Die dunkle Seite des Alberto Giacometti
- Text: Annik Hosmann
Wutausbrüche, Geiz, Fremdgehen: Ein überraschend leichter Spielfilm über Alberto Giacometti zeigt die dunkle Seite des Schweizer Jahrhundertkünstlers.
46, rue Hippolyte-Maindron, Paris: Hellgrauer Staub überzieht Tische und Fenster, der Raum ist vollgestellt mit Skulpturen, Staffeleien, Pinseln und Töpfen. Grau die nicht fertig gemalten Bilder, die an den Wänden lehnen. Grau auch der aufsteigende Zigarettenrauch, der Kittel und der wilde Haarschopf.
Grau, das war ohne Zweifel die Farbe, die in Alberto Giacomettis Atelier in Paris dominierte. Müsste man deshalb den neuen Film von Stanley Tucci über das Schweizer Künstlergenie Giacometti mit einer Farbe beschreiben, wäre es – Grau. «Final Portrait» heisst der Arthousefilm. Er beleuchtet in eineinhalb Stunden den 18 Tage langen Entstehungsprozess seines letzten Porträts, jenes des US-Schriftstellers James Lord.
Giacomettis gehenden Bronzemann, «L’homme qui marche», kennt heute jedes Schweizer Kind, seine Skulpturen und Gemälde begeistern und inspirieren auch 2017 noch: Der Schweizer Pavillon an der diesjährigen Kunstbiennale in Venedig bezieht sich auf Giacomettis «Women of Venice», die Londoner Tate Modern zeigt aktuell die erste grosse Retrospektive des Künstlers in England, im Juli erschien Franck Mauberts Buch «Caroline» über Giacomettis Amour fou, die Prostituierte Caroline. Und jetzt eben Stanley Tuccis Biopic.
Eine Hotellounge hoch über dem Basler Messegelände: Der Amerikaner Stanley Tucci, der vor allem als Schauspieler bekannt ist, bestellt sich einen doppelten Wodka auf Eis. Später wird er die Fondation Beyeler besuchen und sicherlich dem einen oder anderen Giacometti-Werk begegnen. Hat er inzwischen keine Giacometti-Überdosis? «Nein», sagt er mit breitem Lächeln, «es gab zwar eine Zeit, in der ich tatsächlich das Gefühl hatte, Giacometti nicht mehr sehen zu können. Doch dann begegnete ich in Luxemburg einigen Werken, die ich noch nicht kannte – und sah ihn plötzlich, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte.»
Die meisten verfilmten Künstlerbiografien beleuchten ein ganzes Leben: Ausbildung, Erfolge, Werkphasen, vielleicht auch Scheitern. Stanley Tucci beschränkt sich auf knapp drei Wochen aus Giacomettis Leben (1901–1966). Doch diese Zeit reicht aus, um ein Gefühl und Verständnis für seinen Schaffensprozess zu vermitteln. «Es geht nur um den Entstehungsprozess dieses einen Bilds, darum, wie sich die Freundschaft zwischen Giacometti und Lord veränderte. Ursprünglich wollte ich das fertige Gemälde nicht einmal zeigen, denn das Porträt hat für den Film keine Bedeutung», sagt Tucci. Zehn Jahre dauerte es vom fertigen Drehbuch bis zur Filmpremiere – eine Zangengeburt. Doch im Film ist von den Finanzierungsschwierigkeiten und vielen Durststrecken während der Realisation nichts zu spüren. Tuccis Werk mit dem grossartigen Geoffrey Rush als Alberto Giacometti und Armie Hammer als James Lord kommt nicht als schweres Kunstdrama, sondern eher komödiantisch leicht daher.
«Portrait of James Lord», gemalt 1964, Öl auf Leinwand, 80.6 cm breit und 115.9 cm hoch, wurde 2015 bei Christie’s für knapp 21 Millionen US-Dollar versteigert. Entstanden ist es nach unzähligen Flüchen und Wutausbrüchen, in denen der Künstler die Leinwand anschrie. James Lord reagierte erst überfordert, dann resigniert und zum Schluss begeistert. Für den damals 41-jährigen Schriftsteller, der später über die Tage mit Giacometti ein Buch schrieb, auf dem Tuccis Drehbuch aufbaut, waren die Porträtsitzungen vor allem eines: Geduldsproben.
