Unsere Autorin hielt Veganer für Öko-Fundis. Dennoch wagte sie den kulinarischen Selbstversuch – für eine Woche. Für zwei, für drei, für vier …
An einem Wintermorgen in einem Supermarkt sah ich mein Spiegelbild in der Fensterscheibe und begriff, dass ich beim Anziehen etwas Entscheidendes vergessen hatte. Vor dem Fenster wehte der Wind den Schnee auf. Die Flocken sahen aus wie Federn. Ich öffnete den Reissverschluss meines Parkas, weil meine Wangen zu glühen begannen. Nicht vor Wärme. Vor Scham. Dass er mit Daunen gefüttert war, sah man nur, wenn sich ein einzelner Federkiel durch eine der Nähte ins Freie zwängte. Aber ich hatte vergessen, die Kapuze abzumachen. Ich trug unübersehbar Pelz. In einem Supermarkt für Veganer. Ich bin kein Veganer. Laut dem Duden ist das «jemand, der aus ethischen Gründen jegliche Nutzung von Tieren und tierischen Produkten ablehnt». Die Fundis unter den Veganern tragen Schuhe aus recycelten Autopneus und Baumwollpullover. Sie lieben sich mit veganen Kondomen, schminken sich mit tierfreiem Lippenstift, und manche füttern ihre Hunde mit Sojaschnitzeln. Verglichen mit solchen Überzeugungstätern bin ich ein Realo: Ich habe lediglich meine Ernährung umgestellt. Statt mit Kuh- mache ich mir meinen Morgenkaffee mit Sojamilch. Beim Bäcker wähle ich das Brot, das ohne Ei gebacken wurde. Zuhause streiche ich dann Margarine darauf oder Oliventapenade, belege es mit grilliertem Gemüse, Kräuterpasteten oder Tofu. Die Kantine kann mir nichts mehr bieten. Dreimal habe ich mich mittags in die Schlange gestellt – nur, um mir an der Ausgabe einen ratlosen Blick abzuholen. Vegetarisch? Ja. Vegan? Nein. Dafür kochen mein Mann und ich nun abends mit uns oft fremden Zutaten wie Hirse, Quinoa, Nussmus und Amaranth. Und mit solchen, die wir früher nicht angefasst hätten: Sojabohnenkäse zum Beispiel, um den Taleggio in der Polenta (annähernd) zu ersetzen.
Dabei hatte ich gar nicht vor, mein Leben zu ändern. Ich wollte lediglich ausprobieren, wie das ist, wenn man sich ausschliesslich von Pflanzen ernährt. Aus Sportsgeist. So, wie ich das Tauchen ausprobiert habe oder das Klettern. Eine Woche, das hatten mein Mann und ich vereinbart, wollten wir auf Fleisch, Eier, Milch und sämtliche daraus hergestellten Produkte verzichten: auf den Parmesan im Risotto, Gipfeli mit Butter, Honig und Rahmglace. Danach würden wir Kriegsrat halten und über die nächste Woche entscheiden.
Öko-Terroristen
Das war im Februar. Vor den Nachrichten über Pferdefleisch in der Lasagne und falsch deklarierte Bio-Eier. Als diese Lebensmittelskandale Schlagzeilen machten, betrafen sie mich schon nicht mehr. Ich war raus aus der Verantwortung und konnte die Berichte darüber lesen, ohne mich zu ekeln oder mich betrogen zu fühlen. Pferd, Schwein, Hund oder Meerschweinchen – was auch immer die Lebensmittelhersteller eingedost oder eingefroren hatten, landete sicher nicht auf meinem Teller. Dafür ärgerte ich mich über meine Yoga-Lehrerin, die mir das Rezept für ihren veganen Mohn-Zitronen-Kuchen nicht verraten wollte, den sie im Studio verkaufte. «Betriebsgeheimnis», sagte sie. Dabei fehlte mir nur die Süsse im Leben: Kinderschokolade, Gummibärchen, Toffifee. Nach der ersten Woche unseres Ernährungsexperiments hatte ich Gewicht verloren und fühlte mich dünnhäutig.
«Dafür, dass das deine Idee war, bist du ganz schön genervt», sagte mein Mann dann auch bei unserem ersten Ausflug in den Veganer-Supermarkt, bevor er sich in Richtung des Kühlregals wegdrehte, um nach dem Seidentofu zu suchen. Ich schwitzte in meinen Parka, aus Angst, einer der anderen Kunden könnte mit auf mich gerichtetem Finger «Mörder!» rufen. Das hätte in mein Bild gepasst, das ich von Veganern hatte. Ich hielt die meisten für aggressiv. Für Öko-Terroristen, die für ihre Überzeugungen dorthin gingen, wo es richtig wehtat – und die keine Skrupel hatten, jedem, der anders lebte, wehzutun. Selbst als ich mich vegetarisch ernährte, zwischen meinem 14. und 27. Lebensjahr, schien mir Veganismus zu extrem. Als ungesunde Askese, die zwar das Gewissen reiner, aber den Alltag und die Haut grauer machte.
