Kaum eine sexuelle Orientierung ruft so zuverlässig Vorurteile auf den Plan wie Asexualität. Zeit, mit diesen aufzuräumen.
Dieser Artikel ist erstmalig im Juni 2022 erschienen
Während die Akzeptanz für verschiedene sexuelle Orientierungen in der Gesellschaft wachse, hätten asexuelle Menschen immer noch häufig mit Vorurteilen und Unverständnis zu kämpfen. Das habe viel mit Skepsis und Unwissen zu tun, vermutet Irina Brüning vom Verein AktivistA, der sich für mehr Sichtbarkeit des asexuellen Spektrums einsetzt. Genau: Für Asexualität gibt es – entgegen der Annahme vieler Menschen – keine einzelne, fixe Definition.
«Es stehen zwei Definitionen nebeneinander. Die erste: Asexualität bedeutet kein Verlangen nach sexueller Interaktion. Die zweite: Asexualität bedeutet keine sexuelle Anziehung», erklärt Brüning. Kurz: «Asexuelle Menschen haben kein Verlangen danach, mit anderen sexuell aktiv zu werden.» Wie Sexualität und Anziehung von einzelnen Personen jedoch definiert – und dann im Alltag gelebt – werde, sei wiederum sehr individuell.
«Begriffe und Selbstbezeichnungen sind nur Werkzeuge»
Im asexuellen Spektrum finden sich verschiedene weitere Begriffe, die quasi Abstufungen betiteln. Doch: «Begriffe und Selbstbezeichnungen sind nur Werkzeuge, die muss man nicht auswendig kennen. Und niemand muss sich bezeichnen. Es kann aber hilfreich sein, um seine eigene Sexualität benennen zu können», so Brüning. Wer sich selbst als demisexuell oder gray-sexual bezeichnet, hat zwar wenig sexuelles Verlangen, ist Sex aber nicht immer abgeneigt.
Genauso gibt es asexuelle Personen, die sich von sexuellen Handlungen nicht komplett abgestossen fühlen, sondern beispielsweise mit fixen Partner:innen manchmal Sex haben. Dabei spielen die Beweggründe für sexuelle Handlungen eine wichtige Rolle. «The Ace Community Survey», eine jährliche Umfrage innerhalb der asexuellen Community mit mehr als 10 000 Befragten weltweit, ergab hier etwa folgende Gründe für Sex: Den:die Partner:in glücklich machen, emotionale Nähe spüren oder romantische Anziehung.
Sexuelle Anziehung ist nicht dasselbe wie romantische Anziehung
Personen auf dem asexuellen Spektrum unterscheiden – anders als die meisten allosexuellen Menschen (diejenigen, die sexuelles Verlangen verspüren) – sexuelle und romantische Anziehung. So leben viele asexuelle Menschen in langjährigen Beziehungen.
Peter (59, Name geändert) ist seit über zwanzig Jahren verheiratet, hat Kinder. «Für die meisten Menschen scheint sexuelle und romantische Anziehung dasselbe zu sein. Völlig parallel verlaufen diese beiden Anziehungen aber auch bei allosexuellen Paaren nicht, da lässt die sexuelle Anziehung mit der Zeit meist nach, während die romantische Anziehung stabil bleibt oder sogar wächst. Bei mir war da einfach keine sexuelle Anziehung, auch am Anfang nicht. Romantische Anziehung und Liebe sind – und bleiben – aber definitiv da.»
Selam (20)«Da machte es Klick bei mir, dass Sex für mich keine Bedeutung hat – für andere aber schon»
Selam (20, Name geändert) geht es ähnlich. Sie empfindet romantische und ästhetische Anziehung für andere Menschen, jedoch kein sexuelles Verlangen. Tat sie nie. Sie schwärmte mit 16 Jahren für einen Jungen, realisierte damals aber im Gespräch mit Freund:innen, dass sie sich komplett andere Gedanken machte über ihren Schwarm, als die anderen. «Ich dachte nie über Sex mit dieser Person nach, in meinen Fantasien war er nie unbekleidet. Da machte es Klick bei mir, dass Sex für mich keine Bedeutung hat – für andere aber schon.»