So genial der im Bündner Bergell geborene Giacometti als Künstler war, so schwer erträglich und unberechenbar muss er im alltäglichen Umgang gewesen sein. Das wird auch in Tuccis Film deutlich, wenn er mit seiner Ehefrau Annette streitet, mittendrin wutentbrannt weggeht und sich mit Prostituierten vergnügt. Wenn er seiner Geliebten Caroline ein Auto kauft, seiner Ehefrau aber kein Geld für einen neuen Wintermantel geben will. Wenn er völlig in Rage Zeichnungen anzündet. Der Einzige, der sich von Giacomettis Launen und Ausbrüchen nicht aus der Fassung bringen liess, war sein jüngerer Bruder, der Künstler Diego Giacometti, der als rechte Hand Albertos amtete. Ausgelöst wurden die Ausbrüche durch seine ständigen Zweifel am eigenen Schaffen. «Gibt es einen besseren Nährboden für Erfolg als Zweifel?» fragt Giacometti in einer Szene James Lord.
Der Schriftsteller war fasziniert von Künstlern und schrieb oft über sie. «James Lord konnte sehr geduldig sein, aber nur mit Menschen, die er bewunderte», erzählt Tucci, der Lord vor seinem Tod 2009 kennengelernt hatte. Mit viel Feingefühl näherte sich Lord auch den Giacomettis an. Vielleicht schaffte er es deshalb, Giacometti am Ende mit einem kleinen Trick zu überzeugen, dass sein Porträt nun gut genug und die Sitzung beendet sei, obwohl der Künstler alles andere als zufrieden war.
Spricht man mit dem Regisseur Tucci über Giacometti, ist neben Faszination auch Ehrfurcht spürbar. «Einen weiteren Film über einen anderen Künstler zu machen, würde sich wie Verrat anfühlen», sagt er. Und ja, man dürfe ihn durchaus als Giacometti-besessen bezeichnen.
Dass heute Giacomettis Gesicht und sein gehender Mann die Schweizer Hunderternote zieren, könnte man als Ironie der Geschichte verstehen. Denn Geld war Alberto Giacometti nie wichtig. Bündel mit Geldscheinen verstaute er irgendwo in seinem Atelier, nur seinem Bruder Diego steckte er ein paar Scheine zu. Den Wunsch seiner Frau Annette, das viele Geld auszugeben, das er mit seinen Verkäufen schon zu Lebzeiten verdient hatte, verstand er nicht – und gab ihm auch nicht nach. Bis zu seinem Tod 1966 lebte das Paar in einem heruntergekommenen Zimmer gleich neben dem Künstleratelier.
Wie hätte Giacometti also reagiert, als 2010 einer seiner gehenden Männer für die Rekordsumme von über 104 Millionen US-Dollar auf dem Auktionsmarkt versteigert wurde? Wahrscheinlich hätte er hämisch gelacht und sich eine Zigarette angesteckt. Dann wäre er aus seinem Atelier in das nahegelegene «Chez Adrien» geschlurft, um sich dort zwei Gläser Rotwein, ein hart gekochtes Ei, Schinken und Brot zu bestellen – so wie er es jeden Tag tat. Manchmal zufrieden, oft aufgebracht.
Ab 24. 8.: «Final Portrait» von Stanley Tucci. Mit Geoffrey Rush, Armie Hammer und Clémence Poésy.
1.
Giacometti mit seiner Frau Annette – ein Bild aus dem Film «Final Portrait»
2.
Links: Schauspieler Geoffrey Rush als Schriftsteller und Kunstliebhaber James Lord.
3.
Die Schauspielerin Clémence Poésy als Giacomettis Geliebte Caroline.
4.
Der Schriftsteller und der Meister im Atelier: Das Porträtieren von James Lord wird für Künstler und Modell zur wochenlangen Tortur.