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Der Club der Anonymen Alkoholiker

Der Club der Anonymen Alkoholiker

  • Text: Frank Heer; Fotos: Roderick Aichinger

Keine Organisation hilft so vielen Menschen, nüchtern zu werden, wie die Anonymen Alkoholiker. In New York findet immer irgendwo ein Meeting statt. Unser Autor hat sich dazugesetzt.

Bruce * war high. Als er das Blaulicht im Rückspiegel bemerkte, fuhr er an den Strassenrand. Er sah, wie der Polizist aus dem Streifenwagen ausstieg. Auf dem Beifahrersitz lagen Einwegnadeln, auf dem Rücksitz eine Flasche Wodka. In der Jackentasche steckten Plastikbeutel mit Kokain und Heroin. Jetzt stand der Polizist an seinem Fenster, Hand an der Pistole, und zeigte auf die Nadeln: «Sind Sie Diabetiker?» Bruce schwitzte. In der Spiegelsonnenbrille des Beamten konnte er sein verzerrtes Gesicht sehen.

«Ja», nickte er. «Steigen Sie bitte aus, Sir.»

Was nun geschah, ist Bruce nur lückenhaft in Erinnerung. Er hatte Gas gegeben und war davongerast. Im Rapport war von einer Verfolgungsjagd die Rede, die mehrere Streifen und einen Helikopter auf den Plan rief, bis ihn ein Spezialkommando aus dem Auto zerrte.

14 Jahre danach. Ein klirrend kalter Freitagabend im Februar. Vor dem Auditorium der Kirche St. Francis of Paola im Brooklyner Stadtteil Williamsburg bleiben nur die Raucher stehen. Bruce raucht nicht. Drinnen setzt er sich auf einen freien Stuhl in der zweiten Reihe. «Ich mag dieses Meeting. Gute Leute, alles sehr entspannt.» Der Saal füllt sich. Auf einem Tisch sind Pumpkannen mit Filterkaffee, Packungen mit Oreo-Keksen und Donuts. Daneben Bücher und Broschüren mit Titeln wie «Es gibt Besseres, als in einer Zelle zu sitzen» oder «Kurze Einführung in die Gemeinschaft der AA». Auf der Bühne ist ein Tisch mit Mikrofon, davor sind an die hundert Klappstühle aufgereiht. Auf einem Banner stehen die zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker. Schritt 1: Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern können.

Mit seinen weinroten Hosen, den Halsketten und der hellblauen Skijacke aus dem Vintage-Laden fällt Bruce hier nicht weiter auf. Viele, die zum Meeting der Gruppe Northside kommen, sind Künstler, Musikerinnen, Journalisten, Architekten, andere Kreative: zum Beispiel Jack, Bassist in einer Blackmetalband. Und Ruth, DJane und Fotografin mit Tätowierungen bis zu den Fingerspitzen. Oder Walt, Schriftsteller mit hinaufgeschlagenem Mantelkragen. Man kennt sich, gibt sich die Hand, tauscht sich aus. Bruce ist 41 und selbstständiger Grafiker. Im Januar hat er in Paris geheiratet, seine Frau, eine Anwältin, lernte er vor zwei Jahren an einem dieser Meetings kennen.

Kurz nach sieben sind alle Stühle besetzt, hinten wird nachgereiht. Ein Mann, Mitte dreissig, lange Locken, Lederjacke und Hornbrille, tippt gegen das Mikrofon. Er beugt sich vor und sagt: «Hallo Leute. Danke, dass ihr gekommen seid. Ich heisse Greg, ich bin Alkoholiker und werde dieses Meeting leiten.»

«Hi Greg», antwortet der Saal im Chor. «Gibt es Leute, die ihre Tage zählen?» «Hi, ich bin Heather», sagt eine junge Frau in der ersten Reihe. «Ich bin Alkoholikerin und seit drei Tagen trocken.» Der Saal klatscht. «Jubiläen?», erkundigt sich Greg. Ein Mann im Rollkragenpullover steht auf. «Hi, ich heisse Steven und bin Alkoholiker. Ich hatte meinen letzten Drink am 23. Februar vor 17 Jahren.» Tosender Applaus.

