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Diese zwei Frauen sind dem Tod von der Schippe gesprungen

Zeitgeist

Diese zwei Frauen sind dem Tod von der Schippe gesprungen

Dieses Gespräch über ein sterbenswertes Leben hätte rein statistisch gar nicht stattfinden dürfen – denn sowohl unsere Autorin als auch Jacqueline Lalive d'Epinay sind dem Tod mehr als einmal von der Schippe gesprungen. Was für ein Glück!

Es gibt Dinge, die sind so unwahrscheinlich, dass ihre Existenz ein wahres Wunder ist: intelligentes Leben auf der Erde, ein Sechser im Lotto, gewisse Zufallsbegegnungen an abgelegenen Orten. Treten sie ein, dann reden wir gern vom Schicksal – anders können wir uns die statistische Unglaublichkeit oft nicht erklären.

So ähnlich war das auch mit dem Gespräch, das ich an einem kalten Augustmorgen hatte. Glaubt man den Statistiken, war es eine absolute Anomalie, eine mathematische Ausnahme, ein unglaubliches Glück. Denn: Wir beide hätten zum Zeitpunkt des Treffens schon längst tot sein können. Ja, vielleicht sogar tot sein müssen. Und doch trafen wir uns an jenem Morgen an einer Kreuzung in Zürich, ich, eine quietschfidele 29-Jährige, und Jacqueline Lalive d’Epinay, eine äusserst lebendige 47-Jährige.

Auf dem Weg zum Treffen hatte ich mir vorgenommen, meine Gesprächspartnerin als Erstes zu fragen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, dass sie noch lebe. Bei mir selbst weiss ich das einigermassen genau: Die Chance liegt irgendwo zwischen vierzig und drei Prozent – je nachdem, welcher Studie man glaubt.

Überraschenderweise immer noch am Leben

Seit meiner Kindheit erlebe ich immer wieder Ohnmachten: Mein Herz rast, mein Kopf rauscht und Dunkelheit breitet sich über meinem Sichtfeld aus. Von anderen wurden diese Ohnmachten ähnlich wie epileptische Anfälle beschrieben, und bei mir auch relativ schnell als solche von den Ärzten diagnostiziert.

Über fünfzehn Jahre lebte ich damit, hatte mehrere Dutzend Ohnmachten und nahm alle möglichen Medikamente, die mal mehr und mal weniger halfen. Bis eine Neurologin im Jahr 2018 alles hinterfragte. Die Ohnmachten sollten nicht von meinem Gehirn ausgelöst werden, sondern von meinem Herzen.

Die neue Diagnose lautete: lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen. Unbehandelt führen sie bei den meisten Menschen zum plötzlichen Herztod. Seit der vergangenen Fussball-EM und dem Herzstillstand von Christian Eriksen mitten im Spiel zwischen Dänemark und Finnland wissen die Menschen, wie so etwas aussehen kann. Dass ich überhaupt noch am Leben war, überraschte die behandelnden Ärzte damals ungemein.

25 Mal hat mein Herz wieder selber in den Takt gefunden

Aus irgendeinem Grund hatte sich mein Herz jedes Mal wieder von selbst gefangen, wenn es aus dem Rhythmus geraten war und mein Puls in Richtung zweihundert schnellte. Mehr als 25 Mal hatte irgendetwas mein Herz wieder beruhigt, es regelmässiger schlagen lassen – und ich war wieder aufgewacht. Statistisch gesehen ein ziemliches Wunder.

Nach der Diagnose lief ich noch ein paar Tage mit etwas in der Brust herum, das sich nach einer tickenden Zeitbombe anfühlte. Dann bekam ich einen Defibrillator eingesetzt, der mir seither schon mehrmals mit einem heftigen Stromschlag das Leben gerettet hat – jedes Mal, wenn mein Puls ausser Kontrolle gerät und ich kurz vor dem plötzlichen Herztod stehe.

Die neue Diagnose und die mehrmaligen Wiederbelebungen durch meinen Defibrillator machten mir Mitte zwanzig etwas sehr deutlich: Ich bin sterblich. Eigentlich hätte mich diese Einsicht nicht sonderlich überraschen dürfen. Wir alle wissen, dass wir sterblich sind. Wer kennt nicht den Spruch «Das Leben ist kurz»?

