Das neue Heft ist da: Chefredaktorin Barbara Loop über Nachtzüge und süsse Erinnerungen
- Text: Barbara Loop
- Bild: Simon Habegger
Ab heute liegt die neue annabelle am Kiosk. Lest hier das Editorial von Chefredaktorin Barbara Loop.
Vor dem Fenster rasen die Bäume vorbei, zwischen den dunklen Stämmen blitzt die Sonne, Stroboskopeffekt bei 350 Stundenkilometer, dann wieder ruhiger, weiter Horizont. Ich sitze im TGV nach Paris, den Rücken zur Fahrtrichtung. Der Zug, mein liebster Ort zum Schreiben.
Ich hätte jetzt auch in einem Flugzeug sitzen können. Nein, nicht nach Paris, das wäre Unsinn, sondern zu meinem Bruder, um ihn an seinem runden Geburtstag zu überraschen. Warum ich mich für Paris entschieden habe? Wegen beruflicher Verpflichtungen. Dass ich damit auch das Klima schone, war nicht mehr als ein willkommener Nebeneffekt.
Wie ignorant war es aber, nur schon in Erwägung zu ziehen, für ein verlängertes Wochenende auf einen anderen Kontinent zu fliegen? Das Wissen, dass jeder Flug einer zu viel ist, müsste doch Grund genug sein, nicht zu fliegen. Warum ich es dennoch zu sorglos tue? Eine grosse Frage. Vielleicht, weil es alle tun?
«Ist es schwieriger geworden, so entschieden wegzufahren, seit wir überall und immer erreichbar sind?»
Wie falsch das ist, rechnet meine Kollegin Stephanie Hess in der neuen annabelle vor. Gerade mal zwanzig Prozent der Weltbevölkerung hätten überhaupt je im Leben ein Flugzeug bestiegen, schreibt sie. Der Titel ihrer klugen Geschichte lautet «Umsteigen bitte» und nimmt uns mit auf eine Reise in die Zukunft. Wie können wir reisen, ohne den Planeten zu zerstören?, fragt sie. Und fährt auf Schienen durch die Nacht in Richtung Wien.
Im Nachtzug, dem süssen Versprechen des ökologischen Reisens. Auch bei mir löst er Erinnerungen aus. An meinen 17. Geburtstag, als ich in Zürich einschlief und in Rom erwachte. An geteilte Zigaretten im Couloir, bei denen ich die besten Bars in Erfahrung brachte. Es ist verblüffend, wie gut ich mich an diese nächtlichen Begegnungen erinnere: welchen Wein wir tranken, die Farbe der Stoffschlafsäcke, wie sich das Getragenwerden anfühlte, in die eine Richtung, immer nur vorwärts, dem Abenteuer entgegen.
Dieses intensive Reisegefühl hat sich bei mir nie wieder eingestellt, egal wie weit entfernt, wie aufregend die Ziele waren. Ist man einfach nicht mehr so empfänglich wie mit 17? Oder ist es schwieriger geworden, so entschieden wegzufahren, seit wir überall und immer erreichbar sind? Vielleicht lösen wir das Gefühl des Entfliehens aus dem Alltag heute am besten ein, wenn wir offline gehen, sinniert Stephanie Hess am Ziel ihrer Reise. Zumindest für mich wäre das eine Reise ins Ungewisse, ein Abenteuer.
Meinem Bruder habe ich per Videocall gratuliert. Er lag am Strand, ich lief durch den Regen in Paris. Er war nicht nur dort, ich war nicht nur hier.
Herzlich
Barbara Loop
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