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Mit dieser Rolle zur Oscarnominierung

Leben

Mit dieser Rolle zur Oscarnominierung

  • Interview: Olaf Tarmas

Ein Rendez-vous mit der grossen französischen Schauspielerin Isabelle Huppert, die im düsteren Thriller «Elle» die Geschlechterrollen grandios auf den Kopf stellt – und sich damit eine Oscarnominierung als beste Hauptdarstellerin verdient hat. 

Ein grauer Wintertag in Berlin: In einem abgedunkelten Raum im Hotel Adlon empfängt Isabelle Huppert (63) zum Interview. Gedämpftes Licht, am Tisch sitzt eine reifere Dame mit Lesebrille auf der Nase. Sie wischt mit der Hand übers Tablet und blickt dann auf. Vor ihr eine halb ausgetrunkene Tasse Milchkaffee, ein Brillenetui. Zarter Händedruck, überhaupt eine fragile Erscheinung, gekleidet in einen orangefarbenen Strickpulli, passend zur rotbraunen Tönung ihres Haars. Doch zerbrechlich wirkt die 1.60 Meter kleine Schauspielerin allenfalls bis zu dem Moment, in dem sie sich dem Interviewer zuwendet – freundlich, konzentriert, souverän, plötzlich um etliches jünger wirkend.

Mit ihrer Rolle in «Elle», dem neuen Film von Paul Verhoeven, wird sie einmal mehr Furore machen. Die Kritiker liegen ihr dafür zu Füssen. «Elle» ist doppelbödig, erotisch, brutal. Ein Thriller von düsterer und verstörender Eleganz. Vor allem aber ist er ein Isabelle-Huppert-Film. Die Actrice läuft zu grosser Form auf und balanciert mit schlafwandlerischer Sicherheit über alle Abgründe des tückischen Plots. Dieser dreht sich um Michèle, eine erfolgreiche Pariser Businessfrau, die in ihrer Stadtvilla von einem Unbekannten vergewaltigt wird. Und die sich weigert, die Rolle des Opfers anzunehmen. Kühl und zielstrebig nimmt sie ihre männliche Umgebung unter die Lupe – ihre Untergebenen, ihren Ex-Mann, ihren Liebhaber, ihren Nachbarn. Und geht ansonsten, scheinbar ungerührt, ihrem normalen Leben nach – inklusive Affäre mit dem Ehemann ihrer besten Freundin. Sie weint sich nicht aus, zeigt keine Schwäche, geht nicht zur Polizei. Aber sie kauft sich eine kleine Axt – und nimmt Schiessunterricht.

annabelle: Isabelle Huppert, was für eine Art von Figur ist diese Michèle?
Isabelle Huppert: Sie ist der Prototyp einer neuen Art von Frau. Sie will nicht die klassische Rolle des Opfers spielen. Sie schmiedet einen Plan, aber sie will auch eine ganz eigene Erfahrung machen, einen ganz eigenen Weg finden, mit ihrer Vergewaltigung umzugehen.

Erscheint Ihnen dieser Weg realistisch?
Das kann nicht die Frage sein. Michèle ist eine Kunstfigur, man wird ihr sicherlich nicht auf der Strasse oder in der Metro begegnen. Die Tat ist Teil der Handlung, aber sie ist auch eine Metapher für Gewalt und missbräuchliche Machtausübung. Man sollte nicht den Fehler begehen, «Elle» als einen realistischen oder dokumentarischen Film zu betrachten. Es ist ein Film, der mit vielen Genres spielt, vor allem dem des Thrillers. Er hat reale Anteile, aber er kreiert auch eine Kunstwelt.

Darauf legt Isabelle Huppert grossen Wert: Man soll diesen Film nicht ungefiltert sehen, sondern als ein Gedankenspiel für Erwachsene, das sich mit der Frage, was gut und was böse, was stark und was schwach ist, beschäftigt. Am Ende lässt sich das Opfer auf das Undenkbare ein, und dafür erntet der Film Kritik: Er verharmlose die Folgen einer Vergewaltigung.

Für frauenfeindlich halten Sie «Elle» aber nicht?
Im Gegenteil: Es sind ja die Männer, die in der Geschichte schlecht wegkommen, die schwach wirken. Ohnehin ist keine Figur in dieser Geschichte so, wie sie zunächst scheint. Alle haben etwas, das sie vor den anderen oder vor sich selbst verbergen. Oft versteckt sich dahinter das Gegenteil von dem, wie sie sich geben. Das macht sie menschlich. Wir alle haben Seiten, die wir nicht gern zeigen, Dinge, die wir verheimlichen. Aber man kennt sich erst, wenn man auch die dunklen Seiten annimmt. Das ist schön und manchmal eben auch erschreckend – wie im wahren Leben.