Wir haben uns vom Tod entfremdet

Und trotzdem ist unsere eigene Endlichkeit etwas, das wir gern ignorieren. Wir leben unser Leben, als würde es ewig dauern und als wäre das Einzige, was wir ganz genau und sehr konkret über unsere eigene Zukunft wissen, völlig irrelevant.

Wir verstecken unsere Toten hinter hohen Friedhofsmauern. Wir verfrachten unsere Sterbenden in Altersheime und Spitäler. In Letzteren stirbt etwa die Hälfte aller Menschen in Deutschland, in der Schweiz sind es immerhin 37 Prozent – und das, obwohl sich laut einer Studie des deutschen Hospiz- und Palliativ-Verbands nur etwa vier Prozent ihren Tod im Spital vorstellen.

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«Die ultimative Vergänglichkeitsfrage: Werde ich auf dem Sterbebett darüber nachdenken?»

Die «Institutionalisierung des Sterbens» nennt das der Soziologe Reimer Gronemeyer und sieht es als Ausdruck unserer Entfremdung vom Tod. Nun, ich möchte hier nicht mit erhobenem Finger unsere Fehler im gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod aufzeigen. Vielmehr möchte ich die Frage stellen, inwiefern es uns möglich ist, anders mit dem Thema umzugehen.

Die eigene Vergänglichkeit immer im Kopf haben

Geht es denn überhaupt, den Tod in unserem Alltag präsenter zu machen – und nicht daran zu verzweifeln? Ist es überhaupt erstrebenswert, die eigene Vergänglichkeit immer im Kopf zu haben? Wie kann man gut leben, wenn man sich bewusst ist, dass das Leben endlich ist?

Teilweise habe ich bereits meine eigenen Antworten auf diese Fragen gefunden. Ich habe sie aufgeschrieben – in mehreren Artikeln und mittlerweile auch in einem Buch. Aber die Gelegenheit, mit einer anderen Person, die in einer ähnlichen Situation ist, in aller Tiefe über diese Fragen zu sprechen, hatte sich mir bisher nicht geboten.

«Tut mir leid, dass ich zu spät bin», entschuldigt sich Jacqueline Lalive d’Epinay. Unser Gespräch über Leben und Tod passt genau zwischen die Morgenhektik und die Mittagspause, in der ihre Kinder wieder vor der Tür stehen und etwas zu essen möchten. Wir setzen uns in einem nahegelegenen Friedhof auf eine Bank mit Blick über einen Weinberg und das Limmattal.

Die Frage nach der Lebenswahrscheinlichkeit

«Wie wahrscheinlich ist es, dass du noch am Leben bist?», frage ich nun also als Erstes. Jacqueline Lalive d’Epinay hat dunkelblonde Haare, die sie in einem entspannten Knoten auf dem Kopf trägt, und steckt in einem weiten, schwarzen Pulli. Wenn sie lacht – was sie oft tut –, graben sich Grübchen in ihre Wangen. Man sieht ihr nicht an, was sie mir gleich erzählen wird.

«Bei einer der ersten OPs wurde mir gesagt, dass es fifty-fifty für mich steht. Danach hat mir nie wie- der jemand etwas Genaueres gesagt, weil die Chancen vermutlich noch viel schlechter waren.» Ich brauche ein paar Minuten, bis ich Jacquelines Leidensgeschichte verstanden und in eine chronologische Reihenfolge gebracht habe. Denn bei ihr ist es nicht wie bei mir nur eine Sache, die sie mehrmals an den Rand des Todes gebracht hat.

Im Alter von 29 Jahren überlebt sie einen Unfall, bei dem ein Auto geradewegs über sie drüberfuhr, erst das Vorderrad, dann das Hinterrad. Es dauerte einige Zeit, bis Jacqueline wieder auf die Beine kam – buchstäblich. Doch sie schaffte es. Sie arbeitete weiter als Designerin, machte eine Yoga-Ausbildung, bekam ein Kind und heiratete. Dann kam Schwangerschaft Nummer zwei und mit ihr wieder die Sterblichkeit in ihr Leben.

Die Fünfzig-fünfzig Situation

Zwei Tage vor dem Geburtstermin erwachte sie mit Schmerzen, die so stark waren, dass ihr sofort klar war, dass es um Leben um Tod ging. Im Spital wurde erst das Baby untersucht, doch nichts Auffälliges festgestellt. Irgendwann beschloss ein junger Assistenzarzt, Jacquelines Aufforderungen nachzugeben und auch sie zu untersuchen. Er stellte einen Aorta-Riss fest.

