von 101 Jahren starb, als Marisha Pessl an «Die amerikanische Nacht» arbeitete. «Meine Grossmutter hat immer gesagt, alles, was von den Menschen bleibe, seien Geschichten», erzählt Marisha Pessl. «Das wurde beim Schreiben dieses Romans zu einer Art Leitsatz für mich.»
Es ist Samstagvormittag. Das chic-rustikale Café, das die 35-jährige Autorin für das Treffen vorgeschlagen hat, liegt unweit ihrer Wohnung an New Yorks gediegener Upper East Side. Während sich die Leute an den Nebentischen geräuschvoll durchs Brunchmenü spachteln, nippt Marisha Pessl an einem Cappuccino. Sorgfältig tupft sie sich den Milchschaum von der dünnen, zartrosa Oberlippe.
Debüt im Jahr 2006
«Das Erzählen von Geschichten ist meine Leidenschaft», sagt sie so eindringlich, als wäre sie die Erste, die diese Satz-Retorte serviert. Ihr Lidstrich ist leicht verrutscht und das häufige Lächeln ein bisschen mechanisch. «Die amerikanische Nacht» ist Marisha Pessls zweiter Roman. Ihr Debüt im Jahr 2006 war eine Sensation. «Die alltägliche Physik des Unglücks» wurde in über dreissig Sprachen übersetzt und von Kritik und Publikum weltweit gefeiert. In beiden Romanen geht es um frühreife Töchter und mysteriöse Väter. Beide Bücher sind schmökerdick und bieten eine bekömmliche Mischung aus Witz, Weisheit und Spannung.
Sogar mehr als das: «Die amerikanische Nacht» ist ein waschechter Psychothriller. Die Dialoge sind messerscharf und die Szenen so knapp und anschaulich, dass ein Drehbuchschreiber kaum etwas ändern muss, um den Stoff auf die Leinwand zu bringen. Kein Wunder, dass sich Hollywood die Filmrechte bereits gesichert hat. «Ich will meine Leser auf eine Reise ins Unbekannte entführen», sagt Marisha Pessl. Rätsel faszinieren sie seit je. Früher verschlang sie Krimis von Agatha Christie und Dashiell Hammett, dem Paten der hartgesottenen Detektive.
Die Wahrheit entwischt
Heute stellt sie sich existenzielle Fragen: Wieso tun wir, was wir tun? Wie werden wir zu dem, was wir sind? Was ist Wahrheit? Die Wahrheit entwischt den Akteuren in «Die amerikanische Nacht» immer wieder, dem Leser sowieso. «Manchmal tappte ich beim Schreiben selbst im Dunkeln», so Marisha Pessl. «Im Gegensatz zu meinem ersten Roman hatte ich keinen fertigen Plot.» Was sie hatte, waren die Inhalte von 15 fiktiven Filmen, eine fiktive Biografie und einen Horrorregisseur. Stanislas Cordova, so sein Name, taucht in «Die amerikanische Nacht» nur in den Erzählungen anderer auf. Dasselbe gilt für seine Tochter Ashley, die gleich zu Beginn des Buchs tot aufgefunden wird.
Der Icherzähler Scott McGrath, ein Journalist mit Pechsträhne, will mehr über die Hintergründe ihres Todes herausfinden und verstrickt sich immer tiefer in Cordovas düsteres Universum. Gerüchte um okkulte Praktiken locken McGrath auf das riesige Anwesen, auf dem der Regisseur zurückgezogen lebt – oder auch nicht. Ashleys Spuren führen ihn in eine Irrenanstalt, wo die junge Frau einige Wochen vor ihrem Tod verbrachte – oder auch nicht.
