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Drei Lektionen aus dreissig Jahren – und einem Lockdown

Leben

Drei Lektionen aus dreissig Jahren – und einem Lockdown

  • Text: Kerstin Hasse; Foto: Alamy

Eigentlich findet unsere Autorin diesen Lockdown gar nicht so schlimm. Vielleicht, schreibt sie, können wir sogar ein paar Sachen daraus mitnehmen. Drei Lebenslektionen einer bald 30-Jährigen.

Würde mich jemand fragen, ob ich dieses Jahr gern überspringen würde, ich würde verneinen. Ja, dieses Jahr ist bis jetzt, sagen wir, durchzogen. Wie ein Sommertag, der verspricht, schön zu werden, und dann am Nachmittag kommt ein Gewitter und dann steht man da im Sommerkleid und in Espadrilles und fragt sich, wie viel Wasser so eine Jutesohle aushalten kann.

Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht – aber für mich ist es noch immer tausend Mal besser als das letzte Jahr. Meine Familie und meine Freunde sind gesund. Das ist, erstens, keine Selbstverständlichkeit, und deshalb, zweitens, gerade in der jetzigen Situation ein Grund für eine tief empfundene Dankbarkeit.

Neulich lag ich im Bett und ich überlegte mir: Eigentlich find ich diese Homeoffice-Situation gar nicht so schlecht. Manchmal frage ich mich, ob wir uns nur beschweren, weil es zum guten Ton gehört. Denn ehrlicherweise: Ich bin so effizient wie noch nie. Ich mache regelmässig Sport (ja, gut, der Pasta-Konsum hat tendenziell ein wenig zugenommen, aber nicht so dramatisch, dass Sophia Loren es nicht gutheissen würde). Ich arbeite viel konzentrierter und ich finde es befriedigend zu sehen, wie gut mein Job sich mit Homeoffice vereinbaren lässt. Und: Ich verbringe viel wertvolle Zeit mit meinem Freund. Wir essen jeden Mittag zusammen – etwas, was wir in einer normalen Arbeitswoche nie machen würden. Wir reden über alles Mögliche, wir lernen uns noch mal ganz anders kennen und ich denke tatsächlich, dass ich unsere kleinen Corona-Traditionen – er holt mir frischen Orangensaft am Morgen, ich mache ihm eine Maske, wir spazieren jeden Tag durchs Quartier – vermissen werde.

Mit mir geht hier nicht die Romantikerin durch. Es gibt vieles, das auch mich an dieser Situation nervt. Ich vermisse meine Familie – so sehr, wie zuletzt im Schullager, als mich das Heimweh plagte. Es ist ein Schmerz zwischen Herz und Bauch, ein Klumpen, der sich immer wieder pochend meldet und wehtut. Ich vermisse mein Team und ich vermisse meine Freundinnen. Und: Ich vermisse Umarmungen. Ich bin kurz davor, in den Wald zu gehen und Bäume zu umarmen, einfach, um irgendwas zu drücken. Ich war nie eine Freundin dieser ollen drei Küsschen – I am a hug-person. Aber jetzt habe ich schon seit Wochen niemanden mehr gehugt – ausser meinem Freund. Mir fehlt dieses Nah-Sein, diese öffentliche Zurschaustellung meiner Zuneigung, mir fehlt die Wärme anderer Menschen.

Ich werde in ein paar Tagen dreissig. Hätte ich im letzten Monat vorgehabt, meine Dinge-die-ich-tun-will-bevor-ich-dreissig-bin-Liste abzuarbeiten, es wäre unmöglich gewesen. Ich habe keine solche Liste, aber ich stell mir vor, dass auf so einer Liste nicht Dinge stehen wie «mit dem Publibike Richtung Uetliberg fahren» oder «noch mal alle Der-Pate-Teile schauen», sondern eher so aufregende Sachen wie Fallschirmspringen oder irgendeinen hohen Berg zu besteigen. (Tbh: Ich hätte beides auch ohne Ausgangssperre nicht getan. Warum das Leben riskieren, wenn man Michael Corleone beim Mafioso-Sein zusehen kann. Leave the gun! Take the Cannoli!) Ich habe ein Sauerteigbrot gebacken, das war auch schon alles, was ich an Aufregung brauchte. Ich sehe meine U-30-Bucket-List also als abgeschlossen an.