Jetzt ging es schnell: Not-OP. Das Kind musste geholt und Jacquelines Leben gerettet werden. Das war die Fünfzig-fünfzig-Situation, von der ihr die Ärzte direkt vor der Operation erzählten. «Ich lasse euch nicht im Stich», hat Jacqueline damals zu ihrem Mann gesagt und sie hielt ihr Wort. Sie überlebte. Doch ein halbes Jahr nach der OP war sie bereits wieder zurück im Spital.

Ihre künstliche Aorta, die Herzklappe und grosse Teile ihres Brustraums hatten sich entzündet. Eine über zweijährige Odyssee begann: Antibiotika-Infusionen und unzählige Operationen, teilweise im Fünf-Tages- Rhythmus. Auch ein Schrittmacher musste eingesetzt werden, da ihr Herz nicht mehr allein weiterschlagen konnte. Doch auch dieses Mal: Jacqueline überlebte.

Das Leben leben wollen

Heute spürt sie jeden Herzschlag, der das Blut durch den künstlichen Schlauch in ihrer Brust pumpt. Sie lacht, wenn sie davon erzählt, wie sie einmal bei Freunden auf der Couch lag und sich selber Infusionen legte, während die anderen weiter beim Dinner sassen. Sie wollte trotz allem ihr Leben leben. Ich stelle ihr die Frage, die auch mir so oft gestellt wird: «Wenn einem so etwas passiert, wie schafft man es, positiv zu bleiben?»

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«Nach der Diagnose war mein Körper für mich nicht mehr ein Verräter, sondern ein stiller Held»

Ich bin gespannt, was sie sagt, denn ich selbst habe bisher keine zufriedenstellende Antwort gefunden. Die Positivität war bei mir einfach immer da. Ich musste mich nicht bewusst für sie entscheiden. Vielleicht ist es eine genetische Disposition, vielleicht auch einfach nur Naivität.

Jedenfalls ist der einzige «Happiness-Hack», den ich den Fragenden anbieten kann, das, was ich «die ultimative Vergänglichkeitsfrage» nenne. In Situationen, in denen ich mich über etwas aufrege oder mich von etwas stressen lasse, frage ich mich: Werde ich auf meinem Sterbebett darüber nachdenken? Bisher war in ausnahmslos jedem Fall die Antwort: Nein. Die Steuererklärung, der Streit oder das eine Arbeitsprojekt werden nicht die Dinge sein, die ich am Ende in mein Lebensrésumé einbeziehen werde. Das kann ziemlich befreiend sein.

Am Alltag lässt es sich wunderbar festhalten

«Am Anfang geht es nur um Leben und Tod», sagt Jacqueline. «Entweder du tust, was du kannst, um zu überleben, oder du stirbst. Da bleibt kein Raum für Negativität, zumindest nicht, wenn man leben möchte. Später kostet es Kraft, das Positive zu suchen. Auch wenn das klischeehaft klingt: Mir hat Yoga dabei geholfen. Und meine Kinder. Die haben mich im Alltag gehalten.»

Oft erzählen wir uns Geschichten, in denen Menschen ein einschneidendes Erlebnis haben und darauf hin konsequent ihr Leben verändern. Das klingt gut und eignet sich hervorragend für Filme oder Bücher. In Wahrheit jedoch ist es der Alltag, an dem man sich wunderbar festhalten kann.

Sowohl Jacqueline als auch ich haben nach unseren Sterblichkeitserfahrungen versucht, so schnell wie möglich wieder dorthin zurückzufinden. Zu funktionieren. Dem Umfeld nicht unnötig zur Last zu fallen. Man möchte weitermachen, zum Leben zurückkehren, das man hatte. Und doch ist da irgendwann die Stimme im Kopf, die einen fragt, ob man wirklich das Leben lebt, das man im Angesicht der eigenen Endlichkeit leben möchte.

Wie führt man ein sterbenswertes Leben?

Ein sterbenswertes Leben – so habe ich es im Manuskript meines Buches ausdrückt. Mein Lektor strich diese Formulierung jedoch, sie würde zu negativ klingen, meinte er. Aber ist es nicht genau das, worum es geht? Um ein Leben, an dessen Ende – wann immer es eintreten sollte – man sagen kann: Ja, genau so wollte ich meine Zeit verbringen, und jetzt ist es okay zu gehen?

