Wie wirst du Feminist:in? Und wie bleibst du kämpferisch? Eine Anleitung von Autorin Salome Müller.
1. Beginne deinen Feminismus mit einem Gefühl. Sei es Irritation. Oder Wut. Oder Verzweiflung. Oder Angst.
2. Nenne dieses Gefühl: Erwartung. Lass die Erwartung in dir wühlen.
3. Mach etwas aus der Erwartung. So, wie es deine Vorkämpfer:innen getan haben.
4. Steig auf die Schultern deiner Vorkämpferinnen. Siehst du den Horizont?
5. Was siehst du? Präge es dir ein. Stelle dir vor, du seist auf einer Reise, die dich durch neue Landschaften führt. Schärfe deinen Blick. Streng dich an. Sieh weiter.
6. Siehst du Dinge, die es (noch) nicht gibt? Kannst du sie erahnen, erfinden? Entwirf eine Utopie. Nenne sie: Deinland.
7. Geh an diesen Ort.
8. Lass dich gehen. Erst wenn du dich gehen lässt, erfährst du, wie weit du kommst. Erst wenn du dich gehen lässt, erfährst du, dass du weit kommst.
9. Bleib da.
10. Spürst du, was mit dir geschieht? Spürst du, wie du dich weitest, öffnest? Sei durchlässig. Sei verletzlich. Schone dich nicht.
«Verwende deine Stimme. Sprich»
11. Stelle Fragen. Stelle infrage. Denk nach. Finde neue Worte. Baue die Sätze wie einen Turm. Lass den Turm in die Höhe wachsen. Richte dich daran auf und halte Ausschau.
12. Mach Aufruhr. Wühle die Welt damit auf.
13. Suche Gefährt:innen. Verbinde dich mit Arbeitskolleg:innen, Nachbar:innen, Bekannten, Fremden. Nimm so viele Menschen wie möglich mit in Deinland – so viele wie unmöglich.
14. Entgrenze Deinland.
15. Aufruhr gehört dir nicht allein. Du musst teilen, sonst verglüht der Aufruhr. Lern das.
16. Merke, dass Aufruhr immer auch Aufruf ist. Ein ständiges Rufen an die anderen. Ein Rufen an dich selbst.
17. Verwende deine Stimme. Sprich.
18. Sag: Ich.
19. Finde Menschen, die dich hören. Finde Menschen, die dich gehört haben wollen. Höre auch du.
20. Vergiss nicht, woher du kommst. Was vor dir war. Betreibe Ahninnenforschung. Finde heraus, wann und wie alles angefangen hat: Macht, Besitz, Abhängigkeit. Die Ordnung der Welt.
«Ziehe eine Linie zum Leben deiner Grossmutter, deiner Mutter, zu deinem Leben»
21. Lies Bücher von Frauen. Erkenne die Gemeinsamkeiten. Sieh, unter welchen Umständen sie gelebt haben: Aufopferung, Hingabe, Verzicht. Ohnmacht und Vergeudung. Schmerz, Furcht, Gewalt.
22. Ziehe eine Linie zum Leben deiner Grossmutter, deiner Mutter, zu deinem Leben. Verlängere die Linie zum Leben deiner Tochter, deiner Enkelin. Frage dich, was fortbestehen wird. Und warum.
23. Von nun an wirst du alles aus dieser Perspektive betrachten. Du wirst verstehen, dass gesellschaftliche Normen nichts anderes als Zwänge sind, die dein Leben festzurren. Wehre dich dagegen.
24. Brich alle Strukturen auf. Und auch du: brich auf.
25. Geh in dich. Mach Inventur. Tilge Wörter wie «schön» und «hässlich». Tilge alle Begriffe, die dich oder andere definieren. Denke sie nicht mehr.
26. Sei erfinderisch. Schaffe Neues. Lass Leerstellen zu.
27. Hab Hunger. Hab Lust auf mehr. Nimm Platz ein und verteidige ihn. Sei unersättlich.
28. Sag öfter: Nein. Entziehe dich. Verweigere dich der Pflicht. Und der Schuld.
29. Übe das Verlassen. Sieh es als fortwährendes Weiterschreiten. Als ständige Emanzipation. Lass hinter dir, was für dich keine Gültigkeit mehr hat. Lerne, zu gehen.
30. Lass dich von Vergeblichkeiten nicht beirren. Nicht von menschlicher Müh. Erkenne den Trotz. Das «Wider alle Umstände». Tu weiter.
«Denk daran: Du übertreibst nicht. Du bist nicht paranoid»
31. Nenne es: Mut.
32. Überlege, in welchen Momenten du Mut empfindest. Wann er dich verlässt. Wie du ihn wieder findest. Wiederhole das.
33. Mach Aufruhr. Halte es aus.
34. Stösst du an Grenzen? Erfährst du Widerspruch? Widerstand macht dich wachsam. Erwarte den Widerspruch, empfange ihn, umarme ihn.
35. Wenn du Aufruhr machst, wird dir Anerkennung entzogen werden. Tu weiter. Schick Anerkennung zum Teufel.
36. Verstehe, dass auf Mut zwangsläufig Kraftlosigkeit folgt. Dass dein Geist ermüdet, deine Seele leidet, dass du zweifelst. Akzeptiere das.
37. Wenn du ängstlich bist. Wenn du wütend bist. Denk daran: Du übertreibst nicht. Du bist nicht paranoid. Du bist nicht schwach. Lass dir nichts einreden.
38. Du hast bloss deine Situation erfasst. Du begreifst sie mit grosser Klarheit.
39. Ruh dich aus. Lass deinen Verstand rasten, dein Herz langsamer schlagen. Halte dich warm, iss. Wappne dich für die Weiterreise. Fürchte dich nicht.
40. Die Klarheit, die du erlangt hast, ist Weitsicht. Die Weitsicht ist dein Kompass. Siehst du das Ufer? Dort ist Deinland. Geh voran.
Die Anleitung ist inspiriert von Marlene Streeruwitz’ Romantheorie «Ankleben verboten!»
Quellen:
- Marlene Streeruwitz: «Ankleben verboten! Theorie der Romane»
- «Zwölf Zimmer für sich allein: Zwölf Schriftstellerinnen im Gespräch»
- Laurie Penny: «Sexuelle Revolution»
- Silvia Federici: «Caliban und die Hexe»
- Erika Burkart: «Am Fenster, wo die Nacht einbricht»