Werbung
Dieser Politanalyst verlor Dutzende Angehörige in Gaza – und verbreitet Hoffnung

Dieser Politanalyst verlor Dutzende Angehörige in Gaza – und verbreitet Hoffnung

Der US-palästinensische Politanalyst Ahmed Fouad Alkhatib fordert Empathie für alle Seiten: Eine seltene Stimme, die Hoffnung macht in der vergifteten Debatte um Israel und Gaza.

annabelle: Ahmed Fouad Alkhatib, die Ereignisse im Nahen Osten überstürzen sich, die Fronten im Krieg zwischen Israel und Gaza sind verhärtet. Sie aber machen sich unermüdlich für Versöhnung und friedliche Koexistenz stark. Wie sind Sie zu dieser Haltung gekommen?
Ahmed Fouad Alkhatib: Durch all die verschiedenen Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Dazu gehören meine Kindheit und Jugendjahre in Gaza, die Verbundenheit mit meiner Familie und meinen Freund:innen, die zum Teil noch immer in Gaza sind und ums Überleben kämpfen. Dazu gehören aber auch die robusten Beziehungen zu Menschen in jüdischen Gemeinschaften und der israelischen Diaspora, die ich im Laufe der Jahre hier, in den USA, kennengelernt habe. Mir ist wichtig, bei allem Leid, das mein Volk und meine Familie in Gaza erfahren, die Menschlichkeit der Israelis nicht aus den Augen zu verlieren. Erkennen wir im jeweils anderen nicht den Menschen, haben wir keine Chance auf Versöhnung.

Sie wollen ein Vorbild, ja, eine Inspiration dafür sein, wie Sie in Ihren Social Media-Beiträgen schreiben, dass man in der vergifteten Debatte um Israel-Gaza mehrere Wahrheiten vertreten und vielfältige Denkansätze haben kann. Was meinen Sie damit?
Sehen Sie, mein Ziel ist es, ein Denken anzustossen, das über das leere Gerede vom Widerstand, von Befreiung und Dekolonialisierung hinauskommt. Wenn so viele Menschen diesseits und jenseits des Atlantiks ständig anti-israelische Parolen schreien, entsteht eine undurchdringbare Mauer. Deshalb brauchen wir Leute, die diese Mauer durchbrechen und auf ein drittes Narrativ hinarbeiten, eines, das mehrere Wahrheiten enthält. Das von den Rechten des palästinensischen Volkes spricht und von jenen der Israelis, aber auch von der Gewalt der Terrororganisation Hamas und der Regierung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und den reduktionistischen Ansichten beider Regime, die uns nicht weitergebracht haben.

In einem Essay im «The Atlantic» beschreiben Sie, wie kurz nach dem 7. Oktober 2023 bei einem israelischen Luftangriff 31 Mitglieder Ihrer Familie getötet wurden. Woher nehmen Sie die Kraft, sich für Versöhnung einzusetzen, statt mit Hass zu antworten?
Es ist ein täglicher Kampf. Vor allem auch deshalb, weil ständig immer neue schreckliche Dinge ans Licht kommen, die das israelische Militär in Gaza verübt hat, und die zum Teil schamlos auf Social Media gepostet werden. Das Haus meiner Familie wurde bombardiert, das ist in meinen Augen ein Kriegsverbrechen. Und vor Kurzem erfuhr ich, dass einer meiner Cousins getötet wurde, als er in Gaza City auf einem Markt einkaufen ging. Das hat mich erneut erschüttert, wir sind zusammen aufgewachsen. Für all diese Taten mache ich die Regierung Netanjahus verantwortlich, nicht aber die israelische Bevölkerung und schon gar nicht Jüdinnen und Juden per se. Menschen aus der jüdischen Gemeinschaft, denen ich begegne, geben mir immer wieder zu verstehen, dass sie meinen Schmerz anerkennen und entsetzt sind über das Leid der Menschen in Gaza. Und was wären die Alternativen zur Versöhnung? Das wären mehr Racheakte, mehr Krieg, mehr Gewalt, mehr Instabilität. Ich bin alt genug, um diesen Teufelskreis zu erkennen.