«Es ist Brot. Was wird da ausser Mehl und Hefe schon drin sein?»
Zumal mir in den Jugendjahren allein schon der Fleischverzicht schwerfiel. Ich bin ein Wurstkind. Als ich klein war, stellte meine Mutter zum Frühstück Mettwurst auf den Tisch und zum Abendessen Salami. Im Metzgerladen hielt mir die Verkäuferin immer ein Redli Lyoner hin, und ich ass es, ohne auch nur an Brot zu denken. Dass die Hasen unseres Nachbarn an Weihnachten ein unverhofftes Bad in dunkler Sauce nahmen und die Lämmchen nur so lange über die Weide sprangen, bis jemand sie zum Osterbraten verarbeitete, stellte ich als Kind nicht infrage. Erst mit der Pubertät begann ich darüber nachzudenken, ob das, was meine Familie ass, auch das war, was ich essen wollte. Ich wurde Vegetarier. Den Tieren zuliebe, aber auch um mich abzugrenzen.
Sich heute vegan zu ernähren, fühlt sich fast genauso an wie damals der Fleischverzicht. In den Achtzigerjahren beschränkte sich das vegetarische Angebot in Restaurants noch auf die Beilagen. Die Zutaten für die fleischarme indische oder thailändische Küche bekam man mit Glück in der Grossstadt, mit Sicherheit aber nur in Indien und Thailand.
Heute lebe ich in einem Stadtteil, in dem es unter anderem zwei Wochenmärkte und mehrere asiatische Lebensmittelhändler gibt. Für den Einkauf muss ich jetzt trotzdem mehr Zeit einplanen, weil die meisten Läden ihre veganen Lebensmittel zwischen den nicht veganen verstecken. Ich lese also das Kleingedruckte auf den Verpackungen. «Es ist Brot. Was wird da ausser Mehl und Hefe schon drin sein?», fragte mein Mann anfangs noch ungeduldig. «Enthält Milch, Ei, Soja, Schalenfrüchte, Säureregulator E263, Weizenkleber und Apfelmus.» Wenn ich noch eine Weile vegan bleibe, kann ich mit meinem Wissen über Inhaltsstoffe bei «Wetten, dass …» auftreten.
Warum vegan?
«Und in Pommes Chips ist Milch!», empörte sich neulich abends ein Freund, der länger als geplant im Supermarkt verbracht hatte, weil er unbedingt etwas Veganes zum Knabbern mitbringen wollte. Unsere Freunde nehmen unser Experiment nämlich sportlich. Obwohl ich jedes Mal, wenn ich zum Essen eingeladen werde, betone: «Ich bin flexigan», gibt es meist etwas, das ich auch selbst kochen würde. Das ist mir ein wenig unangenehm. Ja, wir haben ein Käse-Embargo über unseren Kühlschrank verhängt. Aber mir liegt wirklich nicht daran, dieses auf die Wohnungen anderer Menschen auszuweiten. Dennoch sind Freunde und Kollegen bemüht, sich den neuen Umständen anzupassen. Manchmal mehr, als mir lieb ist. Dann sehen mich alle am Tisch interessiert an, und ich muss Antworten auf Fragen finden, die den Frager zufriedenstellen, aber keinen der Anwesenden vor den Kopf stossen. Mit «Riechen Veganer besser?» und «Merkst du eine Veränderung?» ist das einfach. Meine Freunde dürfen jederzeit an mir Probe riechen, und abgesehen von meinem Gewicht ist alles wie immer. Auf «Ist Frankendas nicht ungesund?» findet sich meist jemand, der mir mit «Sie sieht doch total erholt aus» zur Seite springt, bevor ich über Nahrungsergänzungsmittel, Vitamin B 12 und Eisen dozieren muss. Gerade die einfachste aller Fragen bereitet mir jedoch Probleme: «Warum?»
Ich war doch immer stolz, wenn jemand meine Lasagne lobte oder um das Rezept für meinen Käsekuchen bat. Warum also dieser kulinarische Selbstversuch? Die bequeme Antwort: Weil ich wissen wollte, ob ich das kann. Ob es mir so leichtfällt wie das Tauchen, oder ob ich wie beim Klettern nach kurzer Strecke aufgeben muss. Es gibt aber noch einen anderen Grund. Einen, den niemand gern hören will, nicht mal ich. Weil er, wenn man ihn laut ausspricht, mit Konsequenzen verbunden ist: Ich will kein Mensch sein, der andere Lebewesen benutzt, als wären sie Maschinen. Bevor ich mit solchen Aussagen das Tischgespräch ins Stocken bringe, erzähle ich lieber von meinem Abenteuer im Veganer-Supermarkt. Von den knusprigen Nussgipfeln und würzigen Tofuschnitten, die man dort kaufen kann. Oder vom köstlichen Mohnkuchen meiner Yoga-Lehrerin. Ich habe fest vor, ihr das Rezept zu entlocken. Und dann werde ich es, auf Handzettel gedruckt, vor den Supermärkten in der ganzen Stadt verteilen. Damit die Nichtveganer erfahren, was ihnen entgeht.