Dann setzt sich eine junge Frau neben Greg. Anfang zwanzig, zierlich, Turnschuhe mit Kapuzenjacke. «Hi, ich heisse April und bin Alkoholikerin.» April ist hier, um ihre Geschichte zu erzählen. Sie spricht leise: Aufgewachsen im Schatten flamboyanter Künstlereltern in Chicago. Mit neun zum ersten Mal betrunken. Mochte das Gefühl von Geborgenheit. Rausch als sicherer Hafen. In der Highschool trank sie mehr als die anderen. Repetierte Klassen, verlor Freunde, entdeckte Speed. Magersucht, Depression, erfolglose Entzugsversuche. «Irgendwann schaute ich in den Spiegel und fragte mich: Willst du leben oder sterben?» Heute studiert April Geschichte in New York. Sie ist seit vier Jahren trocken. «Ohne die AA wäre ich heute tot.»

Die Northside Group ist eine von rund 700 Selbsthilfegruppen der Anonymen Alkoholiker in New York. Einzige Voraussetzung, um von der Dachorganisation anerkannt zu werden, ist der Vorsatz mindestens zweier Menschen, mit dem Trinken aufzuhören. Jede Gruppe agiert autonom. Die AA kennen keine Hierarchie, kein Präsidium, keine formale Mitgliedschaft und keine professionellen Kräfte wie Therapeuten, Seelsorger oder Ärzte. Jegliche Mitarbeit verläuft auf freiwilliger Basis. Spenden von aussenstehenden Organisationen oder Privatpersonen werden abgelehnt, stattdessen wird eine interne Kollekte erhoben. In New York vergeht kaum eine Stunde, in der sich nicht irgendwo eine AA-Gruppe trifft. Es gibt Meetings für Ärzte und Schauspieler, Schwule und Lesben, Frühaufsteher und Nachtvögel, Künstler und Börsenhengste, Teenager oder Kriegsveteranen. Sogar für Muslime: die Millati Islami World Services. «Das Northside-Meeting», lacht Bruce, «ist für Hipster und schräge Vögel.» Manchmal, erzählt er, blieben Passanten vor dem Auditorium stehen: Steigt hier eine Party? «Dann antworten wir: Klar, kommt rein. Es gibt Oreo-Kekse und Filterkaffee! Haha.»

Bruce wuchs in einer Lehrerfamilie in Los Angeles auf. Behütete Kindheit, gute Ausbildung. Als jugendlicher Punkrocker suchte er die Euphorie des Rauschs durch Alkohol, später durch Kokain, Heroin, Crack. Er flog von der Uni, lebte in besetzten Häusern und im Auto. Am Morgen seines Fluchtversuchs war Bruce 27 Jahre alt. Man sperrte ihn in eine Zelle, gefolgt von einem sechsmonatigen Zwangsentzug. Sein Therapeut riet ihm, eine Gruppe der Anonymen Alkoholiker zu besuchen. «Ich kannte die AA nur aus Filmen: Kerle in Trainerjacken, die im Kreis sitzen und über Jesus reden.» Auf einer Liste suchte er Meetings mit originellen Namen: Hole in a Donut oder Kitchen Sink. «Ich ging hin, und da waren lauter junge, nette Leute, die Ähnliches durchlebt hatten. An den Wochenenden gab es Poolpartys, oder man fuhr zum Camping in die Berge. Das Beste daran: Ich lernte viele hübsche Frauen kennen. Wow, dachte ich, so macht das Leben Spass!»

23 Millionen Menschen leiden in den USA an chronischer Alkoholsucht. In der Schweiz geht man von 250 000 Alkoholkranken und 1.6 Millionen Risikotrinkern aus. 1967 wurde Alkoholismus von der American Medical Association offiziell zur Krankheit erklärt. Fast alle Therapeuten und Suchtkliniken empfehlen heute ihren Patienten zur Langzeitbehandlung das 12-Schritte-Programm der AA. Etwa achtzig Prozent aller, die das erste Jahr trocken überstehen, bleiben gemäss Statistik von Rückfällen verschont, sofern sie sich aktiv in einer AA-Gruppe engagieren. Dass die AA keiner wissenschaftlichen Methode folgen, ist so unbestritten wie die therapeutische Kraft der Selbsthilfegruppe. Es ist simpel: Zwei Menschen reden über das gemeinsame Problem und fühlen sich besser. Früher besuchte Bruce mehrere Meetings pro Woche. Heute sind es ein oder zwei. Manchmal weniger. «Man denkt, nach 14 Jahren Abstinenz ginge es auch ohne. Aber das Biest schleicht sich immer wieder an, selbst wenn du hundert Jahre trocken bleibst. Einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker.»

