Leben
Christian Amsler im Interview: Lehrpersonen werden nicht drangsaliert
- Interview: Barbara Achermann; Illustration: Lisa Rock
Christian Amsler, als EDK-Präsident oberster Schulpolitiker der Schweiz, wehrt sich gegen den in annabelle 21/14 erhobenen Vorwurf von Lehrern, die Schule sei reformwütig geworden.
ANNABELLE: Sie haben früher als Lehrer gearbeitet. Wieso gaben Sie den Beruf auf?
CHRISTIAN AMSLER: Weil es mich immer auch interessiert hat, Verantwortung zu übernehmen, die über die Klassenführung hinausgeht.
Es gibt Lehrer, die sagen, die Schule sei ein Boot, das alle steuern wollen, aber niemand wolle rudern. Auch Sie ruderten früher und sind heute am Steuer.
Tatsächlich war ich früher Ruderer, aber auf dem Rhein. Es braucht beides, Leute an der Basis und im Kader. Die Schlüsselpersonen sind die Lehrerinnen und Lehrer. Aber Menschen bewegen sich eben auch weiter und übernehmen Verantwortung in einer Schulleitung oder einem Erziehungsdepartement, und das finde ich gut.
Schulverwaltungen wachsen, im Schulzimmer hingegen wird gespart: Klassen werden grösser, Lehrer müssen mehr Stunden geben. In St. Gallen werden kranke Lehrer sogar erst nach drei Tagen vertreten. Da läuft doch etwas falsch.
Das bezweifle ich. In Schaffhausen, wo ich dem Erziehungsdepartement vorstehe, stimmt das jedenfalls nicht. Aber man muss darauf achten, dass die Bildungsverwaltung nicht stärker anwächst. Das wäre keine gute Entwicklung.
Renommierte Erziehungswissenschafter haben ein Memorandum unterschrieben: «Stopp der Reformhektik im Bildungswesen! Zu viel Verwaltung geht auf Kosten der Bildung!» Es braucht viel, bis Professoren mit solch deutlichen Worten an die Öffentlichkeit treten. Was sagen Sie dazu?
Ich freue mich, wenn sich Leute engagiert für etwas einsetzen. Ich stelle aber fest, dass sich die Forschung häufig diametral widerspricht. Es gibt zahlreiche Professoren, die finden, die Schule sei gut unterwegs. Auch ich bin dieser Meinung. Im übrigen ist der Lehrplan 21 keine Reform, sondern eine konsequente Weiterschreibung der bestehenden Lehrpläne.
Früher war der Lehrplan eine Art Leitplanke für den Unterricht, heute umfasst er 470 Seiten und über 2000 Teilkompetenzen. Wenn meine Chefin mir meine Arbeit derart pingelig vorschreiben würde, ich nähme den Hut.
Ein Lehrplan ist kein Buch, das Sie jeden Tag hervornehmen und wo Sie dann abhaken, was Sie erledigt haben. Der Lehrplan ist vielmehr ein Kompass. Aber anders als früher wird nicht nur der Stoff beschrieben, den man durchzunehmen hat, die Schüler müssen ihr Wissen auch konkret anwenden können.
Einige Lehrer beklagen sich, dass ihnen die Behörden vorschreiben, was, wie, wann und wo zu tun ist.
Die Unterrichts- und Methodenfreiheit ist in der Schweiz absolut gewährleistet. Die Lehrpersonen werden weder drangsaliert noch in ein Korsett gezwängt. Fragen Sie mal in den Schulen, wie oft die Lehrer in einen solchen Lehrplan reinschauen. Das ist ganz selten.
Aber Herr Amsler, es kann doch nicht Sinn und Zweck eines Lehrplans sein, dass man ihn nicht beachtet.
Selbstverständlich muss man ihn beachten und ihn von Zeit zu Zeit hervornehmen.
