Zu Besuch bei einer glücklichen Nicht-Mutter
Als ich das abgelegene Häuschen im mehr als abgelegenen Dörfchen Niantic, Connecticut, gesehen habe, hätte ich es wissen müssen: Hier wohnt ein Weirdo. Aber ein Weirdo der besten Art: die Schriftstellerin Sheila Heti hat mich nachhaltig beeindruckt. Auch weil mir bewusst wurde, dass sie wohl die erste Frau ist, der ich begegnet bin, die voller Stolz sagt: «Ich bin glücklich, weil ich keine Kinder bekommen habe» – immer noch eins der letzten Tabus.
Und ich finde, wir brauchen mehr glückliche Nicht-Mütter als Vorbilder. Frauen, die sich gegen Kinder entscheiden, sind keine tragischen Figuren und auch nicht egoistisch oder gar verrückt. Sheila Heti kämpft ganz entspannt gegen diese Stereotype an. Ausserdem mag ich es, wenn man für Interviews Zeit hat. Mit Heti habe ich den ganzen Nachmittag verbracht, Kuchen gegessen und Vintage-Kleider in einer Oma-Boutique anprobiert. Das sind die echten «I-Love-My-Job-Momente». – Chefredaktorin Jacqueline Krause-Blouin
Hier gehts zum Interview mit Sheila Heti
18 Jahre lang Endometriose – ohne Diagnose
«Wenn sie ihre Tage hat, dann fühlt es sich für sie an, als würde ihr jemand ein Messer in den Bauch rammen», erzählte mir ein Bekannter über eine Freundin, die nicht wusste, wie ihr Monat für Monat geschah. Im selben Wortlaut hatte Tage zuvor eine Arbeitskollegin berichtet, welche Schmerzen sie aufgrund ihrer Endometriose ertragen muss. Obwohl in der Schweiz jede zehnte Frau daran leidet, wissen viele immer noch nicht, dass diese Krankheit existiert – auch Betroffene nicht. Und wenn sie es wissen, werden sie oft nicht ernst genommen.
Wie die 32-jährige Andrea, die uns für die Rubrik «Bodybuilding» ihre Leidensgeschichte erzählte. Es war eines der berührendsten Gespräche, das ich dieses Jahr führte. Andrea war kurz nach ihrer Schlüssellochoperation zwar dankbar, dass ihre Wunden langsam heilten, aber noch immer aufgewühlt und fassungslos darüber, wie lange sie trotz ihres ausgesprochenen Endometriose-Verdachts ignoriert wurde: 18 Jahre lang rannte sie mit starken Menstruations- und weiteren Beschwerden von Arzt zu Ärztin, die ihr ihre Beschwerden auszureden versuchten – bis ihr endlich ein Spezialist helfen konnte. – Redaktorin Leandra Nef
Hier gehts zum Artikel über Andreas Erfahrungen mit Endometriose
Eine Menschenrechtsaktivistin aus dem Tschad
Hindou Oumarou Ibrahim traf ich zum ersten Mal in den Räumen der Royal Society in London. Umgeben von Büsten grosser Gelehrter wie Samuel Pepys oder Isaac Newton stellte sie mit gnadenloser Vehemenz und entschiedener Leichtigkeit die fast 400-jährige Wissenschaftsgeschichte auf den Kopf, die die Bücherregale der Gelehrtengesellschaft füllt. Indem die Menschenrechts- und Umweltaktivistin von ihrer Grossmutter im Tschad erzählte, die das Verhalten von Ameisen liest wie wir Bücher, machte sie mir klar, dass ich nichts wusste über das Wissen. Ich lachte, staunte, zweifelte – und ich füllte meinen inneren Tank randvoll mit der Hoffnung, die Hindou in mir weckte. – Stv. Chefredaktorin Barbara Loop
Hier gehts zum Interview mit Hindou Oumarou Ibrahim
Politisch behindert
Als ich Aquil Humbert im Rahmen meiner «Politisch behindert»-Reportage treffen sollte, hatte ich keine Ahnung, was mich erwarten würde. Ein Mann mit Mikrozephalie, so schwer kognitiv beeinträchtigt, dass ihm die Schweiz politisches Mitspracherecht verwehrt. Würde es möglich sein, ein Interview zu führen? Kann Aquil überhaupt richtig sprechen, denken, sich eine gesellschaftspolitische Meinung bilden?