Trotzdem habe ich mir überlegt, was ich von meinen ersten dreissig Lebensjahren – und von diesen letzten Wochen in dieser Ausnahmesituation – an Erfahrungen mit ins neue Jahrzehnt nehmen möchte. Ich habe mich für drei Lebenslektionen entschieden.

1. Es ist das Unvorhersehbare, dass das Leben ausmacht. So schmerzhaft es sein mag.

Könnte ich es mir auswählen, dann hätte ich gern ein kleines Programmheft für mein Leben. Das würde aussehen wie die TV-Zeitschriften früher. Da würde dann stehen: 2. April 2022, 8 Uhr: Kerstin zieht um in eine Villa mit Seeblick. Oder 5. Mai 2027, 23.15 Uhr: Kerstin bekommt ein Kind. Voilà. Tönt nach Kontrollfreak? Ja, ich weiss. Und das Schlimme: Ich hatte mir so eine Notiz schon in mein Teenager-Tagebuch gekritzelt, das ich beim Aufräumen fand – es ist also ein tiefsitzendes Problem. Aber, wie ich recht schmerzlich erfahren musste: Das Leben ist nicht planbar. Ich kann all das, was mir und meinen Liebsten passiert, nur bedingt kontrollieren. Ich würde sagen, das ist die wichtigste Lektion, die ich in meinen Zwanzigern gelernt habe – dementsprechend lang ging es, bis ich sie begriff. (Kleiner Disclaimer: Ich bin noch immer in der Verarbeitungsphase.) Was ich aber vor allem in diesem Lockdown verstand: Es ist das Unvorhersehbare, dass das Leben so anstrengend, aber eben auch so spannend macht. Der Nachmittag mit Freundinnen, aus dem ein Dinner und dann eine ganze Nacht in einem Pub wird. Die Begegnung mit fremden Leuten, die danach nicht mehr fremd sind. Die Jobmöglichkeit, die alles durcheinanderbringt, aber eben auch alles besser macht. Der Mensch, in den man sich nicht hätte verlieben dürfen, der aber das eigene Herz platzen lässt. Das verdammte Gewitter, das einen überrascht und das einen dazu zwingt, mit nackten Füssen (so viel Wasser halten Espadrilles eben nicht aus) nachhause zu rennen und sich endlich wieder mal wie ein Kind zu fühlen.

2. Es sind die schöne Dinge, die das Leben schön machen

Tönt banal, oder? Aber überlegen wir doch mal ganz kurz, was uns im Moment fehlt: Der liebste Blumenhändler, der weiss, dass man die lila Hortensien besser mag als die weissen. Der Museumsbesuch! Ja, es gibt all die Onlinetouren, aber nie wird mich das Triptychon «Die Hoffnung des zum Tode Verurteilten I-III» von Miró digital so berühren, wie wenn ich davorstehe – und zwar in der Fundació Joan Miró in Barcelona. Uns fehlen nämlich auch Reisen. Das Meer. Wälder. Berge. Städte. Uns fehlt ein Grund, die fetten Glitzerohrringe zu tragen. Uns fehlt es, in unserer Lieblingsbar zu sitzen und an den ersten lauen Sommerabenden einen Negroni zu trinken. Uns fehlen Parties und Brunches und Konzerte, an denen wir tanzen, bis unsere Shirts verschwitzt sind, und – mir zumindest – fehlt es, einzukaufen. Nicht online, sondern in Geschäften. Mit hübschen Einkaufstaschen und echter, lebendiger Beratung statt hässlichen Plastikverpackungen und «Kiki0890 fand, dieses Produkt entsprach nicht ganz der Farbe auf den Fotos». (WELCHER FARBE DENN DANN?!)