Klare Kommunikation und Konsens
Die Vorstellung von Sex empfand sie lange als abstossend. Mit ihrem Freund hat sie sich viel Zeit gelassen, und irgendwann war die Neugier da, Sex in diesem vertrauten Rahmen auszuprobieren. «Wir haben ab und zu Sex, meist aber eher das, was andere als Vorspiel bezeichnen würden. Für mich ist Sex mittlerweile etwas Schönes, wenn es passiert. Ich verspüre Erregung, aber rein über Berührungen. Im Alltag denke ich nie daran.»
Sie hat in ihrer Beziehung eine gute Balance gefunden. Und gerade weil sie sich ihrer Sexualität bewusst ist, kommuniziert sie seit Beginn der Beziehung klar, bis wohin sie gehen möchte – beide Partner:innen legen sehr viel Wert auf Konsens.
Mia (31)«Mein Umfeld versteht meine Asexualität nicht. Andersherum verstehe ich es ja aber auch nicht, dass sie sexuelles Verlangen empfinden»
In Selams Umfeld führt ihre Asexualität oft zu Unverständnis. Und vor allem zu übergriffigen Fragen darüber, wie weit sie denn genau gehe, ob sie denn Sex mit ihrem Partner habe. Diese Situation kennt auch Mia (31, Name geändert): «Mein Umfeld versteht meine Asexualität nicht, was ich nachvollziehen kann. Andersherum verstehe ich es ja aber auch nicht, dass sie sexuelles Verlangen empfinden.» Da fehle es an Respekt und schon nur an Akzeptanz.
Asexualität findet medial kaum statt
Asexualität ist immer noch wenig sichtbar. Auch unter dem Schirm LGBTQIA+ wächst das Bewusststein erst langsam, vor allem dank der Arbeit von Aktivist:innen. Irina Brüning erklärt sich das folgendermassen: «Die meisten Menschen können sich Asexualität schlicht nicht vorstellen. Sexuelles Verlangen gilt als universell und gehört für viele auch zum Menschsein dazu. Zu einem gesunden Leben, als Ausdruck von Lebensfreude. Wenn das fehlt, denken sie, dass etwas nicht stimmt. Gleichgeschlechtliche Anziehung können sich viele eher vorstellen als ein komplettes Fehlen von sexueller Anziehung.»
Dazu kommt, dass Asexualität auch in den Medien, in Filmen, in Serien, in Büchern kaum stattfindet. Erst langsam gibt es überhaupt fiktive asexuelle Charaktere. Gerade diese Repräsentation sei wichtig und helfe Betroffenen beispielsweise auch beim Coming-out, mache Asexualität für Aussenstehende anschaulicher, so Brüning. Denn oft wird von Menschen auf dem asexuellen Spektrum Aufklärungsarbeit verlangt darüber, was Asexualität überhaupt ist. Die Liste an Vorurteilen ist lang: «Ist das ein religiöses Ding?», «Das bildest du dir doch nur ein», «Das ist eine Krankheit», «Du hast einfach noch nicht die richtige Person gefunden», «Mit dir stimmt etwas nicht».
Unwissen und Bevormundung von Ärzt:innen und Therapeut:innen
Den letzten Satz hören und spüren asexuelle Personen oft auch vonseiten medizinischen oder therapeutischen Fachpersonen. Dabei fehlt es oft nicht nur an Unwissen und Verständnis, sondern es kommt auch zu Bevormundung. Irina Brüning sagt dazu: «Wenn man zu Ärzt:innen geht, ist das ja oft eine vulnerable, stressige Situation. Wenn man da ein:e Ärzt:in zusätzlich erst noch aufklären – und sich selbst erklären – muss, hilft das natürlich nicht.»
