Politik
Charlie (21) ist non-binär: «Ich mag es, wenn sich die Leute kein Bild von mir machen können»
- Text: Christina Caprez
- Bild: Judith Schönenberger
Im Buch «Queer Kids» von Christina Caprez erzählen 15 queere Kinder und junge Erwachsene aus ihrem Leben. Wir publizieren den Auszug von Charlie, 21 Jahre alt und non-binär.
Charlie meldet sich auf meinen Instagram-Aufruf von einem Account mit dem Titel «Regenbogentreff» – einem Angebot für Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 15 Jahren in Bern, das Charlie kürzlich mit zwei Freund:innen geschaffen hat. Später realisiere ich: Das ist der Treff, von dem mir Lia, die erste Porträtierte in meinem Buch, erzählt hat. Charlie identifiziert sich als non-binär und queer, nutzt das Pronomen «they» für sich und lebt in einer Polybeziehung. Zum Gespräch treffen wir uns der Einfachheit halber im Büro von Judith Schönenberger, die die Fotos zu diesem Buch gemacht hat und an einem Gymnasium in Bern Bildnerisches Gestalten unterrichtet.
Vor dem Schulhaus kreuze ich einen jungen Menschen im schwarzen Mantel, dessen Erscheinung meine Aufmerksamkeit auf sich zieht: weiche Gesichtszüge, Pferdeschwanz, Bartschatten und Blümchen-Ohrhänger. Ein Schüler mit extravagantem Styling? Eine queere Person? Minuten später realisiere ich, dass ich mit dieser Person verabredet bin: Es ist Charlie.
Ich bin mit politischem Aktivismus aufgewachsen. Meine Mutter nahm mich schon als Baby im Tragetuch mit auf Anti-AKW-Demos. Später begleitete ich sie zu Protesten gegen das Viererfeld, das ist eine Überbauung, die im Norden von Bern auf einer grossen Grünfläche entstehen soll.
Als Kind erfüllte ich das heimliche Idealbild, das meine Mutter von ihrer Tochter hatte: Ich war frech und laut und hatte ganz kurze Haare. Ich machte Kampfsport und spielte Fussball. Als ich mit zwölf merkte, dass ich nicht heterosexuell bin, war das keine Überraschung.
Meine Eltern hatten queere Friends, der Götti (Pate) meines Bruders ist schwul. Ich hatte deshalb nie das Bedürfnis, mich zu outen. In dieser Zeit entdeckte ich das Internet. Ich fand lesbische Youtuberinnen cool, und ich las viel zum Thema trans. Damals outete sich ein Teenager aus der Nachbarschaft, der mit meiner Schwester zur Schule ging, als trans. Das war zu Hause ein Thema. Für meine Mutter war es völlig unverständlich, dass jemand eine Operation machen will, und wieso nur die eine und nicht eine andere.
Ich verteidigte den Nachbarn und sagte: «Das ist doch seine Entscheidung!» Ich weiss noch, dass ich damals wahnsinnig sauer war. Es war für mich mega emotional. Ich realisierte noch nicht, dass das Thema auch mich betrifft. Aber ich merkte, dass meine Familie auf der Gender-Ebene kritischer ist, als wenn es um sexuelle Orientierung geht.
Im Gymnasium habe ich mich in eine Person aus meiner Klasse verliebt. Wir waren quasi in einer lesbischen Beziehung – so sah es zumindest von aussen aus. Wir haben uns aber nie so betitelt. Ich versuche sowieso, die ganzen Konstrukte von Beziehung und Romantik zu hinterfragen. Für mich sind die Übergänge zwischen romantischer Beziehung und Freundschaft fliessend. Wir waren kaum zwei Monate miteinander unterwegs, als sich mein Freund bei mir als trans outete. Da habe ich gemerkt: Oh shit, das ist ja eine Option!
«Ich habe gemerkt: trans sein ist ja eine Option!»
Zwei Wochen später habe ich ihm gesagt, dass ich auch trans bin. Ein halbes Jahr lang haben wir gemeinsam versucht herauszufinden, was das jetzt heisst, haben es aber noch für uns behalten. Zur gleichen Zeit haben wir mit anderen Friends aus der Klasse eine Gruppe wieder aufleben lassen, die am Gymnasium früher schon existiert hatte, eine FINT*-Gruppe: Frauen, Inter, Non-binär, Trans. Sie hatten Vorarbeit geleistet, auf die wir nun zurückgreifen konnten.
