Der Supermarkt – Das letzte Paradies
- Text: Gabriel Vetter: Foto: Cortis & Sonderegger
Unser Autor liebt Supermärkte. Besucht in Paris lieber den Carrefour in der Banlieue als den Eiffelturm. Eine Liebeserklärung der besonderen Art.
Ein Supermarkt verkörpert all das, was ich als vernünftiger Mensch eigentlich ablehnen müsste: Konsumterror und Massenabfertigung und Entfremdung und Überforderung und Bequemlichkeit und Uniformierung und Abstumpfung und Gleichschaltung und Globalisierung und Ausbeutung und unterbezahlte, leicht übergewichtige, rosafarbene Frauen in ärmellosen Gilets, die tapfer gegen die nicht zu bewältigende Masse anscannen. Der Supermarkt steht für Orangenkonfitüre in Zweiliterbottichen, für in einzelne Scheiben abgepackte Lyonerwurst in Herzform und ayurvedische Pflegespülung mit Camembert-Lavendel-Geschmack. Eigentlich ist der Supermarkt ein Arschloch; ein riesiges, bösartiges, grell beleuchtetes Arschloch from Hell, mit automatischen Schiebetüren und eigenem Soundtrack.
Aber ich liebe ihn, den Supermarkt. Je unpersönlicher, desto begehrenswerter. Ich weiss ja, dass er schuld ist am Lädelisterben, aber ich kann nicht anders. Es gibt für mich, der ich sonst relativ rastlos durch die Weltgeschichte stolpere, nichts existenziell Beruhigenderes, als einen ganzen Nachmittag lang unbehelligt durch einen Supermarkt zu spazieren. Häufig kaufe ich gar nichts. Ich gehe nur umher, bestaune die Regale, die Verpackungen, die Sonderangebotswühltisch-Hindernisse.
Neulich zum Beispiel war ich in Paris. Habe ich den Eiffelturm gesehen? Den Louvre besucht? Carla Bruni hofiert? Nein. Ich mäanderte durch einen Carrefour in der Banlieue und fand es bemerkenswert, dass dort der Senf nicht wie üblich neben dem Ketchup und der Mayonnaise zu finden war, sondern bei den Essiggurken. Das sagt doch viel mehr aus über die Seele des Franzosen als jeder Blick auf den Triumphbogen.
Sowieso sind Supermärkte im Ausland unübersichtliche Paralleluniversen voller fremder Würste und Brote und Staubsaugerbeutel. Im schwedischen Malmö findet man satte zwölf Regalmeter Knäckebrot. Zwölf Meter! In allen Variationen: rund oder halbrund, eckig, mit Körnern vermint oder fluffig gehalten, hauchdünn und auch glutenfrei. Ich hielt also vor dem Knäckebrot inne, das da Spalier stand wie eine Militärparade in Pyongyang, und dachte: O Knäckebrot, Du knuspriger Freund der Vielseitigkeit!
Oder in Florenz im Esselunga Super Store: Dreissig Quadratmeter Pasta. Vierzig Meter Rotwein. Die Windeln über (!) der grobkörnigen Salami, die Antimückensprays neben den Tiefkühltruhen. Und im Münchner Megastore Metro hat sich die Vanille als Kolonialmacht etabliert: Es gibt da Vanilletee, Vanilleschaumbad, Joghurt mit Vanillegeschmack, Schmierseife mit Vanilleextrakt, Vanilleshampoo, Vanillepralinés, Bier mit Vanillesirup, Vanillesirup mit Schnaps. Und natürlich Kamille. Es ist übrigens eine der grossen Errungenschaften des deutschen Supermarkts, dass ich mir getrost eine Familienpackung Toilettenpapier mit Kamillenaroma kaufen und mir ein Blättchen davon in die heisse Tasse legen kann, ohne dass man geschmacklich einen Unterschied zum echten Teebeutel bemerkt.
