Liebe Leserin, lieber Leser
Als meine Kollegin Barbara Achermann vor einiger Zeit erzählte, die Kindergärtnerin ihres Fünfjährigen müsse ein 72 Punkte umfassendes Assessment zu seinen Talenten, Ambitionen und Fähigkeiten ausfüllen, waren wir baff. Die Stärken und Schwächen eines Kindes mit einem Formular akribisch einschätzen, anhand von Kriterien wie «Das Kind erledigt Aufgaben termingerecht»? Was um Himmels willen steckt hinter dieser absurden Idee? Barbara Achermann hat – pünktlich zur Veröffentlichung des neuen Lehrplans 21 – Lehrkräfte und Bildungsexperten zu den aktuellen Reformen im Schulwesen befragt. Und erfahren: Die Absichten mögen hehr sein. Am Ende wächst aber vor allem die Bürokratie ins Unermessliche.
Was bei Kindern und Teenagern grad Schule macht, betrifft uns auch im Berufsleben je länger, desto üppiger: Standardisierte seitenlange Jahresgesprächsformulare etwa sollen beide Parteien absichern, rauben aber vor allem wertvolle Zeit und ersetzen mit Sicherheit nicht die ganz normalen konstruktiven Gespräche im Alltag. Absichern in Ehren, aber es grenzt an Paranoia, wenn – wie in manchen Kantonen Praxis – Schulausflüge an den Fluss gestrichen werden, weil Lehrer keine Rettungsschwimmerausbildung haben. Immer öfter fallen im Bildungswesen Begriffe aus der Ökonomie: Kompetenz, Ertrag, Steigerung. Dabei sind besonders in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Qualitäten wie Flexibilität und Kreativität gefragt. Und die werden bekanntlich nicht von Papieren gefördert, sondern von Vorbildern mit Engagement und Leidenschaft.
Von beidem bringt die 73-jährige britische Designerin Vivienne Westwood viel mit. Sie hat Modegeschichte geschrieben, setzt sich für Abrüstung ein, für Bürgerrechte und gegen den Klimawandel. Ein dreiseitiges Assessment musste sie mit fünf sicher nicht bestehen.
Herzlich!
Zum Artikel: Umstrittene Schulreformen und groteske Vorschriften: Lehrer haben die Nase voll