Nochmal, angesichts dieses Grauens für Versöhnung zu plädieren, scheint ein unermesslicher Kraftakt. Wie tun Sie das?
Glauben Sie mir, ich bin weder ein Ghandi noch ein Nelson Mandela. Mein Ziel ist es, meine Wut und Trauer so zu kanalisieren, dass ich einen anderen Weg einschlagen kann. Damit die Verluste, die meine Familie und ich erlitten haben, nicht umsonst gewesen waren. Wenn zum Beispiel die Hamas den Gazastreifen wieder kontrollieren sollte, war der Tod meiner Familienmitglieder umsonst. Wenn dies nicht der letzte Krieg in Gaza war, waren die Verluste umsonst. Wenn sich die Beziehungen zwischen Palästinensern und Israelis nicht so verbessern, dass die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Angriffs deutlich sinkt, waren die Verluste umsonst. Es geht mir also um etwas, das grösser ist als meine Familie und ich selbst: darum, Empathie und Menschlichkeit als Konzepte zur Versöhnung einzusetzen. Aber es ist schwierig und sehr schmerzhaft.

Werbung

«Gaza ist kein Immobilien-Projekt, das man besitzen oder übernehmen kann»

Seit bald drei Wochen ist eine Waffenruhe zwischen Israel und Gaza in Kraft. Derzeit kehren Hunderttausende von Menschen, die in den Süden Gazas geflohenen sind, zu ihren Wohnungen und Häusern im Norden zurück, auch wenn die allermeisten bloss noch Trümmer vorfinden. Ihr Bruder, Leiter einer grossen internationalen NGO, ist noch vor Ort. Was hören Sie von ihm?
Dass die Menschen in Gaza endlich wieder zu atmen wagen. Viele, die nun zurückgehen, hoffen, intakte Teile ihres Hauses vorzufinden oder zumindest ein Zelt aufstellen zu können, wo ihr Haus einst war. Das hat auch eine grosse symbolische Bedeutung: Die Menschen sind mit ihrem Grundstück, ihrem Land zutiefst verbunden. Wir hören aber auch von Rückkehrenden, die die Strasse nicht mehr finden, an der sie einst gelebt haben, weil der Gazastreifen nach 15 Monaten Krieg völlig zerstört und nicht wiederzuerkennen ist. Mein Bruder erzählte mir, dass von unserem Haus in Gaza City nur noch die Grundmauern zweier Stockwerke stehen und der Garten unseres Nachbarn zum Friedhof umfunktioniert worden ist. Es gibt kein Wasser, keine Infrastruktur, keine Transportmittel, die ganze Gegend ist komplett unbewohnbar. Deshalb sah sich mein Bruder gezwungen, wieder in den Süden zurückzukehren.

Anlässlich des Besuchs des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu verkündete US-Präsident Donald Trump, dass er den Gazastreifen übernehmen und in eine «Riviera des Nahen Ostens» umwandeln will – unter Umständen auch mit militärischer Gewalt. Die Bevölkerung Gazas soll allen voran nach Ägypten und Jordanien «umgesiedelt» werden. Was ging Ihnen bei den Aussagen des US-Präsidenten durch den Kopf?
Die Idee, dass die USA Gaza übernehmen und die Bevölkerung zur Vertreibung zwingen wollen, ist so absurd wie katastrophal. Gaza ist kein Immobilien-Projekt, das man besitzen oder übernehmen kann. Gaza gehört dem palästinensischen Volk. Das bedeutet nicht, dass es in Gaza nicht Menschen gibt, die den Küstenstreifen sehr gerne verlassen und sich anderswo ein besseres Leben aufbauen würden. Die meisten aber wollen bleiben und am Wiederaufbau Gazas mitwirken, wollen Teil der Zukunft ihres Landes sein. Der Vorschlag der Trump-Administration zielt jedoch nicht darauf ab, der palästinensischen Bevölkerung tatsächlich ein besseres, ein neugestaltetes Gaza zu bieten, stattdessen stinkt er nach Opportunismus, Landraub und Zwangsvertreibung.