Eins weiss ich: Es ist nicht leicht, ein Leben zu führen, das diesen Ansprüchen genügt. «Manchmal ist es anstrengender, erfahren zu haben, dass das Leben endlich ist. Und es trotzdem nicht zu schaffen, mit sich selbst so umzugehen, wie man es von sich erwarten würde», sagt Jacqueline.

Das echte Leben ist leider nicht wie ein Hollywood-Film. Man wacht nicht auf mit einer plötzlichen Einsicht und krempelt sein ganzes Leben um, weil man verstanden hat, dass die eigene Zeit begrenzt ist. Die Erwartung, nun die Weisheit in sich tragen und radikal danach handeln zu müssen, wird einem allerdings von allen Seiten entgegengespült. Andere erwarten, dass man sich nun freimacht von unnötigen Zwängen und nur noch im Moment lebt. Buddha-esk, im konstanten Zen-Gefühl.

Der Druck, nur noch entspannt und achtsam zu leben

Jacqueline erzählt, dass sie immer noch oft denkt, viel leisten zu müssen. Keramik-Atelier, Yoga-Stunden, Familie. All das macht ihr Spass, all das will sie wirklich machen. Aber ist das genug? Immer wieder wird sie gefragt, ob sie nicht langsamer machen will – angesichts der Dinge, die ihr passiert sind. «Das ist ein Druck. Ein Muss, nur noch entspannt und achtsam zu leben. Ein Nicht-mehr-Müssen-Müssen.»

Ein Spaziergänger schlendert an uns vorbei. Ich frage mich, was er wohl denkt, wenn er unsere Wortfetzen hört. Andere Leute sind manchmal fast enttäuscht, wenn man ihnen sagt, dass die Begegnung mit dem eigenen Tod einen nicht zwingend weiser macht. Ja, Jacqueline hat nach ihrem ersten Unfall eine Yoga-Ausbildung begonnen.

Ja, ich habe vor Kurzem meinen Job gekündigt und mich als Coach und Autorin selbstständig gemacht – etwas, das ich mich ohne die Konfrontation mit meiner Endlichkeit sicher erst viel später getraut hätte. Ja, ich habe eine Coaching-Methode entwickelt, die mir hilft, mein Leben zu gestalten, und nach der ich nun versuche zu leben. Aber das alles hat seine Zeit gedauert. Es war eher das Ergebnis vieler kleiner Veränderungen als ein grosser Befreiungsschlag.

Das Leben hat kein Mindesthaltbarkeitsdatum

Ich bin mir nicht sicher, inwiefern es möglich ist, die eigene Endlichkeit tagtäglich zu spüren und danach zu handeln. Was ich allerdings weiss, ist, dass das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit einem die Chance bietet, sein Leben immer wieder neu auszurichten. Gespräche wie dieses und die elektrischen Schocks meines Defibrillators rufen mir immer wieder ins Gedächtnis, dass alles, worüber ich mir sicher sein kann, nur meine derzeitige Lebendigkeit ist.

Was morgen oder übermorgen kommt, weiss ich nicht. Mein Leben hat kein Mindesthaltbarkeitsdatum wie die Milch im Kühlschrank. Nur weil die durchschnittliche Lebenserwartung einer Frau in der Schweiz bei über achtzig Jahren liegt, heisst das nicht, dass ich dieses Alter erreichen werde.

Immer, wenn mein Defibrillator einsetzt oder ich mich mit dem Thema Tod beschäftige, frage ich mich also: Wie zufrieden wärst du mit deinem Leben, wenn du jetzt auf dem Sterbebett liegen würdest? Es ist kein dauerhafter Geisteszustand, eher ein punktuelles Nachsteuern im Alltag.

Entkoppelt vom eigenen Körper

«Vertraust du deinem Körper?», frage ich Jacqueline. «Mal mehr, mal weniger. Das hängt von den Messwerten ab», sagt sie. «Zeitweise, als es besonders schlimm war, kam mein Körper mir eher wie ein Gefäss vor und nicht wie ein Teil von mir. Entkoppelt irgendwie.» Wo hört mein Körper auf, wo fange ich an? Gibt es da überhaupt einen Unterschied? Das ist eine Frage, die auch ich mir schon länger stelle.

Wenn mich eine meiner Ohnmachten überkommt, fühle ich sie ganz deutlich: die Abhängigkeit von meinem eigenen Körper. Er kann mich jederzeit abschalten. Ist er nicht mehr, bin auch ich nicht mehr. «Ich habe keinen Körper, ich bin ein Körper», hat der Journalist Christopher Hitchens kurz vor seinem Tod geschrieben. In den Momenten meiner Ohnmachten fühlt sich das absolut wahr an.