Wir konstruieren uns eine Welt
Es habe Spass gemacht, sich für die Dauer dieses Romans in den Kopf eines Mannes zu versetzen. «Einer meiner Freunde erklärte mir, McGrath brauche unbedingt einen Lieblingsdrink.» Scotch, das war Marisha Pessl sofort klar. Klar war ihr auch, dass sie Fakten mit Fiktion vermischen würde. «Die amerikanische Nacht» ist gespickt mit Fotos, Zeitungsausschnitten und Protokollen von geheimen Internetforen besessener Cordova-Fans. Erfundene Filmstars teilen sich die Oscar-Bühne mit solchen aus Fleisch und Blut. «Unsere Vorstellung von der Realität ist ohnehin eine Fantasie», davon ist Marisha Pessl überzeugt. Was wir sehen, hängt von dem ab, was wir glauben, sagt eine Figur im Roman. Die Autorin ist derselben Ansicht: «Wir konstruieren uns eine Welt, in der wir leben können, nicht die, in der wir leben.»
In «Die amerikanische Nacht» verschwimmen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Albtraum, zwischen Vernunft und Wahnsinn. Dann ist da noch die Sache mit den Vätern und den Töchtern. «Es ist reiner Zufall, dass ausgerechnet dieses Thema in meinen beiden Romanen eine Rolle spielt», wehrt Marisha Pessl ab. Tatsache ist, dass Marisha Pessl bei ihrer Mutter in North Carolina aufwuchs und ihren österreichischen Vater nur selten sah. «Ich hatte eine wunderbare Kindheit», versichert sie und ist wieder ganz Königin der Belanglosigkeiten.
Püppchenhaftigkeit und relativer Tiefsinn
Stets schwankt sie zwischen Püppchenhaftigkeit und relativem Tiefsinn. Eloquenz und Schlagfertigkeit scheinen ihren Protagonisten vorbehalten zu sein. Wo Fräulein Unbedarft die Raffinesse der Autorin verwahrt, bleibt ihr Geheimnis. Nach ihrem Literaturstudium arbeitete Marisha Pessl einige Jahre als Finanzberaterin für eine Firma an der Wall Street. Dort lernte sie ihren Mann kennen, von dem sie mittlerweile geschieden ist, und aus dieser Zeit stammen die meisten ihrer Bekannten. «Ich habe leider kaum Freunde, die auch literarisch tätig sind», sagt sie. Das ist erstaunlich in einer Stadt wie New York, in der sich die Glitterati praktisch auf die Zehen treten und dies bei offiziellen und inoffiziellen Anlässen auch gern tun.
Neulich fand allerdings eine Party statt, zu der auch Marisha Pessl eingeladen war. Ihre Lektorin feierte ihre Verlobung. Der legendäre E. L. Doctorow feierte mit. Der Autor von Klassikern wie «Ragtime» und «Billy Bathgate» ist fast dreimal so alt wie sie. Marisha Pessl strahlt zum ersten Mal richtig, als sie von diesem Treffen erzählt. Doctorow habe ihr drei Ratschläge gegeben: «Lies keine Kritiken. Mach nie eine Pause, sondern beginn nach Abschluss eines Buchs sofort mit dem nächsten. Und: Lass dich nicht entmutigen, auch wenn sich jedes neue Buch wie dein erstes anfühlt.»
Dass Schreibpausen keine gute Idee sind, hat Marisha Pessl schon gemerkt. Sie habe bereits mit ihrem dritten Roman angefangen und gedenke, sich durch nichts davon ablenken zu lassen, auch nicht durch die monatelange Lesereise, die für «Die amerikanische Nacht» geplant ist. «Ich habe dreieinhalb Jahre lang jeden Tag meine ganze Energie in diesen Roman gesteckt, aber was jetzt für mich zählt, ist mein nächstes Buch.» Wovon dieses handelt, verrät sie nicht. Stattdessen zitiert sie nochmals E. L. Doctorow: «Bevor er ging, drehte er sich zu mir um und sagte: ‹Ich weiss es, Mädchen, du wirst es schaffen.›» Daran zweifelt keine Sekunde, wer lesefiebrig und lustvoll «Die amerikanische Nacht» durchwacht hat.