Der Schuhtick des Mannes
- Text: Mikael KrogerusIllustration: Nicole Schmauser, Annette Keller
Nun fällt auch noch die letzte Frauenbastion: Unser Autor, ansonsten ganz normal, kultiviert seit frühster Kindheit einen ausgewachsenen Schuhtick.
Nun fällt auch noch die letzte Frauenbastion: Unser Autor, ansonsten ganz normal, kultiviert seit frühster Kindheit einen ausgewachsenen Schuhfimmel.
Als Kind mochte ich Schuhe. Genauer: Ich hatte einen Schuhfimmel. Okay: einen Schuhfetisch. Nicht, dass es was zu sagen hätte, aber was Perversionen angeht, war ich früh entwickelt. Ich war gerade in einen Handballverein eingetreten, als ich von meiner Neigung erfuhr. Wie für die meisten Fetischisten war auch mein Objekt der Begierde nicht irgendein Schuh, sondern ein ganz bestimmter: der Adidas-Handball-Spezial (blau).
Ursprünglich als Goalieschuh konzipiert, trugen ihn in den frühen Achtzigern viele Feldspieler. Ich konnte stundenlang in der Kabine mit meinen Mitspielern über die Vorzüge verschiedener Sportschuhe fachsimpeln. Einige standen auf Asics, andere auf Künzli, Nike war keine Option. Jeder Schuh hatte seine Vertreter. Die Adidas-Schule: schlank, schmal, leicht; der Tragkomfort
erinnerte an Barfusslaufen auf Waldboden, die flache Form verlieh dem Schuh Ernsthaftigkeit und Anmut.
Hinzu kam die damals hochverruchte Tatsache, dass der Spezial einer der ersten androgynen Schuhe war: Ich trug also das gleiche Modell wie meine heimliche Liebe aus der weiblichen D-Jugend. Meine Mitspieler teilten mein Interesse, aber nicht meine Begeisterung. Sie waren Connaisseurs, ich war ein Freak. Aber nicht der einzige! Noch heute passiert es mir, dass ich Menschen in meinem Alter in den alten Spezial-Schuhen sehe, die sie seit ihrer Jugend aufbewahrt haben. Man schaut sich kurz auf die Füsse, dann in die Augen, ein leises, wissendes Kopfnicken. Wie das Begrüssungsritual einer Geheimloge.
Der Schuh kostete damals rund 120 Franken. Viel Geld, klar. Aber auch: viel Schuh.
Ich begann im Handballverein, als ich neun Jahre alt war. Was zur Folge hatte, dass ich aufgrund regelmässiger Wachstumsschübe fast jedes Jahr einen neuen Schuh brauchte. Sobald ich mit einem neuen Paar zuhause war, verschwand ich in meinem Zimmer und schloss die Tür. Dann öffnete ich den Karton und wickelte die Schuhe vorsichtig aus dem Seidenpapier. Als Erstes roch ich an ihnen. Ich liebte den betäubenden Mix aus Gummi und Leder. Meine Finger fuhren über das weiche Wildleder des Obermaterials, examinierten in fiebriger Erregung die 4-Zonen-Gummisohle wie ein «CSI»-Mann die Fingernägel eines Mordopfers. Ich hatte in dem Alter natürlich noch keinen Samenerguss, aber ich erlebte eine Art weiblichen Orgasmus: Meinen Körper durchfuhren unkontrollierte Zuckungen, das Herz raste, mein Gesicht glühte.
Anfangs trug ich die Schuhe nur in der Wohnung. Nachts bettete ich sie wieder in den Schuhkarton und platzierte ihn am Kopfende meines Betts wie einen geöffneten Sarg. Und so schlief ich die erste Woche nach dem Kauf mit dem süssen Bouquet von Leder und Gummi in der Nase und der Hoffnung im Herzen, dass ich mit diesen Schuhen plötzlich schneller laufen, höher springen und härter werfen würde.
Mitte der Neunziger stoppte Adidas die Spezial-Linie. Es war, als hätte ich einen Arm verloren. Ein Jahr später kündigte die Firma eine Wiederauflage an. Ich wollte vor Dankbarkeit zum Hauptsitz pilgern. Umso grösser die Enttäuschung: Der neue Spezial war ein klobig-vulgärer Abklatsch des Originals, mit neumodischen Features wie der von Joggingschuhen her bekannten übertriebenen Sohlenverjüngung im Mittelfussbereich. Es war wie einen Dry Martini bestellen und einen Martini bianco bekommen. Kurz darauf beendete ich meine Handballkarriere.
Ich zog ins Ausland, trug ein Jahr lang nur Gummistiefel. Aber ich war noch jung, ich konnte nicht ewig weitertrauern. Es gab so viele andere Schuhe auf der Welt! Und so begann ich, nach einigen modisch fragwürdigen Flirts mit Dr. Martens und Converse, eine Affäre mit dem sogenannten Herrenschuh. Die Initiation war ein Paar rahmengebundener schwarzer John Lobb, die ich von meinem Vater erbte. Mir gefiel die sorgfältige Verarbeitung, der feine Sssst-Laut beim Ziehen der Schuhbändel durch die Ösen – und die etwas ödipale Vorstellung, dass mein Vater vielleicht in genau diesen Schuhen meine Stiefmutter kennen gelernt hatte. Von John Lobb ging es übergangslos in eine bis heute andauernde Anklebootsphase. Jene schmierigen, leicht spitz zulaufenden Zuhälterhalbstiefel aus den Siebzigern und frühen Achtzigern, mit denen man sich selbst in der spiessigsten Agglomeration wie Travis Bickle im East Village fühlt. Im Frühling trage ich Desertboots, im Sommer Loafers. Meine Schlechtwetterschuhe sind seit Jahren Blundstones, deren Sohle jeden Militärstiefel in den Schatten stellt. Für diesen Winter aber habe ich ein Paar politisch unkorrekter Robbenfellstiefel aus Norwegen bestellt.
Wer meinen Schuhschrank sieht, würde nicht denken, dass hier ein Fetischist seine Objekte hortet. Natürlich hätte ich gern einen begehbaren Schuhschrank voller kurios-fantastischer Paare und raffinierter Schuhspanner. Leider fehlt mir sowohl das Talent als auch das Geld für einen ausgewachsenen Fetisch.
Mit hochgeschlagenem Kragen spaziere ich scheinbar zufällig in Schuhläden. Inspiziere beiläufig die Neuerscheinungen, streife verschämt mit den Fingerkuppen das Bronto-Wildleder eines Desertboots. Mein Interesse gilt aber nicht nur Schuhen, die für mich infrage kommen. Ich kann ohne weiteres stundenlang über Jimmy Choo philosophieren oder die Vorzüge von Schlangenlederpumps von Dolce Vita diskutieren. Es gehört zu den vielen Unerklärbarkeiten meines Lebens, dass ausgerechnet meine Frau sich wenig für Schuhe interessiert. Vielleicht liegt es daran, dass sie zu jenen raren Lebewesen gehört, die selbst in Schwimmflossen sexy aussehen.
Mein Schuhfimmel hat nie wieder die Dimensionen meiner Handball-Spezial-Phase erreicht. Ich halte keine Totenwache neben geöffneten Schuhkartons. Ich kann abends einschlafen, ohne zu kontrollieren, ob die Schuhspanner in meinen Herrenschuhen stecken. Und doch zieht es mich manchmal in die Sportabteilung der Warenhäuser. Ich weiss, dass er nicht da ist. Ich schaue trotzdem nach.