Politik
Die Studie: So geht es den Schweizer Frauen
- Text: Helene Aecherli
- Bild: Diana Pfammatter; Redaktion: Vanja Kadic & Marie Hettich
Frau, wie geht es Dir? Dies fragte annabelle und Tausende Frauen haben geantwortet. Die Ergebnisse der Studie lassen aufhorchen – und motivieren zum Weiterkämpfen. Es bleibt nötig!
Über Frauen geredet wurde in den letzten Wochen viel, ihnen zugehört hat aber niemand – weil keiner gefragt hat: Frau, wie geht es dir eigentlich? Dies hat annabelle getan und zusammen mit Sotomo die grösste Frauenstudie lanciert, die in den letzten Jahren in der Deutschschweiz durchgeführt worden ist. Über 6200 Frauen zwischen 16 und 89 Jahren haben an der Studie «annajetzt» teilgenommen und achtzig Fragen zu ihrem aktuellen Befinden beantwortet. Und – sie haben Klartext geredet; darüber, wie sie den Stand der Gleichstellung in der Schweiz einschätzen, wie sie den Spagat zwischen Beruf und Familie schaffen, was sich im Vergleich zur Generation ihrer Mütter und Grossmütter verbessert oder verschlechtert hat und wie zufrieden sie sind in Bezug auf Partnerschaft und Sexualität.
Den Grundtenor der Ergebnisse gleich vorweg: Deutschschweizerinnen sind eigentlich ganz glücklich mit ihrem Leben, «ziemlich okay» könnte man sagen, besonders in ihrem privaten Umfeld: So bezeichnen sich neun von zehn Frauen mit Kindern als zufrieden mit ihrer Familiensituation, acht von zehn sind glücklich in ihrer Paarbeziehung, knapp 70 Prozent mögen ihr Äusseres, viele gewinnen sogar der Corona-Pandemie positive Seiten ab. Selbst in Sachen Gleichstellung sind die befragten Frauen keineswegs nur unzufrieden. Sie erachten die Gleichstellung, insbesondere in ihrem Privatleben, in der Politik sowie in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, als einigermassen verwirklicht. Auf den ersten Blick scheint also alles ziemlich entspannt – doch schaut man unter die Oberfläche, zeichnet sich ein komplexeres und weit unzufriedeneres Bild ab.
«Fast drei Viertel aller Frauen ist überzeugt, dass Männer mehr Vorteile geniessen»
Denn nach wie vor sind fast drei Viertel aller Frauen überzeugt, dass Männer in der Schweiz insgesamt mehr Vorteile geniessen – schlicht und einfach aufgrund ihres Geschlechts. Und was besonders auffällt: Gerade jüngere Frauen und solche, die mitten in der Familienphase stecken, beurteilen den Stand der Gleichstellung hierzulande sehr viel kritischer als die ältere Generation. Dabei ist die Tatsache, dass sich derart viele Deutschschweizerinnen gegenüber Männern nach wie vor benachteiligt fühlen, sogar im globalen Vergleich aussergewöhnlich.
Gemäss der letztjährigen Ipsos-Studie zum Internationalen Tag der Frau geben nämlich bloss etwa die Hälfte aller weltweit befragten Frauen an, dass Männer in ihren Ländern bevorteilt werden. In der Schweiz hingegen sieht nicht einmal eine von zehn Frauen die Vorteile auf ihrer Seite. Auch bezüglich sexualisierter Gewalt und Nötigung fördert die Befragung «annajetzt» Erschreckendes zutage: Fast jede dritte Frau in der Deutschschweiz hatte schon Sex, ohne ihre ausdrückliche Einwilligung gegeben zu haben, und nahezu genauso viele, nämlich 31 Prozent, erlebten in ihrem Leben mindestens einmal sexuelle Gewalt.
Angesichts dieser Tatsachen ist es umso bemerkenswerter, dass fast 60 Prozent davor zurückschrecken, sich als Feministin zu bezeichnen. Wobei – es sind vor allem ältere Frauen, die sich schwertun mit diesem Etikett. Bei den unter 35-Jährigen bezeichnet sich eine deutliche Mehrheit ganz selbstverständlich als Feministin. Dieser Generationenunterschied – der auch in anderen Ländern zu beobachten ist – wird «Emma-Watson-Effekt» genannt, inspiriert durch die britische Schauspielerin und Uno-Botschafterin Emma Watson, die sich gerade unter jungen Frauen einen Namen gemacht hat, weil sie es wagt, Sexismus, Gewalt an Frauen und Diskriminierung offen anzuprangern.