Die Frage, was ein Alkoholiker ist, beantwortet John (39) mit einem Witz: «Fragt ein trockener Alki einen trockenen Alki: ‹Was würdest du tun, wenn du heute erführest, dass du doch kein Alkoholiker bist?› – ‹Ich würde mich sofort betrinken.›» John steuert seinen Van über die Williamsburg Bridge nach Manhattan. Er trägt ein gelbes Westernhemd, Jeans und Bluntstone-Boots. Am Rückspiegel baumelt ein Lufterfrischer in der Gestalt von Elvis Presley. Vor einer East-Village-Bar namens «Holiday Cocktail Lounge» parkiert John den Wagen. Hier hatten schon Jack Kerouac und Allen Ginsberg gezecht – und John, der früher um die Ecke lebte. Heute bevorzugt er die Adresse gegenüber: ein kleines Theater namens 80 St. Marks. Es ist Samstag kurz vor 13 Uhr, in einem Nebenraum im zweiten Stock findet täglich das Treffen der Gruppe Living Now statt. Etwa dreissig Teilnehmer sitzen auf ihren Stühlen. Über dem Tisch mit den Kaffeekannen, Oreos und Plastikbechern hängen die 12 Schritte. Die Interimsleiterin der Gruppe liest sie zur Begrüssung vor. «Schritt 4: Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Innern.» Dann übergibt sie John das Wort. Es ist nicht das erste Mal, dass er vor einer AA-Gruppe seine Geschichte erzählt.

«Hi. Ich heisse John, und ich bin Alkoholiker.»

«Hi John.»

«Meinen ersten Drink hatte ich mit 13, meinen letzten mit 29. Die Trinkerei geriet ausser Kontrolle, als ich einen Vertrag bei einer grossen Plattenfirma unterschrieb und beschloss, wie ein Rockstar zu leben. Mit einem Vorschuss von 150 000 Dollar wechselte ich als Erstes zu einer teureren Whiskeymarke.»

Gelächter.

«Ich wusste, dass ich zu viel trank, aber als junger Musiker ist es schwer, sich ein Leben ohne Alkohol vorzustellen. Meine Freundin trank nicht, aber schluckte haufenweise Upper und Downer. Ich nahm keine Drogen, dafür war ich abwechselnd betrunken oder verkatert. Mein Arzt erklärte mir, dass meine Leberwerte alarmierend seien und eine Fettleber das Letzte sei, an dem man sterben wolle. Also entschied ich mich für einen Entzug, auch weil ich fit für eine US-Tournee sein wollte. Ich lebte gesund, ging in den Gym, schrieb neue Songs. Als ich nach drei Monaten entlassen wurde, setzte ich mich in die nächste Bar und bestellte Whiskey. Es war die Fortsetzung einer langen Abwärtsspirale: Meine Freundin warf mich aus der Wohnung, die Tournee war ein Desaster, das Album floppte, und die Plattenfirma kündigte den Vertrag. Mein Manager, mein Anwalt, mein Steuerberater und das Steueramt kassierten, was von den 150 Riesen übrig war. Ich trank nur noch zuhause vor dem Fernseher. Meistens verlor ich schon mittags das Bewusstsein, wachte am Nachmittag auf, trank weiter und verlor erneut das Bewusstsein. Erst als mir die Leber wie ein Fussball aus dem Leib stand, beschloss ich, mich behandeln zu lassen.»

Allgemeines Kopfnicken.

«Auf dem Weg in die Klinik betrank ich mich ein letztes Mal. Während des Entzugs begleitete mich ein Freund an ein Meeting der AA. Ich hatte es vor Jahren schon einmal probiert, doch ich konnte damit nichts anfangen. In der Gruppe, die ich jetzt besuchte, waren Musiker und junge Leute, mit denen ich mich identifizieren konnte. Plötzlich merkte ich, dass ich diese Treffen brauchte. Die klaren Abläufe gaben mir eine Struktur, an die ich mich klammern konnte. Aus mir ist kein Rockstar geworden, dafür lebe ich noch. Ich führe ein kleines Unternehmen für Kunsttransporte, bin verheiratet und Vater dreier Kinder. Manchmal spiele ich Konzerte in kleinen Clubs. Viele meiner Songs sind Trinklieder. Statt einem Whiskey steht auf meinem Verstärker eine Tasse Kaffee.»