Fleischeslust
Fleischeslust Ungeachtet der regelmässig ausgerufenen Vegetarier-Revolution ist Fleisch in der Schweiz heiss begehrt. Der Pro-Kopf-Konsum hat 2012 zwar um 3.4 Prozent abgenommen. Proviande, die Branchenorganisation der Schweizer Fleischwirtschaft, sieht die Gründe dafür in der Wirtschaft, in Restaurants wurde weniger Fleisch gegessen, zuhause aber mehr. Durchschnittlich hat jede Person in der Schweiz 51.7 Kilogramm Fleisch verzehrt – fast ein Kilogramm pro Woche. Die Zahl der Vegetarier bewegt sich auf tiefem Niveau: Laut Bundesamt für Statistik waren es gerademal 2.7 Prozent (2007). Der am häufigsten genannte Grund, sich vegetarisch zu ernähren, ist laut Proviande die negative Einstellung zur Tierhaltung. Überdurchschnittlich gut vertreten sind mit 8.7 Prozent die 15- bis 29-Jährigen. Weniger entscheidend ist das Geschlecht: 5.7 Prozent der Schweizer Frauen und 4.5 Prozent der Männer essen kein Fleisch. Verschwindend klein und statistisch kaum zu erfassen ist die Zahl derjenigen, die als Veganer auf tierische Produkte verzichten, also auch auf Leder, Wolle, Seide, Milch- und Eierprodukte oder Honig. Eine Studie von Coop spricht von 0.3 Prozent der Bevölkerung.
Infos zu gesunder Ernährung,veganen Läden in der Schweiz,geführten Shoppingtourenund auch einPodcast finden sich auf der Site der Veganen Gesellschaft Schweiz:
— www.vegan.ch
Rezensionen zu Kochbüchern,Produkten und natürlich Rezepte sowie Meinungen:
— www.eat-this.org
Kluge Tipps und köstliche Rezepte rund ums vegane Leben:
— totallyveg.blogspot.de
1.
Fünf Kochbücher zeigen die köstlichen Seiten der pflanzlichen Küche:
Für Einsteiger
Das wunderbare Kochbuch «Genussvoll vegetarisch» des Spitzenkochs Yotam
Ottolenghi enthält viele vegane Gerichte – und vegetarische, die sich zum Beispiel mit Soja-Joghurt und Käse-Ersatz in vegane umwandeln lassen. Die Polenta mit Pilzen ist ein Traum!
— Yotam Ottolenghi: Genussvoll vegetarisch. Dorling Kindersley, 2011, 287 Seiten, ca. 37 Franken
2.
Für Fortgeschrittene
Nicole Just ist zwar Veganerin, mag aber auf Deftiges wie Rouladen oder Piroggen nicht verzichten. In «La Veganista» verrät sie nicht nur ihre besten Rezepte, sondern gibt auch Tipps zu Lebensmitteln, mit denen man Milch und Ei ersetzen kann.
— Nicole Just: La Veganista. Gräfe und Unzer, 2013, 192 Seiten, ca. 25 Franken Zu ihrem Blog: www.vegan-sein.de
3.
Für Junge
In «Junge vegane Küche» hat der Student Philip Hochuli über hundert leckere Rezepte aus der ganzen Welt versammelt.
— Philip Hochuli: Junge vegane Küche. Pro Business, 2012, 111 Seiten,
ca. 34 Franken
4.
Für Feinschmecker
Surdham Göb, Pionier der veganen Küche, überrascht mit raffinierten Rezepten, die auch jene begeistern, die seine konsequente Haltung nicht teilen. Spinattorte mit Butternut-Kürbissauce oder Schokolade-Avocado-Torte – das schmeckt prima!
— Surdham Göb: Meine vegane Küche. AT-Verlag, 2013, 192 Seiten, ca. 27 Franken
5.
Für Fitte
Attila Hildmann, der Koch mit den Traumbizeps, ist einer der prominenteren Fürsprecher der veganen Küche im deutschsprachigen Raum. In «Vegan for Fit» zeigt er, wie einfach man geniessen, Muskeln aufbauen und abnehmen kann.
— Attila Hildmann: Vegan for Fit, Becker Joest Volk, 2012, 264 Seiten, ca. 42 Franken