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Dominique Pelicot zu 20 Jahren Haft verurteilt: Was uns der Fall Gisèle Pelicot über uns und unsere Männer lehrt

Politik

Dominique Pelicot zu 20 Jahren Haft verurteilt: Was uns der Fall Gisèle Pelicot über uns und unsere Männer lehrt

Jahrelang wurde die Französin Gisèle Pelicot von ihrem Ex-Mann betäubt und von ihm und anderen Männern vergewaltigt. Heute wurde Dominique Pelicot im südfranzösischen Avignon zu 20 Jahren Haft verurteilt. Der Fall erschüttert weltweit, ganz besonders aber die Gesellschaft Frankreichs. Ihre Heimat blicke seit dem Prozess in einen zersplitterten Spiegel, schreibt unsere Autorin Estelle Marandon.

Inhaltshinweis: Sexualisierte Gewalt

 

Mehr als einmal liegen mein Mann und ich in den vergangenen Wochen und Monaten abends nebeneinander im Bett, unsere Mobiltelefone in der Hand, vertieft in den gleichen Artikel über den Prozess von Gisèle Pelicot, die von ihrem damaligen Ehemann über zehn Jahre lang regelmässig betäubt und anschliessend von ihm und anderen Männern vergewaltigt wurde. Betroffen schauen wir uns danach an und wagen unsere Gedanken kaum auszusprechen.

Wie ist es möglich, dass in einem Radius von nur 50 Kilometern so viele Männer bereit waren, mit einem leblos erscheinenden Körper Sex zu haben, einem Körper, den man rollen muss, um ihn zu bewegen? Und wie kann es sein, dass die Ehefrauen dieser Männer nichts von deren Abgründen geahnt haben, sie sogar als vorbildliche Väter beschreiben? Wäre es denkbar, dass auch mein eigener Mann…?

Der hingegen quält sich mit anderen Gedanken: Bin ich Teil des Problems? Wohnt auch in mir eine gewaltsame Seite, die ich nicht wahrhaben will? Und vielleicht die schmerzlichste Frage von allen: Wird meine Frau mich nach diesen fürchterlichen Enthüllungen jemals wieder mit denselben Augen ansehen können? «Es fällt schwer, sich als Mann noch zu mögen, wenn man diese Berichte liest», sagt er nachdenklich. «Ich schäme mich für mein eigenes Geschlecht.»

Der Fall trifft eine tiefere, fast intime Ebene

Feminismus ist bei uns ein wiederkehrendes Thema, über das wir oft und leidenschaftlich diskutieren: toxische Männlichkeit, Gleichberechtigung, die sich wandelnden Rollenbilder von Männern und Frauen, Mental Load und natürlich die steigende Zahl von Berichten über sexualisierte Übergriffe – vor allem in der Filmbranche, in der mein Mann arbeitet. Diese Themen sind für uns auch deshalb so wichtig, weil wir selbst Eltern einer Tochter und zweier Jungs sind, die wir zu respektvollen und verantwortungsvollen Menschen erziehen möchten.

Doch bisher hatten wir immer eine gewisse emotionale Distanz zu diesen Fragen, wie ein Schutzschild, das es uns erlaubte, sie sachlich und rein theoretisch zu betrachten. Im Fall Pelicot ist es anders. Er trifft eine tiefere, fast intime Ebene. Er schleicht sich unbemerkt in unser Schlafzimmer, regt uns zum Nachdenken an und fordert uns heraus, unsere eigenen Beziehungsmuster zu hinterfragen.

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«Auch wenn nicht alle Männer Vergewaltiger sind, kann jeder Mann ein Vergewaltiger sein»

Lola Lafon, französische Schriftstellerin und Feministin

Frankreich, das Land der Liebe und Romantik, der emanzipierten, begehrenswerten Französin – unsere Heimat blickt seit dem Pelicot-Prozess in einen zersplitterten Spiegel. Die Verhandlung hat ein Bild von Männlichkeit ans Licht gebracht, das uns als Gesellschaft tief verstört: Die Täter, wie sie vor Gericht beschrieben werden, sind keine randständigen «Monster», sondern alltägliche Männer – Nachbarn, Kollegen, Freunde.