Wir wollten an der Schule viel verändern. Wir schlugen vor, die Geschlechtertrennung im Sport abzuschaffen, weil sie für viele trans Jugendliche eine grosse Herausforderung ist. Mit dem Sportunterricht sind auch manche cis Menschen nicht zufrieden – etwa Jungs, die sich in der Dynamik, die in einer reinen Jungengruppe entstehen kann, nicht wohlfühlen.
Ausserdem initiierten wir kleinere Projekte – ich nenne sie «Queer Joy»: Wir feierten eine kleine Pride und hängten überall Fahnen auf, und wir liessen einen Tag lang unsere queere Playlist in der Mensa laufen. Unsere Gruppe wurde auch kritisiert. Vor allem männliche Schüler fragten: Warum schliesst ihr Männer aus? Wir haben dann angefangen, offene Treffen zu veranstalten, bei denen alle mitdiskutieren und Ideen anbringen konnten.
Daneben organisierten wir weiterhin Treffen nur für FINT*-Personen, etwa einen Grill-Event als Safer Space. Ein paarmal kam eine cis schwule Person an die offenen Treffen. Aber in diesen ganzen Jahren tauchte nie ein hetero cis Mann auf. Das fand ich interessant. In meinem letzten Jahr am Gymnasium rief die Schulleitung eine Arbeitsgemeinschaft ins Leben, an der Lehrpersonen, Schüler:innen und Personal teilnehmen konnten. Wir wurden im Stundenlohn bezahlt, um ein Konzept zu erarbeiten, wo es an unserer Schule noch Nachholbedarf bezüglich Diversity gibt, wie sie es nannten.
Es war ein langsamer Prozess, aber dafür ein nachhaltiger. Konkret gibt es heute mehr genderneutrale WCs an der Schule. Ausserdem haben wir angeregt, eine Anlaufstelle zu schaffen, an die sich Kinder wenden können, die ihren Namen ändern wollen. Inzwischen braucht es dafür auch kein Einverständnis der Eltern mehr.
Beim Schulhausumbau denken sie mit, dass es mehr als zwei Garderoben-Optionen im Sport geben soll. Es gibt viele Ideen, wie man das handhaben kann. Ich war am Gymnasium, als ich zum ersten Mal an einer Milchreise teilnahm, am Wochenende der Milchjugend. Wir gingen irgendwo in ein Lagerhaus und hatten eine gute Zeit.
Die aktivistische Seite kannte ich ja schon vom Gymnasium. Aber ein ganzes Wochenende nur mit queeren Jugendlichen zu verbringen, die einander so wohlwollend begegnen, das war mega schön. Ich war erstaunt, wie wenig unsere Queerness da Thema war. Klar gab es thematische Workshops, etwa zur Geschichte der queeren Community. Aber beim Essen oder zwischendurch war das kaum ein Thema. Man fragt am Anfang vielleicht nach den Pronomen und dem Namen, aber damit hat es sich.
«Ich bekam noch mehr Lust, Aktivismus zu betreiben»
Genau das ist der Unterschied zur Welt draussen: sich für einmal nicht erklären zu müssen. Mir hat dieses Wochenende höllenviel gegeben. Und ich bekam noch mehr Lust, Aktivismus zu betreiben.
Charlies sanftes Lächeln und die weiche, leise Stimme wirken wie ein Kontrast zu den kämpferischen Worten. They stellt gesellschaftliche Normen nicht nur in Bezug auf Geschlecht infrage, sondern auch, was die Liebe angeht. Mit dem Freund aus der Zeit am Gymnasium ist Charlie bis heute zusammen, die beiden leben miteinander in einer Wohngemeinschaft und sind poly, also offen für weitere romantische Beziehungen. Zudem befindet sich Charlie auf dem Autismusspektrum und nimmt die Welt anders wahr als sogenannte neurotypische Menschen.