Der wundeste Punkt, darüber sind sich alle Frauen einig, ist die mangelhafte Gleichstellung in der Arbeitswelt. 60 Prozent der Studienteilnehmerinnen fühlen sich im Berufsleben schlechter gestellt, unter den 25- bis 34-Jährigen sind es gar 75 Prozent. Zwar stimmt die Mehrheit darin überein, dass sich ihre beruflichen Perspektiven wie auch ihre finanzielle Unabhängigkeit im Vergleich zu früheren Generationen verbessert haben. Doch besser ist in der Schweiz eben noch lang nicht gut genug. Fast jede zweite Frau würde deshalb eine (temporäre) Geschlechterquote begrüssen, um die Gleichberechtigung schneller zu verwirklichen. Besonders stossend finden sie die Tatsache, dass Frauen für die gleiche Arbeit noch immer nicht überall gleich viel verdienen. Satte 85 Prozent sehen da den dringendsten Handlungsbedarf. Fast genauso viele fordern bessere Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Job und Familie sowie eine höhere Wertschätzung der unbezahlten Care-Arbeit.
«Mutterschaft beeinflusst die berufliche Laufbahn von Frauen noch immer sehr stark»
So unzeitgemäss es mittlerweile klingen mag – Mutterschaft beeinflusst die berufliche Laufbahn von Frauen noch immer sehr stark. Nach der Geburt des ersten Kindes arbeitet sie in den meisten Fällen nur noch Teilzeit, während er mehrheitlich voll erwerbstätig bleibt. Und so verdient nach eigener Aussage nicht einmal die Hälfte aller Frauen im Erwerbsalter genug, um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten. Jede fünfte erklärt sogar explizit, sich eine Trennung von ihrem Partner aus finanziellen Gründen nicht leisten zu können. Auch die finanzielle Absicherung im Alter bereitet den Frauen Sorgen: Sieben von zehn Befragten fordern deshalb, dass Frauen nicht aufgrund weniger Einkommen und Beitragslücken dem Risiko der Altersarmut ausgesetzt sein sollten.
In Anbetracht dessen hätte man erwarten können, dass Frauen sich wünschten, mehr arbeiten und damit mehr verdienen zu können. Doch die Studie zeigt, dass das Teilzeit-Vollzeit-Setting nicht nur das verbreitetste, sondern in den Köpfen der Schweizer Frauen auch nach wie vor das ideale Modell ist. Auf die Frage «Was ist aus Ihrer Sicht grundsätzlich das beste Erwerbsmodell für Familien mit Kindern?» meinte die Mehrheit: Vater arbeitet 80 Prozent, Mutter 50 Prozent. Dieses Ergebnis ist insofern überraschend, weil gleichzeitig über 80 Prozent angeben, an einem «mental load» zu leiden, also an einer mentalen Belastung, weil sie wesentlich mehr leisten als ihr Partner, wenn es um Kindererziehung, Care-Arbeit sowie um Organisation und Planung in Haushalt und Familie geht.
«Wo ist die romantische Vorstellung einer leidenschaftlichen Liebe hin?»
Bemerkenswert ist allerdings, dass die mentale Belastung auch dann sehr ungleich verteilt ist, wenn Frau in einer Vollzeitstelle, also 80 Prozent oder sogar 100 Prozent arbeitet. Der Umstand, dass «er im Haushalt vieles ganz selbstverständlich mir (überlässt)», ist denn auch die Verhaltensweise, über die sich Frauen in einer Partnerschaft am meisten ärgern. «Verlässlichkeit», «Humor» und «Loyalität» wiederum stehen zuoberst, wenn es um die wichtigsten Partnereigenschaften geht. «Sexuelle Treue», «gegenseitige grosse Liebe» hingegen folgen erst auf Platz 8 und 9, «gegenseitiges Begehren» sogar erst an 16. Stelle. Da darf man fragen: Frau, wo ist die romantische Vorstellung einer leidenschaftlichen Liebe hin?
Nun, vielleicht wird ja alles bald besser. Auf die Frage «Womit haben Sie in Ihrem Leben bisher zu viel Zeit verbracht?» antwortete immerhin jede Dritte mit: «sich entschuldigen.» Und knapp die Hälfte fand, sie hätten viel zu viel Zeit damit verschwendet, anderen gefallen zu wollen. Und Einsicht ist ja bekanntlich der erste Schritt zur Besserung.
«annajetzt – Frauen in der Schweiz» ist die grosse Frauenbefragung von annabelle und Sotomo. Über 6200 Frauen zwischen 16 und 89 Jahren haben an der repräsentativen Umfrage teilgenommen.