Eindrücklich: Fotoreporterin Doriam Morales dokumentiert das Verbrechen in Guatemala City
- Text: Ruedi LeutholdFotos: Doriam Morales
Doriam Morales ist Fotoreporterin in einer der gefährlichsten Städte der Welt: Guatemala City. Tagsüber dokumentiert sie den Albtraum – abends ist sie ihren beiden Kindern eine glückliche Mutter.
Sie steht jeden Morgen um vier Uhr auf, geht ins Bad, reinigt danach ihre Nikon D 100, eine digitale Spiegelreflexkamera, die sie leihweise von der Zeitung erhalten hat, leider ohne Superweitwinkel. Ihre eigene Kamera wurde ihr gestohlen, aber das ist nur der kleinste Verlust, den sie in den letzten zwei Jahren erlitten hat. Immerhin kann sie arbeiten, und fast jeden Tag erscheint im «Periódico», einer von acht Zeitungen in Guatemala City, ein Bild mit ihrer Signatur: Doriam Morales. Davon hat sie immer geträumt. Und dafür hat sie lange gekämpft.
Doriam Morales (30) steht gern früh auf. So hat sie zwei Stunden, die ihr ganz allein gehören, bevor die Kinder wach sind. An ihre Träume erinnert sie sich selten. Es ist ohnehin der Tag, der die Albträume beschert. Aber auch das grösste Glück. Ihr Glück ist das Fotografieren. Der Vater, ein strenger Buchhalter, hatte es ihr verboten. Die Mutter weinte, als ihre Tochter nicht von der Verrücktheit abzubringen war. Sie hatte ihr das Geld gegeben, um eine erste Kamera zu kaufen, eine Zenith E aus der Sowjetunion.
Mit einer alten Nikon N 70, noch mit Filmrollen ausgestattet, absolvierte sie einen einmonatigen Fotokurs. Mit zwanzig heiratete sie, vielleicht vor allem, denkt Doriam Morales heute, um dem familiären Regime zu entkommen. Die Ehe scheiterte, sie hatte ein Kind, wohnte wieder bei den Eltern, es war Weihnachten 2002, im Fernsehen liefen die Bilder von einem Gefängnisaufstand. Doriam Morales sah die wütenden Gefangenen, die anrückenden Polizisten und mittendrin die Fotografen und Kameraleute. Da will ich hin, sagte sie, und nicht in die väterliche Buchhalterei. Das ist nichts für Frauen, flehte die Mutter, der Vater tobte, sie klopfte die Redaktionen ab, und bei der grössten Räuberpostille des Landes, «Siglo 21», Sex & Crime in Grossbuchstaben und Nahaufnahmen, bekam sie eine Praktikumsstelle. Sehr gut, lobte man sie nach drei Monaten, aber den Job bekam sie nicht. Zu gefährlich für Frauen, hiess es. Nach diesem Bescheid kam sie jeden Morgen um 8 Uhr in die Redaktion, blieb dort bis 24 Uhr, wartete darauf einzuspringen, falls keiner der angestellten Fotografen zur Stelle war.
Nicht die Nacht, der Tag beschert ihr die Albträume
Nachdem sie vier Monate auf diese Weise Frondienst verrichtet hatte, erhielt sie die Stelle, und seither vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht mit der Gewalt konfrontiert ist, die Guatemala City zu einem der gefährlichsten Orte auf diesem Planeten macht.
Dass ihr die Kamera abhandenkam, verdankte sie einer Unaufmerksamkeit. Jedes Kind weiss, dass in der Stadt täglich mindestens hundert Handys gestohlen werden. Es war ein Montagmittag, sie sass in ihrem Auto, einem alten Toyota Echo, und wartete auf grünes Licht, als sie bemerkte, dass das Fenster auf der Beifahrerseite geöffnet war. Rasch wollte sie es schliessen, da hatte sie auch schon ein Messer an der Kehle. «Ich zähle bis drei», sagte der Räuber, «und dann habe ich dein Handy.» Sie suchte zitternd in der Tasche, der Mann beugte sich vor, um das Messer fester an ihren Hals zu drücken, und dabei fiel sein Blick auf die Kamera, die sie wie immer auf den Fussboden gelegt hatte. Er zählte wieder bis drei.
