Claudia Lüchinger: Eine echte Kommissarin über TV-Krimis
- Text: Julia Hofer, Fotos: Dan Cermak
Couch-Ermittlerin macht den Reality-Check: Krimifan Julia Hofer testet ihr Tatortwissen im Gespräch mit einer echten Kommissarin.
ANNABELLE: Claudia Lüchinger, welchen TV-Krimi haben Sie zuletzt gesehen?
CLAUDIA LÜCHINGER: Den «Tatort».
Werden Sie nicht dauernd an den Job erinnert, wenn Sie abends Krimis schauen?
Nein, Krimis sind einfach gute Unterhaltung. Die Verbrechen sind zwar realistisch – die Aufklärung jedoch überhaupt nicht. Wenn man zeigen würde, wie wir tatsächlich arbeiten, würden spätestens nach zwei Stunden alle abschalten.
Sie arbeiten beim Dienst Leib/Leben. Woher kommt dieser merkwürdige Begriff?
Er will aufzeigen, dass wir mit Delikten zu tun haben, die den Körper oder das Leben betreffen, also mit Tötungsdelikten, Körperverletzungen, Raubüberfällen und Vermisstmeldungen.
Und wie nennen Sie sich? Kommissarin?
Ich bin eine Sachbearbeiterin des Diensts Leib/Leben im Rang eines Feldweibels mbA, was heisst: mit besonderen Aufgaben. Wir haben militärische Ränge, aber wir sprechen uns nicht mit dem Rang an.
Was können Sie uns über die Fälle sagen, an denen Sie gerade arbeiten?
Zurzeit arbeite ich an einem ungeklärten Tötungsdelikt aus dem Jahr 2010 sowie an einem Tötungsversuch von letzter Woche. Ausserdem habe ich noch einen offenen Fall von schwerer Körperverletzung. Und einen Vermisstenfall. Ich bin mehr als ausgelastet.
Wie kommt man denn zu einem Fall?
Ich bin jeden fünften Tag und jedes fünfte Wochenende auf Pikett. Es haben immer zwei Polizisten unseres Diensts gleichzeitig Pikettdienst, einer übernimmt das erste Ausrücken, der andere das zweite. Die Fälle, die man auf Pikett antrifft, verfolgt man dann weiter.
Haben Sie bereits Verdächtige?
Beim ungeklärten Tötungsdelikt noch nicht. Beim Tötungsversuch von letzter Woche sitzt der Täter in Untersuchungshaft.
Ist er geständig?
(lacht) Das ist ein laufendes Verfahren, da kann ich nichts dazu sagen.
Wie ermitteln Sie in einem Mordfall?
Ich rücke zum Tatort aus. Am Anfang laufen die Ermittlungen in alle Richtungen. Man befragt das Umfeld und Leute, die sich in der Nähe des Tatorts aufgehalten haben. Vielleicht braucht es einen Zeugenaufruf. Falls man Spuren hat, wird geklärt, ob sie dem Täter zugeordnet werden können. Ich führe die Regie und koordiniere die Ermittlungen in enger Zusammenarbeit mit dem Staatsanwalt.
Sind Sie wie Kurt Wallander mit der Staatsanwältin befreundet?
Werden die Ermittlungen bei einem Tötungsdelikt aufgenommen, hat man täglich mit dem Staatsanwalt Kontakt, da dieser die Richtung der Ermittlungen vorgibt. Schon möglich, dass man mal zusammen zu Mittag isst oder abends ein Bier trinkt. Aber ich persönlich bin mit keinem Staatsanwalt befreundet.
Werden Sie manchmal vom Staatsanwalt zurückgepfiffen?
Nein, wir ziehen am selben Strang.
Die «Tatort»-Fahnder treten immer als Duo auf. Arbeiten Sie auch zu zweit an einem Fall?
Nein, grundsätzlich bin ich für meine Fälle allein verantwortlich. Aber ich teile das Büro mit einem Kollegen. Wir diskutieren miteinander, fragen uns gegenseitig um Rat.
Was für ein Typ ist Ihr Büropartner: Hat er Macken wie die Krimikommissare?