Im Gespräch mit einem Psychoanalytiker hörte Selam, dass ihre Asexualität nicht normal sei – ohne dass ihre Sexualität überhaupt Thema der Therapie gewesen sei. Auch Mia wurde von Psycholog:innen eingeredet, sie müsse an einer psychischen Erkrankung leiden, welche die Libido unterdrücke.
Sexualität muss breiter gedacht werden
Zudem wurde sie von Gynäkolog:innen nicht nur nicht ernst genommen, sondern musste dafür kämpfen, richtig untersucht zu werden – weil sie noch nie Sex hatte. So musste sie erst auf dem Notfall landen, bis endlich ihre Mensschmerzen ernst genommen und ihre Endometriose-Erkrankung festgestellt wurden. Und endlich erhält sie eine Jahreskontrolle. Davor hiess es, sie sei ja nicht sexuell aktiv, das sei nicht nötig. Das deckt sich mit der «Ace Community Survey», in der mehr als zwei Drittel angaben, sich gegenüber Mediziner:innen oder Therapeut:innen nicht zu outen. Aufklärung spielt also auch hier eine grosse Rolle.
Irina Brüning, Verein AktivistA«Bei sexuellen Orientierungen wird Asexualität häufig noch nicht mitgedacht»
Genauso in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, im Aufklärungsunterricht. «Bei sexuellen Orientierungen wird Asexualität häufig noch nicht mitgedacht», sagt Irina Brüning. Auch Aromantik, sprich das Fehlen romantischer Anziehung, wird noch selten thematisiert. Aromantische Personen haben meist sexuelle Kontakte, gehen aber kaum romantische Beziehungen ein.
Auch Selam würde sich wünschen, dass Sexualität in der Schule breiter gedacht würde. Dass Sexualität ein Spektrum ist, und Asexualität gleichgestellt wird mit anderen sexuellen Orientierungen. «Viele haben eine fixe Vorstellung, wie Sex ablaufen sollte. Da wird auch noch viel zu wenig über Kommunikation und über Konsens gesprochen. Darüber, dass man seine Wünsche und Bedürfnisse äussern darf.»
Austausch mit der asexuellen Community
«Asexualität ist gesund und völlig in Ordnung, es ist schlicht eine sexuelle Orientierung.» Damit dieses Denken in der breiten Gesellschaft ankommt, setzt sich Peter für mehr Sichtbarkeit ein. Ihm selbst hat damals die asexuelle Community sehr geholfen. Menschen, die unsicher sind, ob sie sich auf dem asexuellen Spektrum befinden könnten, empfiehlt er unbedingt – physisch oder virtuell – den Austausch mit der Community zu suchen. «Da erhält man viel Unterstützung und viele Fragen werden geklärt, es herrscht ganz einfach ein unausgesprochenes Verständnis füreinander. Man teilt viele typischen Erfahrungen, das verbindet.»
In seinem nahen Umfeld spricht er offen über seine Asexualität. Sein Bekanntenkreis hatte zwar viele Fragen, aber sein Outing wurde positiv aufgenommen. Aufgrund des Stigmas möchte er trotzdem anonym bleiben in diesem Artikel – genauso wie Selam und Mia. Auch, damit sie selbst wählen können, wem gegenüber sie sich outen möchten und nicht ungewollt zwangsgeoutet werden.
Denn ein Outing ist immer ein Vertrauensbeweis. Von Freund:innen, Angehörigen und anderen nahestehenden Personen von Menschen auf dem asexuellen Spektrum wünscht sich Irina Brüning folgende Unterstützung: «Ganz einfach die Person ernst nehmen und zuhören. Und sich selbst informieren, denn Informationen findet man mittlerweile ganz einfach in guten Büchern oder online.»
Hier könnt ihr euch weiter informieren oder den Austausch mit der Community suchen: