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Ein Plädoyer für die Nostalgie: Erzähl mir von früher

Ein Plädoyer für die Nostalgie: Erzähl mir von früher

An Weihnachten schwelgen wir besonders gerne in Kindheitserinnerungen und alten Filmen, essen Dinge, die wir von früher kennen. Warum Nostalgie uns so gut tut.

Manchmal gibt es diese Abende, du sitzt mit einem Freund am Küchentisch und die Fensterscheiben sind beschlagen von der Winterkälte, und dann sagst du: Ich musste an dieses Lied denken, und du nimmst dein Handy und tippst den Namen ein auf Youtube. Wir schauen ein Musikvideo von Rihanna aus dem Jahr 2007 und dann eines von Atomic Kitten aus dem Jahr 2001 und dann eins von Bastille aus dem Jahr 2012.

Wir reden über unsere ersten Lieben, den schlimmsten Herzschmerz, die Spaghetti, die nach unserer Kindheit schmecken, die einen Ferien auf diesem Campingplatz, eine Party, auf der wir mit sechzehn waren, eine Nacht mit jemandem, die sich wie die Ewigkeit anfühlte. Wir füllen unsere Gläser. Die Zeit löst sich auf. Gegen halb zwei fährst du mit dem Fahrrad nach Hause, trotz Handschuhen frieren deine Fingerkuppen am Lenker. Aber dein Herz ist träge und warm.

Fast alle Menschen kennen nostalgische Zustände, ich persönlich kenne sie schon lange: Ich bin nostalgisch, seit ich ein Teenager war. Das Erste, was ich vermisste, war meine Kindheit. Wenn eine neue Zeit anfing, wollte ich die alte zurück.

Das unbeliebte Gefühl

Ich merkte schnell: Das verklärende Schwelgen in der Vergangenheit wird nicht gern gesehen. «Du bist eine Nostalgikerin» ist kein Kompliment. Nostalgie schmeckt wie Erdnussbutter aus dem Glas löffeln oder an einem sonnigen Tag alte Folgen «Grey’s Anatomy» schauen: Man geniesst es, hat aber auch das nagende Gefühl, dass man die Zeit eigentlich sinnvoller verbringen sollte.

Aber wenn man einmal angefangen hat, kann man schwer damit aufhören. Und die Gefahr des nostalgischen Versinkens lauert heute überall, wir können auf das Musikvideo aus der Kindheit, den Chat mit der Ex jederzeit zugreifen. Der nächste Tagtraum ist immer nur ein paar Mal Scrollen entfernt. Wenn wir einmal drin sind, unterbricht Nostalgie unseren Alltag, lässt uns die Zeit vergessen. Sie ist immersiv, wie Kino oder Sex.

Was ist das für ein Gefühl, das uns so vereinnahmt? 1688 schrieb der angehende Arzt Johannes Hofer in Basel eine Doktorarbeit über Heimweh. Er beschrieb es als gefährliche, mitunter tödliche Krankheit, die im Ausland stationierte Schweizer Soldaten befiel. Um der neuen Diagnose Gewicht zu verleihen, erfand er ein anderes Wort für «Heimweh». Er übersetzte es, wie Intellektuelle das so machen, ins Altgriechische: Nostalgie, zusammengesetzt aus «nostos» (Heimkehr, Rückkehr) und «algos» (Schmerz). Er bediente sich beim Wortschatz der Odyssee, dem Epos von Homer, der ultimativen Heimweh-Geschichte.

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«Der Blick zurück kann zu Neuem inspirieren»

Erst im 20. Jahrhundert veränderte sich die Bedeutung von «Nostalgie»: von der Sehnsucht nach einem verlorenen Ort zur Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit, wie der Historiker Tobias Becker in seinem 2023 veröffentlichten Buch «Yesterday. A New History of Nostalgia» erklärt. In den 1970ern setzt sich die heutige Bedeutung im deutschsprachigen Raum durch.

Bereits in der Antike und im Mittelalter gab es die Sehnsucht nach der goldenen Zeit, dem verlorenen Paradies. Nur das Wort «Nostalgie» dafür war neu – und die damit verbundene Wertung. Das ist kein Zufall: In den 1970ern fürchtete man sich vor einem Atomkrieg, die wirtschaftlich boomenden Nachkriegsjahre waren vorbei, die Zukunft schien unsicher. Die Leute sehnten sich nach der vermeintlichen Idylle der 1950er zurück.

Aber da Fortschritt in der modernen westlichen Welt ein wichtiger, fast dogmatisch beschworener Grundwert war, schien der schwärmerische Blick zurück ketzerisch. Es herrschte der starke Glauben, dass es stets vorwärts gehen kann und muss – politisch, wirtschaftlich, technisch. Nostalgie stellte diese Logik in Frage. Daran hat sich bis heute wenig geändert, und ähnlich wie damals in den 70ern erlebt die Nostalgie heute eine Konjunktur, weil wir uns angesichts von Krieg, Pandemie, Inflation und unklarer ökologischer Zukunft nach Sicherheit und Überschaubarkeit sehnen.

Nostalgie ist ein wendiges Gefühl und eignet sich zur politischen Vereinnahmung. Rechte Politiker:innen argumentieren mit einem vagen Früher, in dem die Welt (für sie?) einfacher und besser war, und versprechen, dieses Früher wiederherzustellen. Der Blick zurück könnte aber auch zu Neuem inspirieren, wie Becker sagt: Wenn wir uns nach einer autofreien Stadt sehnen, ist das ein nostalgischer Gedanke, schliesslich haben solche Städte einst existiert. Gleichzeitig ist es im Angesicht der Klimakatastrophe eine vorausschauende, fast utopische Idee.