3. Es ist ein Privileg, zu vermissen (und: Listen machen das Leben einfacher) 

Dieses Virus bedroht die Gesundheit Tausender, die wirtschaftlichen Folgen dieser weltweiten Lockdowns werden desaströs sein. Unsere Generation erlebt eine zweite Weltwirtschaftskrise, die viele Menschen in ihrer Existenz bedrohen wird. Das ist furchtbar. Doch, wie wir in Punkt 1 gelernt haben, lässt sich das Leben nicht planen. Wir müssen versuchen, mit Solidarität und Empathie auf diese Ausnahmesituation zu reagieren. Ich persönlich versuche ausserdem, dankbar zu sein. Für meine Gesundheit und für das Privileg, mich manchmal ganz ungeniert einer grossen Vermissung hingeben zu dürfen. Der Vermissung von eben all diesen schönen Dingen. Ich habe eine Liste erstellt, mit all den Sachen, die ich unternehmen werde, wenn wieder so etwas wie Normalität herrscht. Dinge, die ich – so abgedroschen es klingen mag – in Zukunft noch viel mehr wertschätzen werde.

– Ich werde mit meiner Familie alle verpassten Geburtstage feiern und jede und jeden mindestens eine Stunde knuddeln.

– Ich werde auf dem Helvetiaplatz im «Campo» in Zürich sitzen und mit meinen Arbeitskolleginnen einen Americano trinken und Mortadella essen und Gossip austauschen – den es dann endlich wieder gibt!

– Ich werde mit meinen besten Freundinnen in der Pizzeria San Gennaro eine Pizza Margherita essen und garantiert als Absacker einen Amaro bestellen. Con ghiaccio.

– Ich werde Auto fahren. Ganz egal wohin!

– Ich werde mir bei meinem liebsten Coiffeur die Haare schneiden lassen und fragen, ob er die Kopfmassage ein wenig in die Länge ziehen kann.

– Ich werde irgendwo ans Meer fahren und ins Wasser springen und danach das Salz auf meiner Haut riechen.

– Ich werde meine Verwandten in Italien besuchen und jeden Morgen einen Cappuccino trinken.

– Ich werde Pedalo fahren. Ganz egal wohin!

– Ich werde eine Nacht lang durchtanzen – bis in die Morgenstunden. Das habe ich schon viel zu lang nicht mehr gemacht. Und vielleicht sogar einen Anti-Kater-Kebab essen. Ach, von wegen vielleicht – ganz sicher sogar!

– Ich werde nach Mailand fahren und im Rinascente durch meine Lieblingsabteilung – die, die nur Handtaschen gewidmet ist – spazieren und danach im «Nuova Arena» mit meinem Freund Spaghetti al cipollotto essen. <3

– Ich werde alle meine Freunde zu mir nachhause einladen und sie zur Begrüssung herzen, bis sie sich beschweren.

– Ich werde mir auf den Dreissigsten ein drittes Ohrloch stechen lassen und mir einen total schönen Ohrring von Catbird Jewellery bestellen. Oder noch besser: ihn in New York selber abholen.

– Ich werde eine Wanderung zur Segantini-Hütte in Pontresina machen und oben in der Berghütte ein grosses Calanda trinken.

– Ich werde in einer Sommernacht allein auf dem Velo durch Züri fahren und mich darüber freuen, wie der Sommer riecht.

– Ich werde in der Badi in Lugano liegen und Rosé mit Eis bestellen.

– Ich werde eine Wurst im Sternengrill essen.

– Ich werde in den Buchladen beim Volkshaus gehen und mich beraten lassen, welches Buch ich als nächstes lesen werde.

– Ich werde endlich wieder in ein Stadion gehen und mit den Fans meines Stadtclubs singen.

– Ich werde mich aufbrezeln – und dann auch das Haus verlassen!