Die Diagnose Autismus bekam ich spät, mit etwa 17 Jahren. Ich kam in der Schule immer gut klar, aber ich hatte als Kind nicht so viele Friends. Ob ich gemobbt wurde? Ich glaube nicht. Ich habe wohl einfach nicht gecheckt, wenn andere Kinder versucht haben, mich auszugrenzen. Deshalb haben sie schnell wieder damit aufgehört. Die Diagnose war für mich sehr befreiend, im Sinne von: Ich bin nicht einfach seltsam, sondern meine andere Wahrnehmung hat eine konkrete neurologische Grundlage. Seitdem habe ich viel gelernt, mir Social Skills angeeignet. Und mein Freund übersetzt manchmal für mich. Wenn jemand einen Witz macht, flüstert er mir zu: Ironie!
Auf der letzten Milchreise haben wir einen Workshop zu Neurodivergenz und Queersein veranstaltet. Momentan wird dieser Zusammenhang erforscht. Für mich liegt er auf der Hand: Wer autistisch ist, versucht oft, alle Aspekte des Lebens logisch durchzudenken. Warum haben wir bestimmte Vorstellungen, etwa von Geschlecht oder von Liebe? Machen die überhaupt Sinn? Deswegen finde ich es verständlich, dass viele autistische Menschen genderqueer sind und umgekehrt.
Es ist schon sehr anstrengend, mich immer wieder erklären zu müssen. Ein Paradebeispiel: Ich fange jetzt neu mit dem Studium an der Pädagogischen Hochschule an, weil ich Lehrperson werden will. Vor Beginn der Ausbildung habe ich darum gebeten, dass für mich keine Pronomen und mein korrekter Name verwendet werden.
Bei der Anmeldung kann man zwar das Kreuz bei «divers» setzen und den gewünschten Namen eintragen. Das wird aber nicht im System aufgenommen, sondern es wird automatisch der Name übernommen, der auf der ID steht, weil die Rechtsabteilung es so vorgibt. Ich habe dann unzählige Mails geschrieben. Die Antwort: Einen anderen Vornamen zu verwenden als auf der ID, das geht einfach nicht. Schliesslich schickte ich einer Dozierenden, die mir wohlgesonnen ist, einen Mailentwurf, den sie auf einem internen Kanal veröffentlichte.
«Mich immer wieder zu erklären, kostet viel Energie»
Die Mitteilung ging so aber nicht nur an meine Dozierenden, sondern an alle. Das heisst, alle Dozierenden auf dieser Stufe wissen jetzt über irgendeine random Person – also mich – Bescheid, dass ich gerne einen anderen Namen möchte und dass ich genderqueer bin.
Es reichte zudem nicht, zu schreiben: Verwendet genderneutrale Pronomen und diesen Namen für mich. Ich konnte ja nicht davon ausgehen, dass alle sich mit genderneutralen Formulierungen auskennen. Also erklärte ich im Mail: Genderneutrale Pronomen funktionieren folgendermassen, Beispielsatz, nur mit dem Namen ansprechen funktioniert folgendermassen, Beispielsatz. Genderneutral siezen funktioniert folgendermassen, Beispielsatz. Und dieses lange Mail muss professionell und höflich daherkommen. Wie viel Energie es kostet, mich immer wieder zu erklären, wird von Leuten ausserhalb zum Teil total unterschätzt.
Während ich zuhöre, merke ich, wie mich Charlies Erscheinungsbild irritiert, aber auch fasziniert. They wirkt auf mich wie ein Vexierbild: Achte ich mehr auf die weichen Gesichtszüge, das sanfte Lächeln und die hellblau-rosa Makramee-Ohrringe in Eidechsenform, sehe ich eine weibliche Person.
Fokussiere ich auf die Barthaare und die dunkle, warme Stimme, sehe ich einen männlichen Jugendlichen. Selten bin ich einem Menschen mit so genderqueerem Aussehen begegnet. Unweigerlich wird mir bewusst, wie ich Menschen automatisch in männlich und weiblich einteile – und wie verunsichernd, aber auch spannend es sein kann, wenn das nicht möglich ist.