Vorstellung von Männlichkeit in Frage stellen

Die Feministin Lola Lafon brachte es in einem Artikel für die Zeitung Libération provokant auf den Punkt: «Auch wenn nicht alle Männer Vergewaltiger sind, kann jeder Mann ein Vergewaltiger sein.» Dieses Bild ist nicht nur erschreckend, sondern fordert uns auch persönlich heraus, unsere Vorstellung von Männlichkeit und die Muster, die sie prägen, grundlegend in Frage zu stellen.

In diesem Kontext unterzeichneten über 200 prominente Männer, darunter Schauspieler Gilles Lellouche oder Sänger und Schriftsteller Gaël Faye, einen offenen Brief, in dem sie eine ehrliche Auseinandersetzung mit männlicher Verantwortung fordern. Der Brief betont, dass systemische Gewalt gegen Frauen nicht nur von einzelnen Tätern ausgeht, sondern tief in einer Gesellschaft verwurzelt ist, die Männern strukturelle Vorteile verschafft.

«Ich fühle mich verpflichtet, an mir zu arbeiten»

Diese Erkenntnis geht vielen Männer sehr nahe, auch meinem eigenen. Er sieht es als klaren Appell, sich selbstkritisch zu hinterfragen und neu zu definieren. «Gerade als Vater einer Tochter fühle ich mich verpflichtet, an mir zu arbeiten», betont er. Das fängt bei alltäglichen Gesten an, der Art und Weise etwa, wie er mit seiner Tochter kommuniziert, dass er sie nicht stets auf ihr Aussehen reduziert, sie als hübsches Mädchen bezeichnet, sondern andere Qualitäten lobt und betont.

Und es geht bis hin zur bewussteren Wahrnehmung von Geschlechterungleichheiten, die bis in die Familie hineinreichen. Vor allem den Mental Load, wer sich um Elternabende kümmert oder um Einkäufe, während der andere in Ruhe arbeiten kann. «Es ist ein nie endender Lernprozess, aber letztlich liegt es auch in meiner Verantwortung als Mann, mich selbst zu dekonstruieren», findet er.

Frauen haben den Respekt vor Männern verloren

Das vermeintlich starke Geschlecht steckt heutzutage unweigerlich in einer Identitätskrise. Die traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit geraten ins Wanken. Es entsteht ein Spannungsfeld aus widersprüchlichen Erwartungen: Während Frauen zu Recht Gleichberechtigung einfordern, höre ich in Gesprächen mit Freundinnen und Kolleginnen immer wieder, dass sie sich dennoch nach «starken Männern» und «Sicherheit» sehnen.

In meinem Freundeskreis scheiden sich die Geister. Einige Frauen sagen offen, dass sie nach all den Vergewaltigungsprozessen der letzten Jahre das Vertrauen in Männer verloren haben, oder schlimmer noch: den Respekt vor ihnen. Andere sehen es als «Hexenjagd». In den sozialen Netzwerken ist die Bewegung #notallmen ausgebrochen, unterstützt in der Regel von Männern, die sich weigern, sich betroffen zu fühlen, weil die Angeklagten für sie ganz offensichtlich nicht zur Norm gehören können.

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«Vor dem Geschlechtsakt genügend Worte zu wechseln, um sicherzugehen, dass beide das Gleiche wollen, sollte das Minimum an Anstand sein, das man von Männern erwarten darf»

Estelle Marandon

Auf die 50 Angeklagten warten 10 bis 20 Jahre Haft, doch im Prozess von Gisèle Pelicot geht es um mehr als nur die Schuldfrage. Maître Stéphane Babonneau, einer der beiden Anwälte der 71-Jährigen, hat es in seinem Schlussplädoyer brillant formuliert: «Die Angeklagten zugunsten eines vermeintlichen Rechts auf Irrtum freizusprechen – den Irrtum, ohne Absicht, aus Versehen, aus Dummheit oder Unwissenheit zu vergewaltigen – ist in Wirklichkeit eine gesellschaftliche Entscheidung.»

