Leben
Cute Aggressions: Deshalb machen uns herzige Dinge aggressiv
- Text: Alica Wenger
- Bild: Shutterstock
Ein niedliches Äusseres soll vor allem eines: Das Überleben sichern. Doch manche Geschöpfe sind derart zum Knuddeln, dass es schon fast aggressiv macht.
Kennt ihr das? Ihr haltet ein schnurrendes Kätzchen oder knuddelt ein süsses Baby – und vor lauter Entzücken verspürt ihr plötzlich das Verlangen, das schnucklige Wesen ganz fest zu drücken oder ihm ins Öhrchen zu beissen. Falls ihr diesen Drang häufig verspürt, könntet ihr an «Dimorphous Expressions of Positive Emotion» leiden, auch bekannt als «cute aggression» – niedliche Aggression. Das Phänomen ist zwar bislang weitgehend unerforscht, bekannt ist aber immerhin: Was im ersten Moment beängstigen mag, ist keineswegs Ausdruck irgendwelcher Gewaltfantasien.
Neurologische Ursache noch weitgehend unerforscht
Als bisher einzige Wissenschafterin hat Katherine Stavropoulos, Psychologin an der University of California Riverside, den neurologischen Hintergrund dieser «cute aggression» untersucht. Sie legte während eines Experiments 54 Probandinnen und Probanden Bilder von herzigen und weniger herzigen Wesen vor und mass deren Hirnaktivität. «Auch wenn wir nicht genau wissen, was beim Betrachten von niedlichen Tieren und Babies im Gehirn vorgeht, so zeigt sich doch, dass diese ungewöhnliche Art der Aggression eng mit dem Belohnungs- und Emotionssystem verknüpft ist», sagt Stavropoulos. Folglich lasse sich dieses Phänomen durch einen Überschuss an Emotionen und Belohnungsimpulsen erklären. Dies führe dazu, dass positive Empfindungen in ein aggressives Verhalten umgewandelt werden.
Ventil für Überschüssige Emotionen
Als Erklärung kommen evolutionsbiologisch mehrere Theorien infrage, so die Psychologin. «Niedliche Aggressionen» könnten als Ventil dienen, um von Emotionen überwältigte Menschen vor Ohnmacht zu bewahren und damit die Versorgung des Nachwuchses sicherzustellen. Sie wären also eine Art Korrekturprogramm, das sicherstellt, dass das süsse Kindchenschema das erfüllt, was es eigentlich erfüllen sollte: nämlich die Förderung des elterlichen Fürsorgeverhaltens. Eine weitere Hypothese lautet, dass «cute aggression» uns an unsere physische Überlegenheit gegenüber kleinen, fragilen Wesen erinnern und uns zu einem sorgfältigen Umgang mit ihnen sensibilisieren soll.
Doch wie dem auch sei: Selbst wenn wir noch so ergriffen sind, schaffen wir es dennoch meist problemlos, unsere Aggressionen zu beherrschen. Nicht so wie Lennie, die tragische Figur in John Steinbecks Novelle «Von Menschen und Mäusen»: Er erdrückte in Anfällen von Zärtlichkeit nicht nur Tiere, sondern auch eine Frau – was letztlich auch ihn das Leben kostete.