Ursprünglich habe ich mich als trans Mann geoutet, vor vier Jahren ungefähr. Ich habe auch ein Stück weit eine medizinische Transition gemacht, und ich habe meinen Namen geändert. Ich hatte einen genderneutralen Geburtsnamen. Als ich auf die Welt kam, musste man einen Zweitnamen haben, der das Geschlecht eindeutig markiert, das war bei mir also ein Mädchenname. Als ich meinen Geschlechtseintrag im Pass auf männlich gewechselt habe, habe ich den Zweitnamen geändert.
«Ich bin ein bisschen genderqueerer, als ich mir zuerst eingestehen wollte»
Im Verlauf der letzten zwei Jahre habe ich gemerkt, dass ich ein bisschen genderqueerer bin, als ich es mir zuerst eingestehen wollte. Ich wollte mir dann einen eigenen geschlechtsneutralen Namen aussuchen – ein weiterer Selbstbestimmungsakt. So bin ich auf Charlie gekommen. Diesen Namen brauche ich bisher aber nur unter Freund:innen und in der WG. In meinem Pass steht also ein Männername und der männliche Geschlechtseintrag. So kann ich total anonym als – in Anführungszeichen – cis Mann durch die Welt spazieren.
Wenn ich aber so auftrete, wie ich gerade hier bin: pinker Pulli, lange Haare, Haarspangen, dann wirft das Fragen auf. Nach meinem Coming-out als trans Mann hatte ich zuerst eine sehr maskuline Phase. In der queeren Community sah ich dann, wie unterschiedlich man sein Gender leben kann. Ich bekam Lust, einen Rock zu tragen, und habe meine Haare wachsen lassen.
Die Hormonbehandlung hatte einen grossen Einfluss. Mich in meinem Körper wohlzufühlen, gab mir eine grosse Freiheit zurück. Als ich noch ein weibliches Erscheinungsbild hatte, hätte ich mich nicht so pink leuchtend angezogen. Es ist eben etwas völlig anderes, wenn man sich als weiblich gelesene Person sehr feminin kleidet, als wenn man das als männlich gelesene Person tut.
Zweiteres finde ich wahnsinnig befreiend. Es macht sehr viel Spass. Es war wie ein Hineinwachsen. Ausserdem mag ich es, wenn die Leute sich kein Bild von mir machen können. Wir tun das alle: Wenn wir einen neuen Menschen kennenlernen, dauert es drei Sekunden, und wir haben eine vorgefertigte Idee, wer diese Person ist. Mir macht es Spass, diesem vorgefertigten Bild entgegenzuwirken. Wenn man mich zum Beispiel in der Berufskleidung kennenlernt, wo ich tendenziell maskuline Kleidung trage, und mich dann auf der Strasse sieht, in einem völlig anderen Modus.
Natürlich mag ich mir das nicht jeden Tag geben. Manchmal ist es einfacher, mir einen schwarzen Mantel überzuziehen und die Haare relativ neutral zu binden. Es gibt ja auch Typen mit langen Haaren, daran sind sich die Leute gewöhnt. Ich habe auch schon negative Reaktionen bekommen. Wenn ich am Abend im Rock durch den Bahnhof gehe, werde ich sehr schräg angeschaut. Es kommen auch Kommentare. Aber ich glaube, ich verwirre auf einem so hohen Level, dass die Leute gar nicht wissen, was sie mir hinterherschreien sollen.
Natürlich gibt es auch Queerfeindlichkeit, die nicht auf der Strasse stattfindet. Einmal wollte ich mich an einer Schule bewerben, an der mich viele Menschen schon lange kennen. Als der Arbeitgeber erfuhr, dass ich trans bin, hat er offenbar gesagt: Zum Glück haben wir den nicht angestellt, das wäre ja nicht gegangen mit den Kindern! Das ist die Realitätsklatsche, die mir zeigt, dass ich in einer ziemlichen Queer-Bubble lebe.
Als ich mich bei der Pädagogischen Hochschule angemeldet habe, überlegte ich mir darum gut, welchen Namen und welche Pronomen ich brauchen möchte. Ich habe mich für Charlie und keine Pronomen entschieden, weil ich finde, es hat einen enormen Mehrwert, wenn ich später als genderqueere Lehrperson unterrichte. Wenn ich das offen und mit einer Selbstverständlichkeit lebe, dann bewirke ich viel, einfach so nebenbei, weil die Kinder schon früh einer genderqueeren Person begegnen.