Als ich auf seine Wohnung zusteuere, steht der 29-Jährige rauchend vor der Tür. Breites Grinsen und mindestens so aufgeregt wie ich selbst. Er führt mich rein: «Cola? Wasser? Nimm lieber den Stuhl hier, der ist bequemer.» Und dann sprechen wir über eine Stunde über Aquils Leben, Umweltpolitik und Gleichberechtigung. Irgendwann weist sein Vater mich darauf hin, dass Aquil nun eine Pause braucht. Ich selbst hätte das nicht gemerkt.
Während der Arbeit an der Reportage erlebte ich oft diese Momente, in denen mir vor Augen geführt wurde, wie wenig ich als Journalistin sensibilisiert bin im Umgang mit behinderten Menschen – und noch eine Menge zu lernen habe. Dass ich meinen Beruf liebe, liegt an genau solchen Begegnungen wie mit Aquil. Weil sie menschlich ein Geschenk sind und mich mit meinem eigenen stereotypen Denken konfrontieren, verkappte Vorurteile freilegen und mich wie vielleicht auch manche Leser:innen Standpunkte überdenken lassen. Für mich ist klar: Dass Aquil nicht wählen darf, ist Unrecht. Dass er in politische Entscheidungen einbezogen wird, unser aller Aufgabe. – Redaktorin Sarah Lau
Hier gehts zur Reportage über politische Teilhabe von behinderten Menschen
Ein verstörender Workshop mit Teal Swan
Gefährliche, manipulative Sektenführerin oder spirituelle Heilerin? Diese Frage stellte ich mir im Sommer, als ich mich mit der Amerikanerin Teal Swan und dem Hype um sie befasste – beziehungsweise mit den schweren Vorwürfen gegen sie. Um mir mein eigenes Bild von ihr und ihrer Arbeit zu machen, besuchte ich in der Nähe von Basel einen ihrer teuren und, wie sich herausstellen sollte, verstörenden Workshops.
Die Erfahrung war ziemlich freaky und hat mich noch lange beschäftigt. Den Artikel zu schreiben, hat mir dieses Jahr wohl am meisten Spass gemacht, da ich Teal Swan faszinierend finde. Vor allem aber hat mir die Geschichte auch persönlich etwas gebracht: Einmal mehr ist mir bewusst geworden, wie wichtig es ist, genau hinzuschauen und der eigenen Intuition zu vertrauen. Und mit einem gesunden Mass an Misstrauen zu hinterfragen, was die wahre Intention des Gegenübers ist – ohne sich von Versprechen oder schönen Worten blenden zu lassen. – Redaktorin Vanja Kadic
Hier gehts zum Erfahrungsbericht über den Workshop mit Teal Swan
Pflegenotstand: Ein Postfach voller Mails
Im August 2021 war ich eine knappe Woche im Spital. Aufgrund einer Beckenendlage wurde unser Kind per Kaiserschnitt geholt – die Tage darauf waren wir auf der Wochenbettstation, wo ich allmählich wieder zu Kräften kam. Ein paar Monate später war dann mein Vater an der Reihe: Sein Krebs kam zurück – er war monatelang in den verschiedensten Spitälern und Kliniken, bevor er im Sommer in einem Hospiz sterben durfte. Spitäler sind so immens wichtige Orte: Nirgendwo sind wir Menschen bedürftiger und verletzlicher. Als Betroffene, als Angehörige.
Anfang Oktober entschied ich mich dazu, in unserem Freitag-Newsletter über den Pflegenotstand in Schweizer Spitälern zu schreiben – verbunden mit einem Aufruf: Wer arbeitet in der Pflege und möchte mir erzählen, was dort gerade so abgeht? Noch am selben Abend erreichten mich etliche E-Mails. Auch am Wochenende konnte ich nicht damit aufhören, ständig mein Postfach zu checken, weil mich all die Nachrichten so aufgewühlt haben.