Lang war ich enttäuscht von meinem Körper. Und das meine ich nicht auf die Art, wie man es vielleicht von einer jungen Frau erwarten könnte. Mir ging es bei meiner Enttäuschung nicht um mein Aussehen, sondern um Vertrauen. Ein Körper, der nicht nach deinen Regeln spielt, sondern nach Lust und Laune einfach dein Gehirn abschaltet, ist nicht für dich, sondern gegen dich. Er überfällt dich aus dem Nichts, dabei sollte er doch dein engster Verbündeter sein.

Lang hielt ich meinen Körper für wenig belastbar – bis die neue Diagnose kam. Denn was mir zuvor noch schwach vorkam – die Ohnmachten und das er- schöpfte Aufwachen danach –, sehe ich jetzt in einem ganz anderen Licht: Mein Körper hat ein ums andere Mal um mich gekämpft, hat mich zurück ins Leben geholt, hat sein Bestes für mich gegeben, als ich schon längst nicht mehr ansprechbar war. Das klingt plötzlich nicht mehr nach einem Verräter, sondern nach einem stillen Helden.

In manchen Situationen spürt man intuitiv so etwas wie Schicksal

«Glaubst du an so etwas wie Schicksal? Denkst du, dass deine Zeit einfach noch nicht gekommen war?» – «Gewisse Yogis glauben, dass jeder Mensch eine bestimmte Anzahl an Atemzügen zur Verfügung hat. Das glaube ich nicht. Dann könnte man ja einfach langsamer atmen», antwortet Jacqueline und lacht. «Aber ich glaube, dass es irgendeinen Sinn gibt. Und dass wir in manchen Situationen intuitiv so etwas wie unser Schicksal spüren können.»

Das Beispiel, das sie nennt, wird mir vermutlich lang in Erinnerung bleiben: Es ist der Moment, als sie 2003 vom Auto überfahren wurde und sie sich zwischen Vorder- und Hinterpneu befand. Der eine Pneu hatte soeben nur knapp ihren Kopf verfehlt und sie wusste, der andere würde im nächsten Augenblick über ihre Hüfte fahren. «In dem Moment wusste ich, dass ich das schaffe. Ich habe gespürt, dass ich stärker bin als das Auto.» Auf gewisse Weise hat sie recht behalten: Das Auto brach ihr Becken an zwölf verschiedenen Stellen. Aber die Knochen heilten wieder.

Ich sage Jacqueline, dass auch ich hoffe, dass es irgendeinen Sinn gibt. Früher als Kind war ich sehr religiös, habe sogar einmal meine komplette Kinderbibel abgeschrieben. Dann wurde ich älter und entwickelte agnostische bis hin zu atheistischen Überzeugungen. «Wenn ich irgendwann wirklich im Sterben liege oder jemand stirbt, den ich liebe, kann es sein, dass ich wieder religiöser werde. Ich weiss nicht, ob ich das aushalten würde, zu denken, dass es keinen Sinn in dem allem gibt», sage ich.

Den Tod mit Blick auf das Leben betrachten

«Manchmal frage ich mich, ob das feige ist. Ob meine Überzeugungen nur davon abhängen, was mir im jeweiligen Moment guttut.» – «Das ist doch völlig egal, ob das feige ist oder nicht. Wenn es einem hilft und sich wahr anfühlt, dann ist das okay. Du schadest ja niemandem damit», sagt Jacqueline und ich bin ihr dankbar dafür.

«Es geht um die Frage: Wie möchte ich leben, wenn ich irgendwann sterben muss?»

Wir sprechen darüber, wie anders unser Gespräch verlaufen würde, wenn nicht alles so gut ausgegangen wäre. Wenn wir nicht rückblickend auf unsere Todesangst schauen, sondern noch mittendrin stecken würden. Es gibt viele Menschen mit unheilbaren, tödlichen Krankheiten. Wie sie über den Tod und die eigene Vergänglichkeit nachdenken, kann ich nur erahnen.

Ich habe den Luxus, den Tod einzig unter dem Aspekt meiner eigenen Vergänglichkeit zu betrachten – also mich nur mit der Tatsache zu beschäftigen, dass mein Leben irgendwann vorbei sein wird. Bei diesem Aspekt geht es für mich nicht um den Tod, sondern grösstenteils um das Leben. Es geht um die Frage: Wie möchte ich leben, wenn ich irgendwann sterben muss?