Mir kommt die Bemerkung einer Freundin in den Sinn, die sich beruflich mit Gleichstellung auseinandersetzt: Bei allen Errungenschaften, vom Frauenstimmrecht bis zum Mutterschaftsurlaub, seien die Gleichstellungsversprechen aus den 80er-Jahren lange nicht eingelöst.
In Kleider- und Spielzeugläden gebe es getrennte Abteilungen für Mädchen und Jungen, auch die sozialen Medien befestigten Geschlechterstereotype. Die Queer-Bewegung sei die Art der heutigen Jugend, gegen die Geschlechterordnung zu rebellieren. Eine Kritik an vorhergehenden Generationen und – wie jede Jugendbewegung – auch eine Provokation.
«Vermutlich ist für meine Mutter ihr freches, lautes Mädchen quasi zum Feind übergelaufen»
Meine Mutter ist quasi eine Altfeministin. Für sie ist es so: Frau sein ist etwas, auf das man stolz sein muss. Frauen müssen sich von den Männern abgrenzen. Das war für sie damals eine Überlebensstrategie, das kann ich nachvollziehen. Ich bin mega froh um die Arbeit, die sie und ihre Generation geleistet haben.
Deren Haltung steht aber ein Stück weit im Widerspruch zum genderqueeren Aktivismus. Wir brechen ihre Vorstellung wieder auf und sagen: Hey, vielleicht muss man sich gar nicht so fest als Frau betiteln. Es ist ein fliessender Übergang! Ich verstehe, dass das sehr emotional ist.
Vermutlich ist für meine Mutter ihr freches, lautes Mädchen, das sie total cool fand, quasi zum Feind übergelaufen. Dass ich meinen Körper medizinisch verändern wollte, fand sie anfangs schlimm. Dadurch entstand bei mir das Gefühl: Scheisse, da bekomme ich mega Gegenwind. Einmal machte sie mir Angst, weil sie sagte: Die Hormone können deine Knochendichte verändern, das ist gefährlich.
Aber meine Ärztin sagte, das wäre nur ein Problem, wenn ich meine Eierstöcke rausnehmen würde. Meine Mutter war einfach fehlinformiert. Ich sprach dann eine Weile lang nicht mehr mit ihr über dieses Thema. Ich hatte das Gefühl: Wir diskutieren über meine Lebensgrundlage, über meine Existenz.
Mein Vater hatte die chilligste Reaktion, die ich jemals bei einem Elternteil mitbekommen habe. Als ich ihm sagte: «Ich bin trans», antwortete er, sein Puls sei immer noch wahnsinnig niedrig. Es sei alles in Ordnung. Das ist die optimale Reaktion, finde ich, viel mehr braucht es nicht. Auch mein Bruder hat ganz gemütlich reagiert, er sagte: «Cool, dann habe ich noch einen Bruder, nicht nur eine Schwester.»
Meine Mutter war so lange gegen eine Hormontherapie, bis ich die Strategie änderte und ihr sagte: «Schau, du kannst es nicht mehr beeinflussen. Ich habe meine Entscheidung getroffen, Punkt. Du kannst mitziehen oder nicht.» Inzwischen ist es auch für sie sehr okay.
Sie sieht natürlich, in welchem Umfeld ich unterwegs bin, dass meine Friends genauso bunte Vögel sind wie ich. Heute habe ich allgemein einen viel lockereren Umgang mit meiner Identität. Sie ist sehr viel fluider, als ich das Gefühl hatte.
Ich sehe inzwischen auch meine Mutter mit ihrer Geschichte klarer. Auch sie hat sich stark von ihren Eltern abgegrenzt. Ihrem Vater war es wichtig, dass seine Tochter sich im Haushalten auskennt und eine anständige Mutter wird. Sie aber fand: «Sicher nicht, ich studiere Kunst!»