Welche Konsequenzen haben diese Pläne für die USA?
Für die USA sind die Pläne Trumps geradezu selbstmörderisch. Sie werden zu noch mehr Chaos, noch mehr Hass, Wut und hetzerischer Rhetorik führen, zu noch mehr Antisemitismus und Antiamerikanismus – gerade auch deshalb, weil die USA mit ihren Waffenlieferungen an Israel den Krieg in Gaza quasi unterstützt haben. Zudem ermöglichen sie es der Hamas und anderen Akteuren der «Achse des Widerstands» sowie der rechtsradikalen Regierung Netanjahus, von ihrem Versagen abzulenken – auch davon, dass es dringend eine politische Lösung braucht, um der Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen zu entziehen.

Die Hamas gibt sich jedoch ungebrochen. Dass sie in Gaza noch immer den Ton angibt, zeigte sie auch bei der Inszenierung der Freilassung israelischer Geiseln: So wurden eine junge Frau und ein achtzigjähriger Mann durch einen johlenden Mob geschleust, andere Geiseln auf eine Bühne geführt und dazu angehalten, in die Kameras zu winken, dazu erhielten sie eine Art Goodie-Bag, der unter anderen ein Foto aus der Zeit ihrer Gefangenschaft enthalten soll. Wie ordnen Sie das ein?
Diese verachtenswerten Inszenierungen sind ein verzweifelter Versuch, den Anschein von Stärke zu erwecken. Denn die Hamas ist sich des Ausmasses der Katastrophe bewusst, in der sie sich befindet; sie ist in allen ihren Kriegszielen gescheitert. Abgesehen von den paar Hundert Menschen, die wohl dafür bezahlt worden sind, ihnen bei der Übergabe der Geiseln an das IKRK zu applaudieren, kam diese zynisch-groteske Propagandashow bei Palästinenser:innen schlecht an. Viele sind wütend darüber, kaufen der Hamas die Siegesgeschichte nicht mehr ab – zumal die Hamas keinen Plan hat, den sie den Menschen wirklich anbieten kann. Denn Fakt ist: Die internationale Gemeinschaft wird keinen Cent an Wiederaufbaugeldern in den Gazastreifen pumpen, solange die Hamas noch die Kontrolle innehat.

Werbung

«Bemerkenswert ist, dass Donald Trump seine Übernahmepläne zu dem Zeitpunkt formuliert, an dem Verhandlungen über eine zweite Phase der Waffenruhe in Gang sind»

Die Waffenruhe hat am 19. Januar begonnen und soll zunächst für 42 Tage gelten. Inwiefern wird die nun von den Gaza-Plänen des US-Präsidenten beeinflusst?
Das bleibt abzuwarten. Bemerkenswert ist, dass Donald Trump seine Übernahmepläne zu dem Zeitpunkt formuliert, an dem Verhandlungen über eine zweite Phase der Waffenruhe in Gang sind. Es geht darum, dass die Hamas weitere Geiseln freilässt und die israelischen Streitkräfte sich im Gegenzug dauerhaft aus dem Gazastreifen zurückziehen. Zudem sollen Strategien zur Zukunft des Gazastreifens diskutiert werden. Wie ich im «Foreign Policy» schreibe, beabsichtigt der US-Präsident mit seinen Plänen, die Golfstaaten, aber auch Ägypten und Jordanien wohl dazu zu bringen, mehr für Gaza zu tun.

Was konkret?
Ägypten und Jordanien sollen eine grössere sicherheitspolitische Rolle im Gazastreifen übernehmen, von den Golfstaaten erhofft er sich, dass sie den Wideraufbau des Küstenstreifens finanzieren. Saudi-Arabien hat jedoch nur wenige Stunden nach der Pressekonferenz im Weissen Haus klargemacht, dass es auf seiner Forderung nach einer Zweitstaaten-Lösung beharrt. Mehr noch: Für das Königreich ist die Gründung eines palästinensischen Staates Voraussetzung für die von Trump angestrebte Normalisierung zwischen Saudi-Arabien und Israel.