Das geschah ein Jahr nach dem Mord an ihrem Mann und kurz bevor ihr Vater umgebracht wurde. Einige Nächte lang schlief Doriam Morales schlecht. Die Kamera war nicht versichert gewesen. Sie hatte 1100 Franken gekostet. Mit ihrer Arbeit verdient sie 640 Franken monatlich. Die Zeitung lieh ihr eine Ersatzkamera, einem männlichen Kollegen allerdings kaufte die Redaktion sofort eine neue Kamera. Aber irgendwann ist Doriam Morales zur Einsicht gekommen, dass es für sie gesünder ist, derartige Geschehnisse nicht unter dem Stichwort Benachteiligung abzulegen. Es gibt einfach zu viele davonin diesem Land, in dem ein eingefleischter Machismo die Kultur der Gewalt fördert. Lieber denkt sie an «Hindernisse», die es als Frau täglich zu überwinden gilt. Noch besser an «Ziele», die sie zusammen mit anderen Frauen erreichen will, und mit dieser Einstellung im Kopf beginnt sie jeden Tag mit einem guten Gefühl.
Um sechs Uhr weckt sie die Kinder, Diego (10) und Sofia (5). Dann hat sie das Mittagessen, das die Grossmutter ihnen servieren wird, schon vorbereitet.
Die langen Fingernägel signalisieren: weiblich und wehrhaft
Für die Augen den Eyeliner, für die Lippen etwas Glanz, aber keine Farbe. Die sind, denkt sie, eh schon dick genug, und alles Weitere wäre eine Übertreibung. Die Haare zurückgebunden, die Bluse nicht bis oben zugeknöpft, enge Jeans, bequeme Turnschuhe, so fühlt sie sich sexy, auf ihre Weise, wenn sie zur Arbeit geht. Und lange Fingernägel trägt Doriam Morales, das ist ihr doppeldeutiges Signal an die Kollegen. Weiblich und wehrhaft.
Arbeit heisst: ein Tag Armut, ein Tag Gewalt, ein Tag Gericht, ein Tag Präsidentenpalast. Seit vier Jahren arbeitet sie nun bei einer Zeitung, die sich sowohl für die alltäglichen Tragödien als auch für wirtschaftliche und politische Themen interessiert. Jetzt gibt es manchmal Tage, an denen sie keine Leichen fotografieren muss.
Um halb acht verlässt sie ihr Haus. Es liegt an der nördlichen Ausfallstrasse der Stadt in einem Viertel, das zur roten Zone zählt. Drogen und bewaffnete Banden. Jeden Morgen, wenn sie die beiden Portale öffnet, die ihr Haus abschliessen, ein Gittertor, ein Eisentor, hat sie ein mulmiges Gefühl. Das verschwindet, wenn sie arbeitet, und kehrt zurück, wenn sie die Tore abends wieder öffnet.
Ihren ersten Toten sah sie, als sie acht war
Sie wohnten an einem anderen Ort, mitten in der Stadt, und zum ersten Mal durfte eine Schulfreundin bei ihr übernachten. Sie hörten Schreie, sie hörten die Ambulanz, draussen war ein Mann erstochen worden, an der Eingangstür klebte Blut. Sie erinnert sich daran, weil die Freundin nachher nie mehr zu Besuch kam. Ihren ersten Toten fotografierte sie als Praktikantin. Das Adrenalin, hat sie festgestellt, hilft. Die Konkurrenz drängt vor, die Polizei stellt sich in den Weg. Da helfen Ruhe und strenge Konzentration. Gefühle stellen sich keine ein. Oder erst später.
Sie sind sieben Fotografen in der Redaktion, Doriam Morales ist die einzige Frau. «Wieso bist du nicht zuhause und wäschst die Teller?», wollte einer wissen, als er sie zum ersten Mal sah. «Soll das ein Witz sein?», fragte sie zurück. «Nein», antwortete er.
Ein Chauffeur, Pistole im Handschuhfach, fährt die Journalistentruppe zu ihren Einsatzorten in der Innenstadt. Eine Kriegsexpedition. Doriam Morales, 157 cm gross, 55 kg schwer, teilt sich den Vordersitz mit Gato triste, dem traurigen Kater. Radio Sonora läuft. Dort erfahren die Fotoreporter, wo es Überfälle und Tote gibt. Alfonso, «das Monster», erzählt von einem Gefängnisaufstand, bei dem die Insassen fünf rivalisierenden Bandenmitgliedern den Kopf abschnitten. Er hatte das Bild, aber nicht einmal die blutrünstigsten Zeitungen des Landes wagten, es zu veröffentlichen.