Wir haben gewisse Ähnlichkeiten. Wir testen beide die Grenzen aus und schwimmen gegen den Strom. Aber für ihre Generation ist es teilweise schwierig, das Bedürfnis nach einer medizinischen Transition zu verstehen. Sie finden, das brauche es nicht. Sie können diese Ebene, das Ausmass des körperlichen Schmerzes, nicht nachvollziehen.
Sie finden, man kann die Identität Frau ja verschieden leben, man kann doch einfach eine maskuline Frau sein. Sie sehen dort schon eine Fluidität, das auf jeden Fall. Der Knackpunkt: Es gibt einen Unterschied zwischen einer maskulinen Frau und einem trans Mann. Und das können cis Personen schlicht nicht nachvollziehen. Dass man nicht in sich selber stattfinden kann.
Man kann sich selber nicht entkommen und einfach entscheiden, eine maskuline Frau zu sein. Das Gefühl, trans zu sein, geht sehr viel tiefer und ist keine Entscheidung. Es ist ein Zustand.
«Ich bin sehr dankbar für alle Aktivist:innen, die vor mir waren»
Ich finde aber auch, dass wir, als junge aktivistische Generation, sehr darauf achten müssen, die Werke unserer Vorgängerinnen nicht als minderwertig anzuschauen. Im Rahmen des Wissens und der politischen Gegebenheiten von vor vierzig Jahren ist wahnsinnig viel passiert.
Ich bin sehr dankbar für alle Aktivist:innen vor mir. Auch wenn sie ihr Ziel – die Gleichstellung von Mann und Frau – nicht ganz erreicht haben. Meiner Generation geht es nicht mehr um die Gleichstellung von Mann und Frau, sondern um die Gleichstellung von Menschen. Das ist eine andere Herangehensweise.
Man kann sagen: Komm, wir versuchen, zuerst die Gleichstellung von Mann und Frau zu erreichen. Quasi als Zwischenschritt. Oder man kann gleich den ganzen Weg gehen und die Gleichstellung überall fordern, und zwar bei Race, Gender, bei allem. Wir wollen alles dekonstruieren. Ich finde auch, es muss sich nicht unbedingt gegenseitig ausschliessen. Schlussendlich haben wir alle das gleiche Ziel. Es ist einfach eine andere Vorstellung davon, wie man dorthin kommt.
Ein Schritt in diese Richtung ist für mich die Arbeit mit Kindern. Mit meinen Friends hatten wir schon im Gymnasium die Idee, einen Raum zu schaffen für Kinder, die nicht den Geschlechternormen entsprechen.
Vor kurzem haben wir die Gelegenheit dazu erhalten: Wir dürfen die Räumlichkeiten des Jugendtreffs N6 im Länggassquartier nutzen. Kinder haben ja oft noch kein Label, sie wissen, ich bin irgendwie anders, aber sie wissen nicht, warum. Darum formulieren wir es möglichst offen: Unser Angebot richtet sich an Kinder zwischen 7 und 15 Jahren, die LGBTQIA+ sind, kein Label benutzen, an Kinder aus Regenbogenfamilien und an ihre Freund:innen. Schon zum ersten Treffen kamen über 15 Kinder und Jugendliche, teilweise aus dem Umland, sogar aus Thun.
Viele wurden von den Eltern gebracht. Für die Eltern haben wir in einem separaten Raum Kaffee angeboten und die Möglichkeit, sich auszutauschen. Mit den Kindern haben wir gespielt und gemalt. Wenn sich eine stabile Gruppe entwickelt, machen wir vielleicht auch mal ein Spiel, bei dem man sich gegenseitig Fragen zum Thema Anderssein stellen kann.
Am Schluss des Treffens wollten die Kinder sofort wissen: «Wann findet das nächste statt?» Wir haben eine Box aufgestellt, in die sie ihre Vorschläge einwerfen konnten – von Schnitzeljagd über Basteln bis hin zu einem Filmabend mit Plüschtieren. Es ist eine grosse Verantwortung, aber ein Nachmittag dort gibt mir so viel: Achtjährige Kids zu sehen, die stolz darauf sein können, wer sie sind. Das ist super!
Das Buch «Queer Kids: 15 Porträts» von Christina Caprez ist im Limmat Verlag erschienen und kostet 29 Franken. Noch mehr zum Thema gibts auf queerkids.ch.
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