Geht es um den Krieg zwischen Israel und der Hamas polarisieren sich nicht nur Weltmächte, sondern auch Menschen, die Tausende von Kilometern von den eigentlichen Konfliktzonen entfernt leben. Mittlerweile zerbrechen sogar Freundschaften daran. Wie konnte es so weit kommen?
Ich glaube, dies hat damit zu tun, dass gerade viele junge Menschen diesen Krieg in Echtzeit in den Sozialen Medien miterleben. Der 7. Oktober 2023 markiert ausserdem den ersten, gross angelegten tödlichen Angriff auf Israel durch Palästina. Doch weil die Bevölkerung Gazas, und damit auch die Terrororganisation Hamas als Opfer der israelischen Besatzung gelten und damit als Opfer eines historischen Unrechts, sind viele Menschen nicht bereit zu glauben, dass ebendiese Opfer tatsächlich solche abscheulichen Kriegsverbrechen begangen haben. Hinzu kommt, dass es kurz nach dem Terrorangriff in israelischen Medien konkrete Fälle von falschen Behauptungen gegeben hat, wie etwa jene von den vierzig enthaupteten Babys oder den Babys, die in Öfen verbrannt worden seien. Darunter mischten sich Mutmassungen darüber, dass das israelische Militär selbst, nicht die Hamas, israelische Zivilist:innen getötet haben soll. Das alles hat eine Dynamik geschaffen, bei der man entweder nicht glauben will, nicht weiss, was man glauben soll, oder nicht glauben kann, was am 7. Oktober wirklich passiert ist.

«Wir sehen in diesem Krieg ein massives Ungleichgewicht der Machtdynamik, in der Israel die Oberhand hat»

Die Zerstörung in Gaza scheint in Israel weitgehend verdrängt zu werden. Können Sie das bestätigen?
Ja, mehr aber noch: Die Gräueltaten an der Bevölkerung Gazas werden oft als «Pallywood» bezeichnet, als Fake News abgetan. Das heisst nicht, dass es unter den Bildern aus Gaza, die die Sozialen Medien fluten, nicht auch gefaktes Propagandamaterial gibt. Aber wir sehen in diesem Krieg ein massives Ungleichgewicht der Machtdynamik, in der Israel die Oberhand hat. Dennoch sind beide Seiten gleichermassen in der Lage, sich gegenseitig zu entmenschlichen, Gräueltaten zu begehen, falsche Behauptungen aufzustellen, das Leiden der anderen Seite herunterzuspielen. Dazu kommt, dass sich das Pro-Palästina-Lager, dem sowohl Palästinenser:innen in der Diaspora wie auch andere Mitglieder der arabischen Community und viele westliche nicht-palästinensische Verbündete angehören, radikalisiert hat. Das hat eine furchtbar destruktive Entwicklung in Gang gesetzt.

Viele gehen aber aus echter Betroffenheit über das Schicksal der Menschen in Gaza auf die Strasse.
Klar, aber unter diese Demonstrierenden haben sich auch Links- und Rechtsextremisten gemischt, naive, privilegierte Jugendliche, Studierende, ja sogar Professor:innen. Letztere mache ich besonders für den Hass gegen Israel und den Antisemitismus verantwortlich, der sich wie ein Buschfeuer verbreitet. Denn in ihrem Streben, durch eine postkoloniale Linse eine soziale Gerechtigkeit zu vermitteln, die die Welt schablonenhaft in Unterdrücker und Unterdrückte presst, tragen sie zur Radikalisierung junger Studierender in der westlichen Welt bei. Das Pro-Palästina-Lager hat sich in eine spaltende Rhetorik verheddert, die kaum mehr etwas mit der Realität der Bevölkerung in Gaza und der Westbank zu tun hat. Im Gegenteil.

Das heisst?
Indem sie das Opfernarrativ des palästinischen Volkes feiern, berauben sie die Menschen in Gaza einer Alternative. Denn viele Palästinenser:innen wenden sich von der Hamas ab und machen sie dafür verantwortlich, dass sie ihr Leben zerstört hat und ihre Kinder nichts anderes kennenlernen als eine extremistische Ideologie, Blockaden und israelische Bombardements. Und nach wie vor werden Zivilpersonen von der Hamas gefoltert und hingerichtet, weil sie es wagen, gegen die Islamisten zu protestieren.