Am 10. Juni 1935 versammelte sich in Akron, Ohio, die erste Selbsthilfegruppe für Alkoholiker. Genau genommen war es ein Duo: der Immobilienhändler Bill Wilson und Bob Smith, ein Arzt. Beide standen kurz davor, mit ihrer Trinkerei sich selbst und ihre Familien zu zerstören. Auf einer Geschäftsreise beschloss Wilson, den lokalen Seelsorgedienst anzurufen. Er verlangte nach dem Namen «irgend eines Trunkenbolds», mit dem er reden könne. Man verwies ihn an «Dr. Bob». Drei Jahre später zählten die Anonymen Alkoholiker, wie man sich nun offiziell nannte, 99 Männer und eine Frau. Heute sind es zwei Millionen Menschen.

Das zentrale Gebot der Gemeinschaft steckt im Namen: Anonymität. Sie schützt die Mitglieder vor Stigmatisierung und sozialer wie beruflicher Benachteiligung. Gleichzeitig fördert die Verschwiegenheit Legenden. Etwa die einer sektenhaften Vereinigung. Das hängt damit zusammen, dass viele Kirchen den AA ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellen. Doch es gibt auch Gruppen mit reaktionären Ansichten und evangelikalen Tendenzen, zum Beispiel die umstrittene Atlantic Group. Zu deren Meetings treffen sich jeden Freitag mehrere hundert Menschen in einer Methodistenkirche in Manhattan – Herren in Krawatte, Damen im Kleid. Die Gastredner inszenieren ihre Vorträge als drehbuchreife One-Man-Show. Am Ende wird das Vaterunser gebetet.

Solche Gruppen sind Ausnahmen. Der überwiegende Teil vertritt keine Ideologie und agiert konfessionsfrei. Trotzdem ist Gott Teil des Programms: Nach offizieller AA-Lesart kann Alkoholismus nicht aus eigener Kraft, sondern nur mit spiritueller Hilfe besiegt werden. Gründervater Bill Wilson erfuhr im Delirium des Entzugs ein religiöses Erweckungserlebnis, das er dahin deutete, seine Schwäche vor dem Alkohol fortan einer «höheren Macht» zu unterwerfen. Dieser Grundgedanke zieht sich als roter Faden durch fast alle 12 Schritte, die Wilson 1939 in seinem Bestseller «Anonyme Alkoholiker» (Das Blaue Buch) niederschrieb und die bis heute als Leitfaden zur Nüchternheit gelten.

Was kaum jemand weiss: Unter den Gründungsmitgliedern befand sich ein hartgesottener Atheist, der Autoverkäufer Jim Burwell. Er überzeugte seinen Freund Wilson, dass der Glaube keine Voraussetzung für eine Mitgliedschaft bei den AA sein dürfe. Damit, so Burwell, brüskiere man jene Hilfesuchenden, die sich keiner Religion zugehörig fühlen.

Statt von Gott ist heute von einer «Macht, grösser als wir selbst» und von «Gott, so wie wir ihn verstehen» die Rede. Das mag nicht alle Skeptiker überzeugen, doch die Formulierung lässt Spielraum zur Interpretation. Deutlich ist die Präambel der Dachorganisation: «Die Gemeinschaft der AA ist mit keiner Sekte, Konfession, Partei, Organisation oder Institution verbunden», heisst es dort. «Unser Hauptzweck besteht darin, nüchtern zu bleiben und anderen Alkoholikern zur Nüchternheit zu verhelfen.»

