Ein Abenteuer in St. Gallen
- Text: Frank Heer; Foto: Kunstmuseum St.Gallen
annabelle-Reporter Frank Heer war auf der Suche nach einem Abenteuer und hat in St. Gallen etwas gefunden, das besser ist als jede «Twin Peaks»-Folge.
«Einmal Abenteuer bitte», sage ich und zahle die fünf Franken Eintritt, die das Abenteuer kostet. Der Mann an der Kasse gibt mir den Schlüssel und brummt: «Begehen auf eigene Gefahr.» Ich nicke. Natürlich bin ich nervös, aber ich will etwas erleben. Es ist ein ereignisloser Sonntag im Juni, der Wasserturm hinter dem Bahnhof wirft seinen Schatten, und mein Schlüssel passt zu keiner seiner Türen. Fängt ja gut an, denke ich, dann bemerke ich die Leiter, die nach oben führt. Ich steige bis zur letzten Sprosse und klopfe gegen ein Tor aus rostigem Blech. Der Schlüssel dreht sich mühelos im Schloss. Ich klettere in einen schmalen Gang, an dessen Ende sich eine Tür befindet. Hallo? Gehts hier zum Abenteuer? Ich zögere. Noch kann ich umkehren. Stattdessen drücke ich die Klinke und trete in einen fensterlosen Raum. Es riecht nach feuchtem Schaumstoff und alten Büchern. Meine Augen brauchen eine Weile, um sich an das gedämpfte Licht zu gewöhnen. Polstergruppe, Wanduhr, Beistelltischchen. Fleckiger Teppich, Wohnwand, Plastikblumen. Schlagerschallplatten, Stereoanlage, Fernseher. Roger Federer auf einer «Schweizer Illustrierten». Kein Abenteuer weit und breit. Überall liegt Staub. Der Staub von Jahrzehnten. Ist hier jemand? Ich trete in einen Gang, Abfall entlang der Wand, steige höher und höher, auf knarrenden Stufen. Über mir das Dach, unter mir eine Hütte. Taubenschlag? Ferienchalet? Pfadfinderhäuschen? Ich steige übers Geländer und klettere nach unten. Die Tür ist offen, und ich trete in ein Zimmer. Schreibmaschine auf schmutzigem Tuch. Verstreute Spielkarten überall. Dreckige Pfannen und Töpfe. Toaster, Mikrowellenofen, Elektroherd. Rehgeweihe, Fertignudelsuppe. «Sie werden sich schon zurechtfinden», sagte der Mann, der mir den Schlüssel gab. Ich will jetzt mein Abenteuer, denke ich und zwänge mich durch ein Rohr im Boden. Ich rutschte in ein eisiges Verlies, eng wie ein Sarg, wo zerwühlte Laken auf einer Matte liegen, steif vom Frost. Es soll schon vorgekommen sein, dass Menschen in Kühlzellen erfroren, die nicht eingeschaltet waren. Ich stürze in einen Gang, klammere mich an eine Stange und gleite in die Tiefe. In einer WC-Schüssel komme ich zum Stillstand, schöne Scheisse, zwänge mich durch ein Fenster in einen Raum voller Sperrgut und Altpapier. Von dort durch einen Schacht in ein Auto mit karierten Polstern. Ein Manta, na toll, die Türen sind verriegelt. Nichts wie raus hier! Aber wie? Ein Loch gähnt unter meinem Sitz. Ich tupfe mir den Schweiss von der Stirn, schliesse die Augen und lasse mich fallen. Glas und rostige Schrauben unter den Sohlen, keine Ratten im Keller, Gott sei Dank, dafür ein Töggelikasten ohne Mannschaft. Ich flüchte über die Treppe nach oben in die Garage. Ölwechsel! Das Radio plärrt, nackte Frauen und Clay Regazzoni an der Wand. Regale voller Werkzeug, Auspuffrohre, Schraubenschachteln, Keilriemen, Benzinkanister. Fehlt nur das Bier. Was, wenn der Turm in die Luft fliegt!? Ich reisse die Tür auf und hechte zurück in meinen ereignislosen Tag.
PS: Die begehbare Installation «Pumpwerk Heimat» des Schweizer Künstlers Christoph Büchel ist jeden Sonntag von 11 bis 18 Uhr im Wasserturm der Lokremise St. Gallen geöffnet und besser als jede Geisterbahn oder «Twin Peaks»-Folge.