Ein zentraler Begriff der Pro-Palästina-Bewegung, ist, wie Sie bereits erwähnt haben, «Resistance», Widerstand. Damit wird suggeriert, dass der Angriff der Hamas auf Israel ein Akt des Widerstands und deshalb irgendwie berechtigt war. Wie sehen Sie das?
Politischer Widerstand ist kein Freipass dafür, Gräueltaten zu begehen, wie wir sie an jenem 7. Oktober gesehen haben. Kann man es denn wirklich in Ordnung finden, Frauen, Männer und Kinder als Geiseln zu nehmen? Gruppen von Partygänger:innen einfach niederzumähen, Granaten zu werfen und Menschen in ihren Schutzkellern lebendig zu verbrennen? Indem sich die Pro-Palästina-Bewegung in den USA, in Deutschland oder in der Schweiz gefahrlos «Resistance» auf die Fahnen schreibt, ruft sie zum Terrorismus als Form des Widerstands auf, und das ist so schwachsinnig wie hochproblematisch. Zumal es mit solchen Parolen niemals gelingen wird, politische Strategien zur Deeskalation zu entwickeln. Das ist eine vertane Chance.

«Netanjahu und sein Regime gäbe es ohne die Hamas und deren bewaffneten Widerstand nicht»

Das Narrativ des bewaffneten Widerstands gehört quasi zur DNA der neueren Geschichte Palästinas. Insofern liegt es nahe, dass es nun wieder aufgenommen wird.
Die Ideologie des bewaffneten Widerstands existiert seit 76 Jahren. Sie wurde erst bewirtschaftet von palästinensischen Nationalist:innen und von säkularen, linken und kommunistischen Gruppen wie der Palästinensischen Befreiungsorganisation, PLO, der Fatah, und der Demokratischen Volksfront zur Befreiung Palästinas, PFLP. Auch die Terroranschläge an den Olympischen Spielen in München 1972 sind eine Variante davon. Heute haben wir die islamistische Hamas, die sich unter der Führung Irans mit zwei der schlimmsten Milizen des Nahen Ostens, der libanesischen Hisbollah und den jemenitischen Huthi, zur «Achse des Widerstands» zusammengeschlossen haben. Was hat diese «Resistance» gebracht? Sie hat die extreme Rechte in Israel gestärkt, die Friedensbewegung weitgehend erstickt. Netanjahu und sein Regime gäbe es ohne die Hamas und deren bewaffneten Widerstand nicht. Sie gab ihnen einen Hebel, um die Palästinensische Autonomiebehörde zu schwächen, eine Zweistaatenlösung zu verhindern und zu behaupten, keinen Partner für Frieden zu haben.

Sie sagen, um die Debatte auf eine neue Ebene zu bringen, brauche es einen radikalen Pragmatismus. Was verstehen Sie darunter?
Radikaler Pragmatismus bedeutet, zu akzeptieren, dass Israel ein Recht auf Sicherheit hat, so wie Gaza und die Westbank ein Recht auf Sicherheit, Selbstbestimmung und Würde haben. Radikaler Pragmatismus bedeutet, dass es ein weitaus mutigeres und revolutionäreres Ziel ist, auf Frieden und Koexistenz mit Israel zu setzen, als auf den Widerstand mit Raketen und Gewehren. Radikaler Pragmatismus bedeutet, zu verstehen, dass wir seit dem Rückzug Israels aus dem Gazastreifen vor zwanzig Jahren nichts erreicht haben. Anstatt Gaza zu einem prosperierenden Ort zu machen, wurden aufgrund der katastrophalen Führung Milliarden von Entwicklungsgeldern und Zehntausende von Menschenleben verschwendet. Radikaler Pragmatismus erkennt, dass die palästinensische Bevölkerung Israel und die jüdischen Gemeinden als Partner braucht, um Freiheit und Unabhängigkeit zu erreichen. Radikaler Pragmatismus bedeutet aber auch, zu begreifen, dass wir alle Menschen sind, dasselbe Blut haben, und dass unsere Völker nebeneinander bestehen bleiben werden.

Das hört sich nun aber sehr idealistisch an. Wie wollen Sie diesen radikalen Pragmatismus mehrheitsfähig machen?
Um es vorwegzunehmen, ich strebe keine Führungsrolle in Gaza oder in der Westbank an. Dafür bin ich zu weit weg vom eigentlichen Geschehen, zudem argumentiere aus der Warte eines sicheren und privilegierten Lebens in den USA. Mein Ziel ist es, in der Diaspora ein neues palästinensisches Nationalbewusstsein zu schaffen, das das politische Geschehen vor Ort beeinflussen kann. Da die Menschen in Gaza und im Westjordanland durch ihren täglichen Überlebenskampf geschwächt sind und kaum die Kraft aufbringen, politische Visionen zu entwickeln, wird der Diaspora in dieser Beziehung eine umso grössere Rolle zuteilwerden.