Allerdings gibt es noch mindestens drei weitere Aspekte des Themas Tod: Trauer um geliebte Menschen, den (möglicherweise schmerzhaften) Sterbensprozess und das Tot-Sein selbst, also die Frage nach einem Leben nach dem Tod. An diese drei Aspekte habe ich mich noch nicht herangetraut. Sie machen Angst.

Die schwierige Frage nach Sinn und Unsinn

Vermutlich sind sie auch der Grund, warum der Tod so ein grosses Tabuthema in unserer Gesellschaft ist. In Gesellschaften mit immer weniger Religiosität ist die Frage nach dem Sinn und Unsinn von Leid und Tod eine schwierige. Da blenden wir das Thema lieber komplett aus. Aber hindert uns das nicht daran, etwas Positives aus unserer Vergänglichkeit zu machen? Nimmt uns das nicht die Chance, unser Leben zu einem «sterbenswerten» zu machen?

Es ist fast zwölf Uhr und Jacqueline sieht erschrocken auf die Uhr. Sie muss nachhause – die Kinder sind gleich da. Ich begleite sie noch ein paar Strassen weiter, um unser Gespräch nicht abrupt enden zu lassen. Um das Maximum herauszuholen aus dem Platz, den das Leben für das Thema Tod lässt.

Jacqueline erzählt, dass ihr Sohn einige Zeit nach dem Versterben seines Grossvaters gesagt hat: «Da wo Grosspapa jetzt ist, muss es richtig schön sein. Er weiss, wie sehr wir ihn vermissen, und er kommt trotzdem nicht zurück.» Jacqueline verspricht mir, Infos zu ihrer Keramik zu schicken und eilt schnell davon, verschluckt vom Alltag.

Ich muss an ein Buch der Palliativpflegerin Bronnie Ware denken. Es trägt den Titel «Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen» und darin beschreibt sie, wie viele Menschen im Sterben das Gefühl haben, nicht wirklich ihr eigenes Leben gelebt zu haben, sondern eines, das den Erwartungen anderer entsprach.

Ein kurzes Bemerken der Unwahrscheinlichkeit, am Leben zu sein

Gespräche wie das mit Jacqueline bestärken mich darin, mein eigenes Leben zu leben. Und sie bestärken mich darin, dass es dafür keinen riesigen Befreiungsschlag, keine radikale Lebensveränderung braucht. Denn: Wir dürfen genervt sein. Wir dürfen Angst haben. Wir dürfen gestresst von der Einkaufstour zurückkommen. Wir dürfen Wäsche machen, Papier- kram erledigen, uns zum Geburtstag der Verwandten quälen und auch sonst einigen Erwartungen anderer entsprechen.

Aber wir sollten versuchen, unserer eigenen Vergänglichkeit immer wieder einen kleinen Platz in unserem Leben einzuräumen und uns zu fragen: Wo liegt in meiner jetzigen Situation der Gestaltungsfreiraum, durch den ich mein Leben noch mehr zu meinem machen kann?

Manchmal liegt die Antwort für mich in den kleinen Dingen: eine bessere Einschlaf-Routine, ein kurzes Bemerken meiner Lebendigkeit beim Einkaufen im Supermarkt, ein Co-Working mit der Freundin, um Papierkram zu erledigen. Nur manchmal und nach vielem Herumprobieren sind es auch grössere Dinge, wie die Kündigung meines Jobs.

Am Abend schreibt mir Jacqueline noch, wie sehr sie unser Treffen inspiriert habe. Es fühlt sich an, als hätten wir mit unserem Gespräch dem Leben ein wenig Raum für den Tod abgerungen, für ein kurzes Bemerken der absoluten Unwahrscheinlichkeit, die unsere Lebendigkeit ist. Vielleicht ist es das, was wir immer wieder versuchen müssen.

Nina Martin: Plane nicht – lebe! Rowohlt-Verlag, 2021, 224 Seiten, ca. 20 Fr.

Dieser Text stammt aus der aktuellen annabelle-Sonderausgabe zum Thema Tod.

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Anne

Soo ein toller Artikel,hat mich zu Tränen gerührt!

Simone

Toll geschrieben, für Leute die selber jeden Tag ein Stück mit ihrer eigenen Endlichkeit konfrontiert werden sehr inspirierend.