Dann witzeln die Männer über ihre «zweiteFront» und darüber, wer schon eine aufgetan habe und wer nicht. «Die zweite Front» ist ihr Ausdruck für die Geliebte. Doriam Morales schweigt und denkt an den AP-Fotografen Emilio Morenatti, der in Afghanistan durch eine Bombe seinen Fuss verlor und jetzt wieder fotografiert. Sie liebt seine Bilder. Sie liebt die Bilder von Annie Leibovitz. Sie denkt daran, wie viel sie noch lernen muss. Schliesslich sitzt sie allein im Auto, wird durch die rechtwinklig angelegte Stadt gefahren, kaum Hochhäuser, ursprünglich von den Mayas gegründet, jetzt eine Agglomeration mit über 2.5 Millionen Einwohnern, von denen jeder tausendste ermordet werden wird.
Das Auto hält in Petapa, einer Gemeinde im Süden der Stadt, vor einer armseligen Hütte aus Stein und Blech. Vierzig Prozent der Bevölkerung des Landes haben täglich weniger als zwei Dollar zur Verfügung, zwanzig Prozent sogar weniger als einen Dollar, und fallen damit in die Kategorie der extremen Armut. Dazu gehört Doña Blanca (46), elf eigene Kinder, das jüngste vier. Die älteste Tochter, nach einem Erdrutsch gestorben, hat ihr sechs Kinder zwischen ein und elf Jahren hinterlassen. Um zu überleben, hatte sie begonnen, vor ihrer Baracke selbst gemachte Tortillas zu verkaufen, und dann, so erzählt sie, haben die Jungs begonnen, ihr Ärger zu machen.
«Die Maras?», fragt Doriam Morales.
Doña Blanca nickt, und Doriam Morales reimt sich das ganze Elend zusammen. Eine Bande von jugendlichen Kriminellen hat versucht, von der Frau Schutzgeld zu erpressen. Vielleicht wurden die Burschen auch von anderen Frauen vorgeschickt, um die Konkurrenz zu vertreiben. Doriam Morales weiss, wer die Maras sind. Ihr schlimmstes berufliches Erlebnis hat sie ihnen zu verdanken.
Sie schaut sich um, redet mit den Kindern, beginnt sie zu fotografieren. Zerschlissene Wäsche hängt zum Trocknen. Eine einzige Hauswand besteht aus Backsteinen, die anderen aus Blech. Es hat ein Küchenmöbel, zwei Holzgestelle, mit Vorhängen geschützt, zwei Betten, eine nackte Glühbirne. An der Wand hängen Doña Blancas Sonntagsschuhe. Es ist dunkel, Doriam Morales verzichtet auf den Blitz. Sie ist der Ansicht, der Blitz töte die Stimmung. Wenn sie fotografiert, sucht sie immer einen Augenblick der Freude, der Intensität. Das ist ihr Ziel, und wenn es etwas gibt, was sie mit ihren Bildern weitergeben möchte, dann ist es das: dass immer ein Funken Hoffnung bleibt.
Doriam Morales’ Mann wurde ermordet
Wann sie, nach ihrer eigenen Tragödie, selber wieder ein Licht sah, kann sie nicht mehr sagen. Sie hatte ihren zweiten Mann, Abel Girón Morales, bei der Arbeit kennen gelernt, er war Grafiker und gestaltete die Zeitungsseiten. 2005 kam die Tochter zur Welt. Am 21. Oktober 2008 wurde er von einem fahrenden Pick-up aus mit einer Jagdarmbrust erschossen. Reporterorganisationen spekulierten, ob der Mord eine Warnung war an den Verleger, der durch investigativen Journalismus Fälle von Korruption zwischen Behörden und Drogenmafia aufgedeckt hatte. Seit einiger Zeit nützen mexikanische Drogenkartelle Guatemala als Stützpunkt auf dem Weg zwischen Kolumbien und den USA.
Der Fall ist bis heute nicht geklärt. Doriam Morales weiss nicht einmal mehr den Wochentag, an dem sie ihren Mann verlor. Sie will ihn auch nicht wissen. Eine Psychotherapie, bezahlt von einer privaten Organisation, half ihr, die Orientierung wiederzufinden. Vorwärts, in die Zukunft. Es hilft nichts, Vergangenem nachzutrauern. Das Leben geht weiter, sagt sie, und die Kinder haben das Recht auf eine glückliche Mutter.
Dann lächelt Doriam Morales, und in ihrem Lächeln ist etwas wie Schmerz, vielleicht auch nur Skepsis gegenüber den eigenen Worten.