«Radikaler Pragmatismus bedeutet, zu begreifen, dass wir alle Menschen sind, dasselbe Blut haben, und dass unsere Völker nebeneinander bestehen bleiben werden»

Sie waren kürzlich in London, haben dort auch den ehemaligen britischen Premierminister Tony Blair getroffen und sind mit jüdischen Gruppen zusammengekommen. Welche Erkenntnisse haben Sie daraus gewonnen?
Dass es eine immense Sehnsucht gibt nach Räumen, in denen Menschen angstfrei aufeinander zugehen können. Solche Räume existieren derzeit kaum, Hass und anti-israelische Parolen haben zu extremen Positionen geführt, die weit über jegliche politische Opposition hinausgehen und jede Art von Dialog verunmöglichen. Wird jedoch anerkannt, dass der Terrorangriff vom 7. Oktober das schlimmste Verbrechen gegen Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust war, dass das Schicksal der Geiseln die israelische Bevölkerung verstört, dass Israel, wie jede andere Nation auch, Sicherheitsbedenken hat, dann lässt sich über alles reden: Darüber, was in Gaza geschieht, über die Hamas, darüber, was mit meiner Familie passiert ist. Ähnliche Erfahrungen habe ich bei einem Moscheebesuch gemacht. Zwar gab es eine Menge Leute, die mir feindselig gegenüberstanden, weil ich mich kritisch über die Hamas äusserte. Trotzdem gelang es uns, uns respektvoll auszutauschen.

Welche Signale erhielten Sie von der Politik?
Vordergründig herrscht Resignation, die Diskussionen stecken in der Sackgasse. Doch hinter den Kulissen existiert ein verzweifelter Wunsch nach kreativem Denken und neuen Ideen. Man will den Gazastreifen nicht nur wiederaufbauen, sondern neu denken. Das stimmt mich optimistisch. Gaza braucht eine Renaissance, eine vollständige Wiederbelebung, bei der es um weit mehr als um den Wiederaufbau von Gebäuden und Infrastruktur geht. Es gilt, endlich den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen.

Der Golfstaat Katar nimmt in den Verhandlungen zur Waffenruhe und der Freilassung der israelischen Geiseln eine zentrale Funktion ein. Inwiefern wird Katar in der Zukunft von Israel und Gaza eine Rolle spielen?
Die Krux ist, dass Benjamin Netanjahu die Hamas jahrelang mit Koffern voller Bargeld aus Katar finanziert hat, um sie an der Macht zu halten und die Fatah in der Westbank auszuhebeln – was sich als schrecklicher Bumerang erweisen hat. Ja, Katar hat auf Wunsch der israelischen Führung gehandelt. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Katar ein ideologischer Unterstützer der Muslimbruderschaft und somit auch der Hamas ist und somit zur Situation beigetragen hat, in der wir uns heute befinden. Aus diesem Grund sollte der Golfstaat in der Zukunft von Israel und Gaza keine monopolistische Rolle einnehmen.

«Ich sehe ein Gaza, das offen ist zur Welt und seinen jungen Menschen ermöglicht, ausserhalb ihres Landes Erfahrungen zu sammeln»

Wie sieht Ihre Vision für Gaza aus?
Ich sehe ein föderalistisches System, in dem Gaza und die Westbank den Status von halb-autonomen Gebieten innehaben, die Teile eines Staates Palästina sind. Ich sehe ein Gaza, das offen ist zur Welt und seinen jungen Menschen ermöglicht, ausserhalb ihres Landes Erfahrungen zu sammeln, die sie für den Aufbau ihres Landes inspirieren. Ich sehe die Palästinensische Autonomiebehörde als legitime Partnerin für die Sicherung des Gazastreifens, die dabei von einer arabischen oder internationalen Friedenstruppe unterstützt wird. Auf diese Weise könnte Gaza innerhalb von fünf Jahren stabilisiert und so weit aufgebaut werden, dass die Wirtschaft wieder in Gang kommen und ein politisches Modell Form annehmen kann.