Zum Beispiel schrieb mir eine Pflegefachfrau, die temporär in Psychiatrien arbeitet, sie sei immer wieder allein verantwortlich für mehr als 20 depressive und suizidgefährdete Personen. Und: Es sei unmöglich, unter diesen Arbeitsbedingungen einen guten Job zu machen. Mit ihr habe ich mich daraufhin intensiver ausgetauscht und ihre Erfahrungen in einem Artikel protokolliert.
Dass all die Menschen, die sich für einen Beruf in der Pflege entscheiden, so ausgebeutet werden, ist für mich unbegreiflich. Der Pflegenotstand betrifft uns alle. Als Journalistin möchte ich meinen Teil dazu beitragen, dass die Politik endlich handelt. – Redaktorin Marie Hettich
Hier gehts zum Artikel über die Erfahrungen einer Pflegefachfrau
Asexualität: Mehr Vorurteile als Wissen
Im Sommer habe ich einen Text über Asexualität geschrieben. Eine sexuelle Orientierung, über die ich ehrlich gesagt vor meiner Recherche mehr Vorurteile als Wissen hatte. Und genau solche Themen ziehen mich als Journalistin magisch an: wenn ich selbst etwas lernen und hoffentlich auch Leser:innen zum Nachdenken und Hinterfragen bewegen kann. Glücklicherweise konnte ich für den Artikel mit den unterschiedlichsten Menschen auf dem asexuellen Spektrum sprechen – denn Asexualität hat keine fixe Definition.
Vielmehr lernte ich von der 20-jährigen Aktivistin bis zum 59-jährigen Familienvater, wie sie ihre sexuelle Orientierung für sich definieren und ihre Sexualität im Alltag leben. Oder eben nicht. Und was sich wie ein roter Faden durch alle Gespräche zog, war die Erkenntnis, dass Menschen, die sich selbst als asexuell bezeichnen, in ihren Beziehungen sehr offen mit ihrer Sexualität umgehen und Konsens an oberster Stelle steht. Und dass manche von ihnen sehr wohl Sex haben. Zu ihren eigenen Bedingungen. – Redaktorin Sandra Brun
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Ein alter Studienfreund mit Long Covid
Mein journalistisches Highlight in diesem Jahr ist meine Reportage über Beat, der nach einer schweren Covid-Infektion ins künstliche Koma versetzt werden musste, monatelang in der Reha war und noch heute an den Folgen leidet. Beat ist ein alter Studienfreund von mir. Im Frühjahr 2021 erkrankte er schwer an Covid, überlebte nur haarscharf. Als ich ihn dann vor gut einem Jahr besuchte, war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Er sei nun Teil jener Statistik, von der man immer hoffe, nie dazuzugehören, sagte er mir zur Begrüssung.
Als ich von der Redaktion das «Go» erhielt, die Reportage zu schreiben, wagte ich Beat kaum zu fragen. Er reagierte milder, als ich befürchtet hatte, erbat sich eine Woche Bedenkzeit. Nachdem ich ihm versichert hatte, dass seine Geschichte über einen persönlichen Betroffenheitsrapport hinausgehen und eine dokumentarische Reportage werden würde, sagte er zu. Danach haben wir im Abstand von etwa zwei Wochen miteinander telefoniert.
Die Telefonate dauerten oft mehrere Stunden, immer wieder wurde Beat von schweren Hustenanfällen unterbrochen. Doch er gab nie auf, tauchte immer tiefer in die eigene Geschichte ein, während ich begann, seine Erzählungen mit politischen Ereignissen in der Schweiz und mit medizinischen Einordnungen zu verbinden. Dafür entband Beat seine Ärzte und seine Logopädin sogar von ihrer Schweigepflicht.
Rückblickend hoffe ich, dass es mir gelungen ist, ein Dokument gegen das Vergessen zu setzen. Denn von Covid und seinen Opfern spricht heute kaum mehr jemand. Beat geht es inzwischen besser. Doch er fürchtet, dass sich Long Covid bei ihm zu Eternal Covid entwickeln wird. Eine Sauerstoffbrille braucht er immer noch. – Redaktorin Helene Aecherli
Hier gehts zur Reportage über Beat mit Long Covid