Ich werde mich hüten, irgendwelche Macken meines Büropartners auszuplaudern. Er ist ein sehr erfahrener Mitarbeiter, ein ruhiger, stiller Chrampfer. Wir teilen uns seit elf Jahren das Büro. Ich schätze an ihm, dass er mich so nimmt, wie ich bin, und dass er meine Launen erträgt.
Sie sind also diejenige, die Macken hat?
(lacht) Das müssen Sie ihn fragen.
In der letzten Zeit haben TV-Ermittlerinnen mit psychischen Störungen für Furore gesorgt: Saga Norén etwa, die Kommissarin mit autistischen Zügen im dänisch-schwedischen Mehrteiler «Die Brücke», oder die bipolare Carrie Mathison in «Homeland». Haben Sie auch autistische Züge?
Ich? (lacht) Nein. Aber Saga Norén, die ohne jegliche Gefühlsregung ermitteln kann, fasziniert mich. Gefühle können einem bei der Arbeit tatsächlich im Weg stehen.
Sind Sie an einem Tatort schon einmal in Tränen ausgebrochen?
Nein, das ist mir noch nie passiert.
Spielen Sie manchmal «good cop, bad cop»?
Um Gottes willen, nein, das ist ein absolutes Klischee. In der Regel befragt man einen Beschuldigten allein. Die Anwälte sind heute bei jeder Einvernahme dabei, da kann man sich keine Spielchen erlauben.
Sie ziehen also nie eine Show ab, um etwas aus dem Täter herauszubekommen?
Nein. Die Fragetechnik ist entscheidend. Wenn man belastende Aussagen und einen Verdächtigen hat, dann fragt man diesen zuerst … Nein, das kann ich nicht verraten. Ich muss es so sagen: Man versucht, den Beschuldigten des Lügens zu überführen. Man fragt etwa, ob er an einem bestimmten Ort war, obwohl man von Zeugen bereits weiss, dass er dort war.
Die Fragetechnik besteht also darin, dem Beschuldigten Fallen zu stellen.
Das sind doch keine Fallen. Ich frage offen und lasse ihn erzählen.
Sie halten sich stets an die Regeln? Im Krimi wird doch ständig im Graubereich operiert.
Würde ich mich nicht an das Gesetz halten, käme das irgendwann raus und könnte die Einstellung des Verfahrens zur Folge haben.
Ist gegen Sie schon einmal eine Dienstaufsichtsbeschwerde eingereicht worden? (überlegt) Nein.
Die Assistentin Franziska ging mit Max Ballauf und Freddy Schenk durch dick und dünn: Haben Sie auch eine gute Seele, die Ihnen den Rücken stärkt?
Leider nein. Aber wir haben jemanden, der sich um den administrativen Kram kümmert.
Im Krimi revolutionieren Computerfreaks wie Lisbeth Salander («Millennium») oder Sarah Brandt (Klaus Borowskis «Tatort»-Partnerin) die Polizeiarbeit. Welche Rolle spielt der Computer in Ihrem Arbeitsalltag?
Wir müssen Internet oder Facebook nutzen, weil die Täter es auch tun. Nur können wir es uns im Gegensatz zu Salander und Brandt leider nicht erlauben, das Gesetz zu brechen. Kein Hacking.
Welche Möglichkeiten stehen Ihnen konkret zur Verfügung?
Das kann ich nicht beantworten, es könnte ja sein, dass ein Täter beim Coiffeur annabelle liest und ich ihm so auf die Sprünge helfe.
Wie lange dauert es, bis eine Handyortung genehmigt ist?
Wenn jemand vermisst wird, geht es schnell.
Fünf Minuten? Einige Stunden?
Schnell.
Gerichtsmediziner bekommen im Krimi teilweise eine tragende Rolle, etwa Karl-Friedrich Boerne. Welche Bedeutung haben sie in Ihrem Alltag?