Genau darum geht es. Es geht darum, die Grenzen aufzuzeigen und ein Zeichen zu setzen. Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der wir wirklich noch darüber diskutieren müssen, inwieweit das Recht einer bewusstlosen nackten Frau schwerer wiegt, als das Recht einer Person, die sich sexuell über sie hermacht, ohne sie vorher auch nur angesprochen zu haben? Dafür darf es keine Toleranz geben. Vor dem Geschlechtsakt genügend Worte zu wechseln, um sicherzugehen, dass beide das Gleiche wollen, sollte das Minimum an Anstand sein, das man von Männern erwarten darf.

Welche Rollenbilder haben wir weitergegeben?

Der Fall Pelicot markiert damit einen Wendepunkt, bei dem es weit über die Frage nach Schuld und Strafe hinausgeht. Er ruft uns alle auf, gesellschaftliche Strukturen kritisch zu hinterfragen und aktiv Verantwortung zu übernehmen. Das gilt für unsere Männer, Väter und Söhne.

Für sie bedeutet es, sich unbequemen Fragen zu stellen: Wie profitieren sie von patriarchalen Strukturen? Wo greifen sie – vielleicht aus Gewohnheit oder Bequemlichkeit – auf Privilegien zurück, die anderen schaden? Und wie können sie aktiv zu Verbündeten der Frauen werden, sei es im Berufsleben, im Privaten oder im gesellschaftlichen Engagement?

Wir Frauen stehen ebenso in der Pflicht, uns selbstkritisch zu hinterfragen: Fördern wir durch Schweigen, Nachsicht oder die unbewusste Weitergabe tradierter Rollenbilder Strukturen, die wir eigentlich überwinden wollen? Unterstützen wir, vielleicht sogar ungewollt, Verhaltensweisen, die toxische Männlichkeit begünstigen?

Unsere düsteren Gedanken haben mein Mann und ich am Ende ausgesprochen. Dank des Prozesses haben wir uns mit Fragen auseinandergesetzt, die wir sonst vielleicht von uns weggeschoben hätten: Welche Rollenbilder haben wir unbewusst an unsere Kinder weitergegeben? Welche Verhaltensweisen haben wir akzeptiert, ohne sie ausreichend zu hinterfragen? Als Eltern von drei Kindern tragen mein Mann und ich die Verantwortung dafür, ihnen ein neues Verständnis von Gleichberechtigung und Respekt zu vermitteln. Wir wissen, dass es dabei nicht nur darauf ankommt, was wir ihnen sagen, sondern auch, was wir ihnen vorleben.

Dominique Pelicot wurde am 19. Dezember 2024 im französischen Avignon wegen schwerer Vergewaltigung schuldig gesprochen. Er hatte seine Ex-Frau über fast zehn Jahre immer wieder betäubt, vergewaltigt und sie fremden Männern über eine Online-Plattform zur Vergewaltigung angeboten. Dominque Pelicot wurde ausserdem der versuchten schweren Vergewaltigung der Ehefrau eines der Mitangeklagten und der Anfertigung anstössiger Bilder von seiner Tochter und seiner beiden Schwiegertöchtern für schuldig befunden. Er wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Im Verfahren standen 50 weitere Männer im Alter zwischen 21 und 68 Jahre vor Gericht: Einem warf die Staatsanwaltschaft sexuelle Gewalt vor und forderte vier Jahre Haft, den übrigen Männern lastete sie Vergewaltigung an und forderte je zehn bis 18 Jahre Haft. Das Gericht sprach 47 Männer der Vergewaltigung schuldig, zwei der versuchten Vergewaltigung und zwei der sexuellen Nötigung. Neben der Höchststrafe für Dominique Pelicot verhängte das Gericht Gefängnisstrafen zwischen drei und 15 Jahren.

Informationen und Hilfsangebote zum Thema sexualisierte Gewalt findest du hier:

Opferhilfe Schweiz

143 – Die Dargebotene Hand (Crisis support in English: heart2heart.143.ch)

BIF – Beratungsstelle für Frauen

Telefon gegen Gewalt

Beratungsstellen für Gewaltvorfälle

Frauenhäuser in der Schweiz

Für Männer, die Gewalt einsetzen und/oder sich in einer sonstigen Konflikt- und Krisensituation befinden, bietet das Mannebüro Beratungen an, auch telefonisch.

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