Sie sucht nach dem Detail, das zeigt: Das Leben geht weiter
Das Büro für Menschenrechte des Erzbischofs orientiert über eine Studie zur Gewalt in Guatemala, und Doriam Morales soll jetzt die Pressekonferenz fotografieren. Zwischen 1960 und 1996 herrschte in Guatemala Bürgerkrieg, und die Studie besagt, dass es im Land heute fast ebenso viele Gewaltopfer zu beklagen gibt wie während der Kriegsjahre. Eine Umfrage zeigt, dass zehn Prozent der Befragten in den letzten sechs Monaten selber zum Opfer einer Gewalttat wurden. Doriam Morales knipst schnell einige Bilder, dann macht sie sich auf den Weg in die Redaktion. Was sie hier zu hören bekommt, weiss sie längst.
Ein Bild, das sich ihr eingeprägt hat und das manchmal zurückkehrt in der Nacht: ein zwölfjähriger Bub, erhängt in einer Hütte. Kein Selbstmord. Keine amtliche Untersuchung. Die Gründe für all diesen Schrecken glaubt Doriam Morales in der Geschichte zu erkennen. Die ursprünglichen Bewohner des Landes, die Mayas, kannten keinen Privatbesitz. Ihre ganze soziale und religiöse Struktur beruhte auf dem Anbau von Mais – «die Menschen aus Mais», von denen der guatemaltekische Nobelpreisträger Miguel Ángel Asturias schrieb. Im 19. Jahrhundert forcierten liberale Regierungen die Immigration europäischer Siedler, die den Kaffeehandel in Schwung bringen sollten. Sie nahmen den Eingeborenen immer mehr Land weg. Mit einem Umsturz, an dem der schweizstämmige Jacobo Arbenz beteiligt war, begann 1944 ein demokratischer Frühling mit freien Wahlen, einer neuen Verfassung und einer Landreform, welche die Maya-Gemeinden begünstigte und ihnen ihr Land sicherte.
Diese Reform brach dem gewählten Präsidenten Arbenz das Genick. Die CIA denunzierte ihn als Kommunisten, Präsident Eisenhower befahl den Putsch. Im anschliessenden Bürgerkrieg waren die meisten Opfer arme Indios, die um ihr Land kämpften und vom Militär umgebracht wurden. Nach dem Krieg blieb ein zerrissenes Land zurück, eine entwurzelte Urbevölkerung, viel Armut, eine egoistische Oligarchie, ein schwacher Staat, der unfähig ist, das erste Bürgerrecht durchzusetzen: das Recht auf Leben.
Den nächsten Tag verbringt Doriam Morales in einem mächtigen Turm im Stadtinnern, Sitz der Gerichte. Die Redaktion ist an drei Prozessen interessiert, von denen sie Bilder heimbringen soll. Beim einen geht es um den Mord an drei Abgeordneten des Nachbarlands El Salvador, die in Guatemala zu Besuch waren. Die vier Polizisten, die der Tat beschuldigt waren, wurden im Gefängnis ebenfalls umgebracht.
Dann wird gegen einen Polizeikommissar verhandelt, der beschuldigt wird, einen überführten Räuber laufen gelassen zu haben. Schliesslich stehen fünf Angehörige einer Mara-Bande vor Gericht, Perica, Slow, Black, Smiling und Flory. Sie haben eine Frau vergewaltigt und anschliessend, samt ihren vier Kindern, die Zeugen waren, umgebracht.
Ihr schlimmster Tag als Fotografin
Doriam Morales erinnert sich an einen Marero, ein Bandenmitglied, namens Smurf, ihre schlimmste Erfahrung als Fotografin. Smurf war am ganzen Körper tätowiert. Jeder Totenschädelam Ellbogen, jede Träne am Hals ein Mord. Er war in Handschellen gefesselt und wurde von Polizisten begleitet. Sie hob ihren Fotoapparat, er sah ihr drohend ins Gesicht, sie wollte abdrücken, nichts passierte, ihr Herz raste, der Gefangene grinste sie an, und sie fühlte von diesem Mann so viel Bösartigkeit ausgehen, so viel mörderische Energie, dass sie überzeugt war, der Auslöser funktionierte deswegen nicht. Nach ein paar Sekunden eines ungekannten Schreckens gelang es ihr doch noch, das Bild zu machen.
Die Maras waren ursprünglich Jugendbanden in Los Angeles, die sich aus illegalen zentralamerikanischen Immigranten rekrutierten. Viele ihrer Mitglieder wurden zurückgeschafft, Kinder eines verlorenen Kriegs, heimatlose Desperados, die sich ihre eigenen grausamen Gesetze schufen und in den Armenvierteln ihrer Herkunftsländer eine Herrschaft des Terrors errichteten.