Ebenfalls eine grosse. Das Institut für Rechtsmedizin kann Angaben über die Todesart und -ursache sowie zur Tatwaffe machen. Was man aus dem Krimi weniger kennt: Die Gerichtsmediziner untersuchen auch verletzte Personen, damit man sagen kann, ob eine Verletzung lebensgefährlich war.
Verläuft eine Obduktion immer gleich?
Es kommt darauf an, ob es sich um ein Tötungsdelikt oder einen aussergewöhnlichen Todesfall handelt, bei dem der Arzt den Totenschein nicht ausstellen konnte. Im ersten Fall ist jemand von unserem Dienst bei der Sektion dabei, damit wir rasch Hinweise für die Ermittlungen erhalten. Die Anzahl der Untersuchungen richtet sich nach der Fragestellung. Es kann Wochen dauern, bis der endgültige Bericht vorliegt.
Treiben Sie den Gerichtsmediziner zur Eile an?
Nein, da können wir nicht dreinreden. Gerichtsmediziner sind Ärzte, die in einem doch eher speziellen Bereich arbeiten.
Zieht dieses Fach Exzentriker an?
(überlegt) Im gerichtsmedizinischen Institut gab es in der letzten Zeit einige Wechsel. Aber wie Boerne ist bestimmt niemand.
Welche Kleidung tragen Sie eigentlich bei der Arbeit, zivile Kleider?
Ja. Ich würde so, wie ich jetzt angezogen bin, ausrücken. Wäre der Tatort im Wald, würde ich vielleicht noch Wanderschuhe anziehen.
Sie stöckeln nie wie Iris Berben alias Rosa Roth auf Highheels zum Tatort?
Ich trage immer flache Schuhe. Auch privat.
Mögen Sie Rosa Roth?
Ich finde sie genial. Sie hat etwas Verschlossenes, ist aber trotzdem menschlich. Mir gefällt die intuitive Art, mit der sie ihre Fälle löst.
Ermitteln Frauen anders als Männer?
Um abzuschätzen, ob jemand lügt, braucht es immer Intuition – egal, ob man eine Frau oder ein Mann ist. Früher war es so, dass Polizisten bei Sexualdelikten eher den Männern glaubten und Polizistinnen eher den Opfern. Aber das gilt heute nicht mehr.
Haben Sie schon einmal im Büro geschlafen, als Sie mitten in einem Fall steckten?
Nein, aber ich habe schon manche Nacht durchgearbeitet. Wenn ein Tötungsdelikt ganz frisch ist, ist man ohne weiteres dreissig Stunden auf den Beinen.
Wie steht man das durch?
In diesen ersten dreissig Stunden hat man viel Adrenalin. Man gibt alles, weil man weiss, dass die Ermittlungen schwieriger werden, je mehr Zeit vergeht. Die Müdigkeit kommt erst auf dem Heimweg. Oft lege ich mich dann nur zwei Stunden schlafen, um nicht ganz aus dem Rhythmus zu kommen. Wichtig ist auch, dass man über belastende Erfahrungen reden kann.
Mit dem Dienstpsychologen?
Mit dem Careteam. Ich konnte belastende Erfahrungen aber bislang im Gespräch mit Kollegen oder Freunden verarbeiten. Als ich noch bei den Sexualdelikten arbeitete, habe ich eine Zeit lang an einer Supervision teilgenommen.
Dürfen Sie mit Freunden über die Arbeit reden?
Ich muss das Berufsgeheimnis einhalten und darf keine Namen nennen. Aber man kann ja trotzdem über seine Gefühle reden. Ich werde von Bekannten oft auf meine Fälle angesprochen, weil sie in den Medien waren.
Sind Sexualdelikte belastender als Morde?
Alles, was mit Kindern zu tun hat, ist besonders schlimm.
Welches sind die schlimmsten Bilder, die Sie je gesehen haben?
Bilder von Kindern, die Opfer von Sexualdelikten geworden sind. Oder dieser sechsjährige Junge, der von Hunden zu Tode gebissen wurde – das war mein Fall.
Wie oft mussten Sie schon eine Todesnachricht überbringen?