Doppelbödigkeit – diese Eigenschaft trifft insbesondere auf die Figur zu, die Isabelle Huppert spielt: Sie ist eine undurchschaubare Frau, die alle Zügel in der Hand hält und sich dennoch ausliefert. Eine Figur, die empfindsam und zugleich grausam sein kann und hinter deren kühler Beherrschtheit kaum kontrollierbare Leidenschaften flackern. Niemand kann das so spielen wie Isabelle Huppert. Der Film lebt von ihrer Präsenz, sie ist in jeder Szene zu sehen, sie allein trägt den Film.

Wie gehen Sie eine so schwierige Rolle an?
Sehr intuitiv. Es ist nicht so, dass ich ein ausgefeiltes Konzept für die einzelnen Szenen hätte. Ich verschmelze mit der Rolle der Michèle so sehr, dass ich mich schwer damit tue, von «ihr» zu sprechen. Gleichzeitig bin ich ihr sehr fern. So ist es bei allen meinen Figuren: Ich bin ihnen zugleich unglaublich nah und fern. Schauspielen ist ein Experiment, das ich an mir selbst durchführe.

Das klingt aufreibend …
Oh nein, überhaupt nicht. Was ich tue, tue ich mit einer gewissen Mühelosigkeit, es fällt mir leicht. Vor allem wenn ich mit einem so grossartigen Regisseur wie Paul Verhoeven zusammenarbeite, dem ich sehr vertraue. Für so einen Film ist das Vertrauen in die künstlerische Integrität unabdingbar.

Hat Ihnen Paul Verhoeven, der Schöpfer von Klassikern wie «Basic Instinct» und «Robocop», bei der Gestaltung Ihrer Rolle eine gewisse Freiheit eingeräumt?
Gewisse Freiheit? Er hat mir totale Autonomie und Unabhängigkeit gewährt! Wir haben vom ersten bis zum letzten Drehtag kein einziges Wort über die Interpretation meiner Rolle gewechselt. Ich konnte sie ganz und gar so gestalten, wie ich es für richtig hielt.

Isabelle Huppert sagt das freundlich, beiläufig, aber sehr entschieden im Ton. Von wegen ältere Dame mit Lesebrille! Plötzlich blitzt da etwas von ihrer Filmfigur auf. Es entsteht das Bild einer grossen Künstlerin, die nach fast fünf Jahrzehnten im Beruf eine Flughöhe erreicht hat wie nur wenige Kolleginnen. Die sich widersprüchlichen Figuren mit müheloser Eleganz nähert und die imstande ist, die Hauptrolle für sehr komplexe Filme wie «Elle» mit Leichtigkeit zu interpretieren.

Reizen Sie vor allem Rollen, die ein Risiko bergen? Die moralisch doppeldeutig sind wie die der Michèle?
Diese Rolle war kein Risiko für mich – und auch keine grössere Herausforderung als andere Rollen. Mit jemandem zu drehen, den ich nicht respektiere – das wäre ein Risiko. Eines, das ich nicht eingehen würde. Aber bei diesem Film war ich mir ganz sicher.

Mit 63 eignet sich Isabelle Huppert noch immer Rollen an, von denen viele jüngere Kolleginnen nur träumen. Die Figur in «Elle» ist sexuell aktiv und begehrt, auch vor Bettszenen schreckt Huppert nicht zurück. Nimmt sie das alles wirklich so professionell?

Es war auch zu lesen gewesen, dass Sie während des Drehs geradezu besessen waren von Ihrer Rolle. Dass Sie nach der letzten Einstellung zusammenbrachen, zuckend, wie in einem Exorzismus …
Immer diese Mythen! Es war die letzte Einstellung des Films, stets ein ganz besonderer Moment. Zwölf Wochen intensive Arbeit sind von einer auf die nächste Sekunde vorbei. In diesem Augenblick zogen noch einmal alle Situationen und Erlebnisse dieser Zeit an meinem inneren Auge vorbei, blitzartig. Alle Kollegen am Set waren freudig erregt, froh und stolz, es geschafft zu haben, es gab viel Applaus, alle klatschten. Und ich habe mich aus Erleichterung und purer Freude fallen lassen. Es war ein sehr schöner Moment – offenbar haben ihn manche missverstanden.

Ab 2. 2.: «Elle» von Paul Verhoeven. Mit Isabelle Huppert und Laurent Lafitte