Abgesehen vom neuen Lehrplan ärgern sich die Lehrerinnen und Lehrer mit denen ich gesprochen habe über die Evaluationsbögen, mit denen sie jedes Kind anhand von Kreuzchen beurteilen müssen. Macht da ein Bericht oder ein Gespräch nicht einfach mehr Sinn?
Man kann auf der Basis von solchen Bögen wunderbare Gespräche führen. Ich glaube aber wir müssen tatsächlich aufpassen, dass wir nicht alles mit Tests, Checks und Evaluationsbögen hinterlegen.
Kindergärtnerinnen in verschiedenen Kantonen müssen 72 Antworten zu jedem Kind ankreuzen, unter anderem: «Das Kind erledigt Aufgaben termingerecht und vollständig.» Eine Kindergärtnerin sagte mir, sie finde es falsch die Kinder auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zu trimmen.
Das ist eine einzelne Äusserung. Rund um die Diskussion über Beurteilung und Bewertung gibt es viele verschiedene Meinungen. Es stimmt, wirtschaftsnahe Kreise fordern von der Schule, dass man die Kinder genau einordnen kann, andere fordern die Abschaffung der Noten. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.
Sie finden solche Bewertungsbogen also gut und kindsgerecht?
Absolut. Ich finde es wichtig, dass man die verschiedenen Aspekte eines Kindes beleuchtet und nicht nur Noten gibt. Auftrittskompetenz, soziale Interaktion und so weiter. Wir haben in Schaffhausen ein förderorientiertes Beurteilungssystem entwickelt, das diverse Kantone übernommen haben.
Aber nochmal: Die Lehrerin muss beurteilen, ob ein vierjähriges Kind Aufgaben termingerecht und vollständig erledigt.
Das finde ich sehr gut.
In diesem Alter können sich einige Kinder noch nicht einmal alleine den Po abwischen.
(Lacht). Da gehen die Meinungen eben auseinander. Ich finde, dass man ein Kindergartenkind nach verschiedenen Aspekten beurteilen kann. Übrigens können sich auch Kindergartenkinder schon wunderbar selber einschätzen.
Was geschieht mit all den Blättern? Die werden vermutlich ausgefüllt, ausgewertet und später irgendwo abgespeichert?
Ja, und das hat auch seine Richtigkeit. Heute kann leider jede Bagatelle zu einem Rechtsfall werden und muss rekursfähig sein. Da müssen Sie als Lehrperson natürlich alles dokumentieren können. Diese administrativen Tätigkeiten sind deshalb sehr wichtig. Früher gab es das weniger, weil die Eltern den Lehrern mehr vertrauten.
Vertrauen ist ein gutes Stichwort. Manche Lehrer sagen, die Behörden würden ihnen misstrauen, deshalb die vielen Vorschriften. Ein Beispiel unter vielen: Als Lehrer darf man mit den Kindern nicht mehr in die Badi ohne Rettungsschwimmerbrevet.
Das Badi-Problem ist eben auch entstanden, weil man Rechtsfälle hatte. Es kam zu tragischen Vorfällen und daraus wurde dann eine neue Regel abgeleitet. Merkblätter, Reglemente und Gesetze nehmen eben zu, wenn die Eltern mit dem Rechtsanwalt zu uns kommen.
Aber es wäre doch genau die Aufgabe der Behörde, dafür zu sorgen, dass die Lehrer unbelastet mit den Kindern in die Berge, ans Wasser oder auf eine Velotour gehen können. Stattdessen verbieten sie auch noch das Schoggistängeli auf der Schulreise.
Wie gesagt, diese Regeldichte schaue ich als generelles gesellschaftliches Problem an. Sie nimmt tendenziell zu und das ist eine bedenkliche Entwicklung. Ich stimme ihnen zu, die Lehrpersonen brauchen Freiheiten, aber sie müssen sich auch an Regeln halten. Denn als Behörde haben wir auch eine Aufsichtspflicht.