Noch nie, weil das die Polizisten von der Polizeistation erledigen. Ich habe aber schon Angehörige ins Institut für Rechtsmedizin begleitet, die ein Opfer identifizieren mussten. Das macht man dann möglichst human, Verletzungen werden abgedeckt.
Arbeiten Sie manchmal mit Privatdetektiven wie Varg Veum aus der norwegischen Krimiserie «Der Wolf» zusammen?
Nein, das ist ein Klischee.
Fahren Sie eigentlich mit dem Polizeiauto oder dem Privatwagen?
Mit einem neutralen Polizeiauto.
Setzen Sie manchmal während des Fahrens das Blaulicht aufs Auto?
Nein, da ich allein ausrücke, muss ich mich aufs Fahren konzentrieren. Ausserdem brauche ich selten Blaulicht, das Verbrechen ist ja bereits geschehen, wenn ich am Tatort erscheine.
Haben Sie manchmal Angst, wenn Sie mit Gewaltverbrechern zu tun haben?
Wenn ich ein ungutes Gefühl habe, frage ich, ob ein Kollege bei der Befragung dabei sein kann. Als Frau darf ich nicht zu stolz sein, mir Hilfe zu holen. Auch wenn man vielleicht denkt: Jesses, die halten mich nun für ein Weichei.
Tun die Kollegen das?
Nein. Es ist bei uns üblich, dass man sich Unterstützung holt. Umgekehrt fragen uns die männlichen Kollegen, ob wir ihre weiblichen Beschuldigten aufs WC begleiten.
Wie merkt man, dass jemand gefährlich ist?
Wenn einer jemanden halb zu Tode geprügelt hat, braucht es nicht mehr viel Bauchgefühl. Dann möchte ich einfach nicht mit ihm allein im Lift sein.
Krimikommissare leisten gern mal einen waghalsigen Einsatz. Waren Sie auch schon unvernünftig?
Ich würde nie allein in ein Haus gehen, in dem ich Verdächtige vermute. Privat geriet ich mal in eine heikle Situation: Ein Mann ging mit einer zerbrochenen Bierflasche auf einen anderen los. Meine Bekannten erwarteten, dass ich einschreite. Ich tat es und realisierte im Nachhinein, dass es hätte schiefgehen können.
Warum war die Situation gefährlich?
Weil ich meine Ausrüstung nicht dabeihatte: keine Waffe, keine Handschellen, keinen Pfefferspray. Ich hatte in diesem Moment nicht viel mehr als meine Zivilcourage. Zum Glück konnten wir die Streithähne trennen.
Tragen Sie im Dienst immer eine Waffe?
Im Büro nicht. Aber wenn ich ausrücke, schon.
Was tun Sie, wenn ein Fall gelöst ist? Trinken Sie wie Max Ballauf und Freddy Schenk ein Bier in der Imbissbude?
Nein (lacht). Aber wenn ein grösserer Fall gelöst wird, kommt es schon vor, dass unser Chef oder sogar die Chefin Kriminalpolizei einen Apéro offeriert.
Wie oft lösen Sie einen Mord?
Tötungsdelikte haben eine hohe Klärungsquote. 2010 hatten wir vierzehn – und konnten in zwölf Fällen die Täterschaft ermitteln. 2011 konnten von drei Tötungsdelikten zwei aufgeklärt werden. 2012 klärten wir sogar alle sechs auf. Ich selbst habe bisher nur dieses eine ungeklärte Tötungsdelikt aus dem Jahr 2010. Daran arbeite ich aber noch.
Im Krimi sind die üblichen Verdächtigen meistens unschuldig. Ist das realistisch?
Nein, andersrum: Die naheliegenden Verdächtigen sind oft auch die Täter.
Die Kaffeeautomatenszenen in der Serie «Kottan ermittelt» sind Kult: Wie grässlich schmeckt eigentlich Ihr Kaffee?
Der Kaffee in unserem Personalrestaurant ist ganz okay. Manchmal hole ich mir auch einen Nespresso im Büro eines Kollegen.
Sie selbst besitzen keine Kaffeemaschine?
Nein, die hätte im Büro keinen Platz. Da ist alles voller Akten.
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