Der Prozess gegen die Mareros ist verschoben, da zwei von ihnen auf der Fahrt zum Gericht einen Fluchtversuch unternommen und sich dabei verletzt haben. Aufregung im fünften Stock, die Befragung des angeklagten Polizeikommissars ist zu Ende, eine Meute von zwanzig Fotografen und Kameraleuten stürzt sich in das kleine Zimmer. Doriam Morales hat die Ellbogen der Kollegen, mit denen sie sich eben noch freundlich unterhalten hat, in der Seite. Sie zieht sich auf den Korridor zurück, wo der Beschuldigte nun auftaucht, die Arme schützend vor dem Gesicht. Sie geht ihm die Treppe voraus, im Vorbeigehen versucht er, sie zu schlagen, aber sie hat das Bild, das keiner sonst hat: der Abstieg des Polizeikommissars.
Reines Adrenalin, sagt sie. Vielleicht sollte es nicht so sein, aber es ist so: Aufregung ist ein Teil der Arbeit und ein Teil des Glücks, das sie bedeutet.
In Guatemala City hat die Gewalt ihren eigenen Biorhythmus
Und dann ist Freitag. Doriam Morales hat Pikettdienst, und mindestens eines der statistisch zu erwartenden sechs, sieben Mordopfer wird ihr zufallen. Aber in dieser Stadt, so hat sie die Erfahrung gemacht, hat die Gewalt ihren eigenen Biorhythmus. Die meisten Überfälle auf Banken und Busse finden morgens statt, kaum nachmittags. Am Freitag wird selten gemordet, ausser am Monatsende, nach dem Zahltag, da verdoppelt sich die Rate.
Aber dann, Mittag schon vorbei, meldet Radio Sonora einen Überfall in einem Bus in der Avenida Castellana, eine Person erschossen, vermutlich der Dieb. Doriam Morales’ Chauffeur kämpft sich seinen Weg durch den dichten Verkehr. Die Fotografin kontrolliert ihre Ausrüstung. Als sie ankommen, ist der Leichnam schon weg. Zivile und uniformierte Polizisten stehen um den von Schüssen gezeichneten Bus der Linie 12 herum. Doriam Morales fotografiert.
Tote, sagt sie, interessieren mich eh nicht. Ich knipse sie, um das Bild zu haben. Aber danach interessiert mich viel mehr die Umgebung, die Reaktion der Menschen, der Schrecken in den Augen der Zeugen, ein Detail, das zeigt, dass das Leben weitergeht.
Abends um acht ist sie zuhause, öffnet die Tore, die zu ihrem Haus führen, wieder mit einem mulmigen Gefühl im Bauch.
Während ihr Vater diese Tore öffnete, Ruta Atlantica, Casa 2, Zona 17, wurde er erschossen, ein Jahr ist es her. Tage zuvor hatte er ihre Kinder von der Schule abgeholt, sie sassen im Auto, zwei Mareros verlangten Geld, er holte die Pistole hervor, die er immer bei sich trug, und hiess die Burschen verschwinden. «Das wirst du büssen», sagten sie, und zwei Tage später fanden sie den Vater erschossen vor dem Haus, das Geld und die Pistole weg.
Mulmiges Gefühl beim Heimkommen
Jetzt wohnt Doriam Morales mit den Kindern wieder im elterlichen Haus, versucht, ihrer traurigen Mutter Mut zu machen, so, wie sie ihren eigenen Kindern immer wieder zuredet: Danken wir den Toten. Habt Dank für alles, was sie für uns getan haben. Aber jetzt schauen wir für uns selber. Fort mit der Traurigkeit. Das Leben liegt vor uns, und niemand hat etwas davon, wenn wir der Vergangenheit nachtrauern.
Manchmal hat sie Angst, ihr Denken sei vielleicht kalt und herzlos. Auch weint sie nicht.
Einmal fotografierte sie einen Dieb, der im Bus von einem Polizisten erschossen worden war, Passanten hatten die Leiche auf die Strasse geschleppt, und am andern Tag wurde Doriam Morales’ Bild des Verbrechers veröffentlicht, samt Namen des Toten. Dessen Familie protestierte, Doriam Morales recherchierte, der Junge war ein Student gewesen, hatte eine Seite auf Facebook. Der Polizist hatte ihn aufgrund seiner Kleidung für einen Dieb gehalten und erschossen; ein Missverständnis.
Danach konnte sie einige Tage nicht schlafen. Aber geweint hat sie nicht.
Doriam Morales weint nur im Kino, meistens, wenn eine Ungerechtigkeit passiert, meistens, wenn Kinder betroffen sind. Dann weint sie lange und ausgiebig, und das findet sie etwas seltsam. Sie lächelt, und in ihrem Lächeln ist so etwas wie Schmerz, vielleicht auch nur Skepsis gegenüber den eigenen Worten.
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