Samstagnacht, 23 Uhr. Vor dem Hintereingang der Kirche Our Lady of Mount Carmel in Williamsburg hängt ein Schild: «The Ungodly Hour. 11pm–12pm». Die Ungöttliche Stunde ist eine von 16 New Yorker AA-Gruppen, die sich an Atheisten und Agnostiker wenden. In einem Kellerraum stehen Klappstühle entlang den Wänden. Kaffeetisch, Oreos, der Bücherstand und die 12 Schritte gehören auch hier zur kargen Grundausstattung. Schritt 8: Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten und wurden willig, ihn bei allen wieder gutzumachen. Lynn hatte die Gruppe vor ein paar Jahren mit Freunden gegründet. Sie sagt: «Bill Wilson war ein guter Mann. Er lebte in einer rigiden Zeit. Alkoholiker zu sein, war ein Sündenfall, selbst verschuldet. Unter diesen Umständen haben wir ihm viel zu verdanken. Gleichzeitig hindert die religiöse Färbung seiner Texte viele Leute daran, einer AA-Gruppe beizutreten: Agnostiker, Atheisten, Freidenker oder Neugierige, die Mühe mit dem Gottesbegriff haben, fühlen sich nicht angesprochen. Bei uns sind diese Leute willkommen», sagt Lynn. «Wir sind zu hundert Prozent AA, einfach ohne Gott. Unsere höhere Macht ist die Realität, und unser Motto lautet: Leben und leben lassen. Ich bin sicher, damit wäre auch Bill einverstanden.»

Der US-Neurologe Marc Lewis schreibt in seinem Buch «Biology of Desire», die AA hätten Millionen von Menschen das Leben gerettet, kritisiert aber die in der Gemeinschaft gehegte Vorstellung des «ewigen Alkoholikers», der sich einer «höheren Macht» unterwirft, statt sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der Suchtforschung auseinanderzusetzen. Dadurch nehme die Organisation in Kauf, dass Millionen von Alkoholikerinnen und Alkoholikern nichts mit ihrem Programm anfangen können. Die WHO geht von weltweit 75 Millionen Alkoholkranken aus. Nur zwei Millionen finden Hilfe bei den AA. Über das Schicksal der 73 Millionen, die von der Statistik nicht erfasst werden, kann nur spekuliert werden: Ein Grossteil dürfte lebenslänglich zwischen Rehab und Rückfall schwanken. Eine nicht unbedeutende Zahl hört aus eigener Kraft mit dem Trinken auf oder findet einen massvollen Umgang mit Alkohol («Kontrolliertes Trinken»). Millionen sterben an den Folgen ihrer Sucht. Im Grunde zeigt die Statistik: Die AA bieten verhältnismässig wenigen ein adäquates Programm, trotzdem gibt es keine andere Organisation, die so viele Menschen ins Trockene holt, wie die Anonymen Alkoholiker.

Yael (29) trägt eine John-Lennon-Brille und hat die dunklen Locken unter einer Wollmütze versteckt. Sie sieht sich als Agnostikerin, ist Jüdin, hat seit ihrer Bat-Mizwa keine Synagoge mehr von innen gesehen und arbeitet als Krankenschwester. Nebenbei ist sie Komikerin und feilt an ihrem neuen Programm.

Yael hatte vor vier Jahren beschlossen, abstinent zu leben, nachdem sie am Morgen ihres 25. Geburtstags auf einer New Yorker Parkbank aufgewacht war. Schon während ihrer Teenagerjahre merkte sie, dass sie keine Kontrolle über ihren Alkoholkonsum hatte. «Nichts konnte mich stoppen, auch wenn ich mir der Konsequenzen bewusst war.» Einmal pro Woche trank sie sich ins Blackout. Sie fand sich in fremden Betten wieder und wusste nicht, wer der nackte Mann war, der neben ihr schnarchte. «Ich hasste und ich schämte mich.» Yael beschloss, ihr erstes AA-Meeting zu besuchen. «Als Freigeist konnte ich die Vorstellung nicht akzeptieren, dass mich Gott von meiner Sucht befreie. Zum Glück hatte ich einen guten Sponsor. Das sind Freiwillige in der Gruppe, die einem in den ersten Monaten beistehen. Sie sagte mir: Yael, vergiss das Wort Gott. Stell dir etwas anderes vor. Weil ich aus Arizona komme, dachte ich an den Grand Canyon. Das funktionierte. Ich realisierte, dass es bei der Kapitulation vor einer höheren Macht, wie es die 12 Schritte verlangen, darum geht, sich in Bescheidenheit zu üben. In sich hineinzuhorchen, seine Schwächen zu erkennen und Hilfe anzunehmen. Das steht nicht im Widerspruch zu meinem Weltbild. Ich habe Meetings erlebt, die mir zu konservativ, zu religiös oder radikal waren. Dann suchte ich mir eine andere Gruppe. Sicher, in Arizona wäre das schwieriger, doch in New York habe ich die Wahl.»

Zum 80. Geburtstag der Alcoholics Anonymous im letzten Jahr wurde in den US-Medien viel debattiert. Der «New York Times»-Autor David Colman forderte, dass die AA aus dem Schatten ihrer Anonymität treten müssten. «I’m David Colman, and I’m an alcoholic», begann er seinen Artikel und verletzte schon mit dem ersten Satz das höchste AA-Gebot. Er begründete sein Outing damit, dass mehr Menschenleben gerettet werden könnten, wenn Betroffene und Prominente mit ihrer Story an die Öffentlichkeit gingen, um Überzeugungsarbeit zu leisten, auch für die AA.

Schauspieler Robert Downey jr. oder Bestsellerautor Stephen King sprechen heute öffentlich über ihren Kampf gegen den Alkohol und darüber, dass es Wege aus der Sucht gibt. Das wird auch in den Schweizer Sektionen diskutiert. Die Meinungen sind geteilt. Marianne Egli, Medienbeauftragte der AA Schweiz, schreibt dazu auf Anfrage: «Bei uns ist man zurückhaltender, was die Lockerung der Anonymität betrifft, auch aus Angst, den Job, Freunde und Verwandte zu verlieren. Wir wissen, dass sich in den USA viele Prominente und Personen in öffentlichen Positionen zu ihrer Alkoholkrankheit bekennen. Ihre Zugehörigkeit zu den AA und die offene Kommunikation darüber wird als Stärke gewertet. Doch was, wenn diese Menschen einen Rückfall erleiden? Auf die AA hätte die PR plötzlich einen negativen Effekt.»

Mitternacht. Vor der Mount Carmel Church verliert sich das Atheisten-Grüppchen der Ungöttlichen Stunde zwischen Nachtschwärmern. Gelächter, hupende Taxis, Fetzen von Musik. Yael raucht eine Zigarette. Wenn sie im Sommer ihren 30. Geburtstag feiert, ist sie fünf Jahre trocken. Was denkt sie, wenn sie die vielen Menschen sieht, die gut gelaunt durch Bars, Clubs und Restaurants ziehen? Yael überlegt. «Ich denke, dass ich viele Jahre meiner Jugend verloren habe. Weil ich glaubte, dass ich mich nur spüre, wenn ich trinke.» Sie schnippt ihre Zigarette auf die Strasse. «Heute weiss ich, dass ich mich nicht spürte, weil ich trank.»

AA in der Schweiz
In der Schweiz wurde die erste AA-Gruppe 1956 gegründet. Heute besteht ein Netz von rund 170 Gruppen. «Man kann die Bedeutung der AA in den USA nicht mit der Schweiz vergleichen», sagt Karin (45). Die Zürcher Texterin ist seit fünf  ahren trocken und kennt die Szene auf beiden Seiten des Atlantiks. «Das Durchschnittsalter hier ist deutlich höher, was damit zusammenhängt, dass bei uns ein gut funktionierender Sozialstaat früher und effektiver eingreift als in den USA.» Dafür wisse man nur wenig über die AA, vieles sei falsch, und schon gar nicht assoziiere man die Organisation mit etwas so Aufgeschlossenem. «Trotzdem ist für mich meine Zürcher AA-Gruppe ein unverzichtbarer Ort des Rückhalts und Austauschs.» Die AA Schweiz zählen rund 2000 Mitglieder – gegenüber den 250 000 Alkoholkranken, von denen das Bundesamt für Gesundheit ausgeht, ist das eine verschwindend kleine Zahl. Karin überlegt sich daher, in Zürich zusammen mit Freundinnen eine erste AA-Frauengruppe zu gründen.

Kontakt und Infos AA Schweiz: anonyme-alkoholiker.ch
Für Angehörige alkoholkranker Menschen: al-anon.ch
Für Suchtfragen bezüglich Drogen: narcotics-anonymous.ch
Allgemeine Infos zum Thema Sucht: suchtschweiz.ch
Online-Magazin: alk-info.com

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