In Verbindung treten

Psychologische Studien haben ergeben, dass das Hören von alten Liedern uns glücklich macht und sogar bei leichten und mittleren Depressionen hilft. Pop-Hymnen, Unterhaltungsliteratur, Schlager, Liebesfilme – fast alles, was uns ans Herz geht, trieft vor Nostalgie. Einer der berühmtesten Songs der letzten Dekade, Taylor Swifts «All Too Well», macht aus diesem Grund so süchtig.

Wenn sie singt: «But you keep my old scarf from that very first week, cause it reminds you of innocence, and it smells like me» (aber du behältst diesen alten Schal unserer ersten Woche, weil er dich an die Unschuld erinnert, und weil er nach mir riecht), dann funktioniert dieser Schal «from that very first week» wie die Pop-Variante der proustschen Madeleine, die den Erzähler im Roman «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» in seine Kindheit zurückversetzt. Der Schal wird zum Träger der Liebesgeschichte, zum Auslöser, der den Erzählprozess in Gang setzt.

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«Das Teilen von Erinnerungen wirkt wie ein sozialer Leim, egal, ob beide dieselbe Erinnerung haben oder ganz verschiedene»

Nostalgie bringt uns zum Reden. Sie macht uns zu guten Erzähler:innen. Wenn wir nostalgisch sind, können wir uns an die bildlichen Details erinnern, die eine Geschichte fühl- und spürbar machen. Den Geruch nach Pinien oder kaltem Rauch oder gebratenen Zwiebeln, das Geräusch eines vorbeirasenden Schnellzugs, den Frost an den Wangen, den vergessenen Schal. Wir formen ohne grosse Anstrengung aus Erinnerungen eine Geschichte.

Wenn jemand eine Anekdote von früher erzählt, ist es unwahrscheinlich, dass es bei einer bleibt. Das Teilen wirkt wie ein sozialer Leim, egal, ob beide dieselbe Erinnerung haben oder ganz verschiedene. Sich nostalgisch zu zeigen, ist ein intimer Akt: Wir enthüllen, woran unser Herz hängt. Wir offenbaren einen Punkt, an dem wir weich und porös und offen für Verbindung sind.

Genuss der Abwesenheit

Im Buch «Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat» erzählt die Autorin Peggy Mädler über ihre Kindheit in der DDR: «Ich erinnere mich gerne an den Geruch von Kohle, will aber die Kohle gar nicht wieder zurück.» Damit fasst sie das Prinzip Nostalgie präzise zusammen, denn Schwelgen bedingt die Abwesenheit dessen, wonach man sich verzehrt. Nostalgisch zu sein, bedeutet, das Nicht-mehr-da-Sein von etwas bewusst wahrzunehmen. Meine Eltern schwärmen davon, wie sie früher in Restaurants, im Auto, im Flugzeug, in ihren Wohnungen geraucht haben. Aber keiner von beiden wünscht sich diesen Zustand ernsthaft zurück.

Mit Mitte zwanzig wohnten meine Mitbewohnerin und ich für ein Jahr in einer Wohnung, die nur mit Holz beheizbar war. Sie lag im Hochparterre eines dreistöckigen Hauses, in den 1940ern gebaut, drei Zimmer, Küche, Balkon. Idyllisch gelegen in einem kleinen Park, am Rand der Stadt. Der Ofen im Wohnzimmer war alt und speicherte die Wärme nicht. Wir froren immer. Achtzehn Grad waren das höchste der Gefühle, und wir erreichten es selten. Besucher:innen behielten ihre Jacken an und schlotterten. Wir schliefen in dicken Pyjamas, Wollsocken, Kapuzenpullis, Skiunterwäsche. Die morgendliche Dusche war eine Mutprobe, die Fliesen im Flur fühlten sich an wie eine Schlittschuhbahn.

Aber als der Frühling kam, sah ich an meiner Zimmerwand jeden Morgen die feingliedrigen Schatten der Zweige des Baums vor meinem Fenster in der frühen Sonne. Wenn meine damalige Freundin und ich im Bett lagen und zuschauten, wie sich die Zweige bewegten, sagte sie zu mir: Das ist der schönste Ort. Unter meinem Fenster im Park lebten zwei Igel, wir tauften sie Igor und Rumpel.

Als wir auszogen, schworen wir uns zwei Dinge: Erstens, die gleichförmige Wärme einer zentralbeheizten Wohnung nie als selbstverständlich zu betrachten. Zweitens, diesen Ort nie zu romantisieren, nie zu vergessen, wie ungemütlich und anstrengend unser Leben dort gewesen war.

Ich frage meine Mitbewohnerin per Whatsapp nach ihren Erinnerungen. Sie antwortet mir: «Oh, du schreibst darüber? Der Geruch der Wohnung, diese kalte und feuchte Luft. Und der Rauch im Wohnzimmer im Winter. Die Igel auch. Unser schönes Wohnzimmer und diese ganz einfach eingerichtete Küche, in der alles so niedrig war, die Herdplatten, die Ablage. Die Fliesen, dieser rote St. Galler Klinkerboden.»

Ich bedanke mich. Einige Stunden später schreibt sie noch eine Nachricht: «Jetzt vermisse ich die Wohnung fast schon ein bisschen.»

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