Es ist ein einziges Fest, so ein Supermarktbesuch im Ausland. Schweizer Supermärkte hingegen sind mir zu übersichtlich, zu unverdorben mit ihrem Max-Havelaar-Bio-Fairtrade Angebot. Und sie erinnern mich zu sehr an meine Kindheit. Denn vermutlich liegt meine Liebe für den Supermarkt in meiner Konsumbiografie begründet. Als Dorfkind bin ich mit einem Volg aufgewachsen, einem winzigen Dorflädeli mit gestapelten Torfsäcken vor der Tür, das sinnigerweise am schulfreien Mittwochnachmittag, wenn wir Primarschüler Zeit und Musse für ausgiebiges Chrömle gehabt hätten, geschlossen war. Und wenn ich denn einmal im Lädeli war, fühlte ich mich unangenehm beobachtet: Bei uns im Volg sah man sich als Goof unter ständiger Kontrolle der Verkäuferin, die uns nicht selten durch den Laden verfolgte und uns genau beäugte, wenn wir die Süssigkeiten-Auslage studierten.
Und die war ebenfalls winzig: Cola-Fröschli, Stimorol-Original-Kaugummi, saure Zungen – und, ganz selten: Hubba-Bubba mit Apfelgeschmack. Der Rest des Sortiments bestand aus dem, was man gemeinhin unter dem Terminus technicus Thurgauer Hausfrauenbenzin subsumiert: Kartoffeln, Äpfel, Bschüssig-Teigwaren, Aromat und Elmer Citro oder Sinalco in Einliterflaschen aus Glas; 50 Rappen Depot das Stück.
Heute liebe ich grosse Supermärkte bedingungslos und blind, wie man einen missratenen Hund liebt, der ständig die Nachbarskatzen und Nachbarshasen zerbeisst, sich aber nicht mal die Mühe macht, sie zu apportieren. Oder auch: Ich liebe ihn so, wie der schmelzende Gletscher die Sonne liebt, weil sie ihn so schön Glitzern macht. Manchmal frage ich mich, ob es vielleicht gar keine Liebe ist, sondern eher das Stockholmsyndrom.
Es gibt ja Wissenschafter, die behaupten, Supermärkte seien die Kirchen von heute, in denen die nach Haselnussmüesli und Havelaar-Bananen dürstenden Bürger Halt suchen. Konsum als Trost gegen die Sinnlosigkeit des Lebens. Ich weiss nicht. Ist es nicht eher die fidele Bejahung der Sinnlosigkeit des Lebens?
Zudem birgt so ein Supermarkt immenses rebellisches Potenzial: Dadurch, dass ich zwar stundenlang in ihm verharre, schliesslich aber nur eine Dose Cola oder gar nix kaufe, fühle ich mich nicht selten als kleiner Rebell, dessen letzte Patrone im Revolver der Aufmüpfigkeit der zivile Ungehorsam ist. Im Supermarkt bin ich ein Che Guevara im ewigen Kampf gegen den schnöden Mammon.
Ich bin dem Supermarkt regelrecht dankbar dafür, dass er nichts von mir verlangt. Denn hier muss ich nicht gut sein. Hier werde ich auch nicht beäugt wie daheim im Volg. Hier bin ich frei, hier darf ich ich sein.
Es hat etwas zutiefst Menschenfreundliches, die vielen umherscharrenden Menschen zu beobachten in dieser menschenunfreundlichen Umgebung des Einkaufstempels: Hier entscheidet jeder über seine Welt, baut sie sich zusammen wiedi-wiedi-wie sie ihm gefällt. Schliesslich sind wir vor dem Sortiment alle gleich. Hier ist alles Knäckebrot. Hier ist alles Vanille. Ich bin Vanille. Du bist Vanille. Wir sind vakuumverpackt, sind Rotwein, sind Hack, sind Wurst. Alle sind wir Wurst.
Der Volg in meinem Heimatdorf wurde übrigens vor kurzem geschlossen. Die Nachricht hat mich ehrlich gesagt etwas traurig gemacht: Ich mache mir Sorgen um all die Torfsäcke: Wo sollen die jetzt nur hin? Zum Trost bin ich in den nächsten Marktkauf-Supermarkt nach Deutschland gefahren und habe vier Stunden lang Sugodosen angeguckt. Hat geholfen. Wirklich.
Gabriel Vetter (29) ist Kolumnist, Autor und amtierender Schweizer Meister im Poetry Slam