Dafür muss aber erst mal sichergestellt werden, dass der Krieg beendet wird.
Genau, und, dass es keine Umsiedlung der palästinensischen Bevölkerung oder dauerhafte militärische Besatzung gibt, und dass die Hamas nicht wiedererstarkt. Jetzt, da sich der Iran zurückgezogen hat, die libanesische Hisbollah geschwächt und das Assad-Regime in Syrien kollabiert ist, wäre der geeignete Zeitpunkt dafür, der Terrorgruppe ein Maximum an politischen Zugeständnissen abzuringen. Zum Beispiel einem 50-jährigen Waffenstillstandsabkommen mit Israel zuzustimmen und eine Zweistaatenlösung zu akzeptieren. Ein solches Abkommen könnte der erste Schritt sein, das Machtmonopol der Hamas zu brechen.

Derzeit greifen extremistische israelische Siedler:innen in der Westbank fast täglich palästinensische Dörfer an, zerstören Farmland und Moscheen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Zudem wird die Annexion des Gazastreifens wie der Westbank und die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung unverhohlen ausgesprochen. Die Worte des US-Präsidenten wirken dabei wie Wasser auf die Mühlen, während bei Palästinenser:innen das Trauma der Nakba, ihrer Vertreibung bei der Gründung Israels 1948, wieder wach wird. Lässt sich da an eine friedliche Zukunft denken?
Die Terrorangriffe der extremistischen Siedler:innen sind unentschuldbar und verstossen gegen israelisches wie internationales Recht. Sie sabotieren jegliche Ideen für Versöhnung, Frieden und Koexistenz. Das Annexions-und-Umsiedlungs-Szenario begann unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 in politisch rechten Kreisen Israels zu kursieren. Diese Pläne sind völkerrechtswidrig und werden von arabischen Ländern wie europäischen Staaten kategorisch abgelehnt. Meine grosse Hoffnung besteht darin, dass sich eine echte Chance eröffnet, einen Weg zu gehen, der aus dem Teufelskreis der Gewalt herausführt, sobald die aktuelle israelische Regierung abgewählt ist. Und ich hoffe, dass die Mehrheit der Menschen Israels und Palästinas diesen Weg wählen werden.

Über 47’000 Menschen sind in Gaza getötet worden, Tausende von Kindern verstümmelt und verwaist. In Israel sind die Erinnerungen an den 7. Oktober noch frisch, noch immer werden Geiseln in Gaza festgehalten. Werden Versöhnung und Heilung überhaupt möglich sein?
Erst, wenn der Krieg tatsächlich aufhört, die Massaker, der Hunger. Erst, wenn alle israelische Geiseln und alle Palästinenser:innen, die ohne Anklage in israelischen Gefängnissen festgehalten werden, freigelassen sind. Erst dann wird es Raum geben, sich einander anzunähern und die zerstörten Leben wieder aufzubauen. Doch Heilung und Versöhnung werden Zeit brauchen – Jahre, vielleicht sogar Generationen.

Ahmed Fouad Alkhatib (34) ist Senior Fellow der Scowcroft Middle East Security Initiative der US-Denkfabrik Atlantic Council und analysiert und kommentiert die Entwicklungen im Gazastreifen und der Westbank für amerikanische sowie internationale Publikationen. Er hat einen Bachelor in Betriebs­wirtschaft und einen Master in nachrichtendienstlichen und nationalen Sicherheitsstudien.

Alkhatib wuchs in Gaza­ Stadt auf, war ein meisterhafter Drachenbauer. 2005 ging er als Austauschstudent in die USA. In Gaza stiess dieses Austauschprogramm auf Misstrauen. Viele glaubten, dass es sich dabei um eine Art Geheimplan handelte, der darauf abzielte, junge Leute einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Als er im Sommer 2006 nach Gaza zurückkehren wollte, hatten die Hamas eben den israelischen Soldaten Gilad Shalit entführt, wodurch es in Gaza zum Krieg kam zwischen Israel und der Hamas. Da diese Geschehnisse eine Rückkehr für ihn zu gefährlich machten, beantragte er politisches Asyl in den USA.

Subscribe
Notify of
guest
0 Comments
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments