Leben
Cannabis: Eine Milliardenindustrie in Frauenhand
- Text: Michèle Roten; Fotos: Riverboom/INSTITUTE
Das Business mit Cannabis blüht in den USA. Die neuen Chefinnen sind smart, chic und polieren beschwingt am schmuddligen Image. Ein Augenschein in Kalifornien.
Freies Assoziieren zu Marihuana: fettige Haare, Chipsbrösmeli in den Ritzen der Playstation-Konsole. Rote Augen, leerer Blick, hässliche Aschenbecher, Brandlöcher im Sofa. Es ist eine durchweg männliche Bilderwelt, die da entsteht.
Aber dieses ranzige Image gehört der Vergangenheit an. In den USA entsteht derzeit eine ganz neue Industrie um Cannabis. Diese Industrie ist clean, chic und hochprofessionell. Und: Sie wird massgeblich von Frauen geprägt. Schon bald, orakeln Wirtschaftsexperten, könnte das Canna-Biz die erste frauendominierte Multi-Milliarden-Industrie der USA sein. Rund 36 Prozent der Führungspositionen im legalen Cannabis-Geschäft sind von Frauen besetzt – ein Spitzenwert, verglichen mit den sonst üblichen 4.3 Prozent in grossen US-Unternehmen. Und das Business floriert. Im vergangenen Jahr wurden 6.9 Milliarden Dollar umgesetzt. Und bis 2021 soll der neue Wirtschaftszweig auf 21.6 Milliarden Dollar weiter gedeihen. Damit, meinen etwa Analysten des renommierten Research-Unternehmens Arcview, sei Cannabis «die vielleicht am schnellsten wachsende Industrie der Welt».
Doch der Cannabis-Markt blüht eben nicht nur, mit den Frauen kam auch ein massiver Image- und Konsumwandel: Von Eskapismus zu Wellness. Von Bongs, die nach sozialem Abstieg zum Inhalieren aussehen, hin zu instagramwürdigen Haschpfeifen mit 22-Karat-Gold-Verzierung. Von Werner’s-Head-Shop-Ästhetik zu Luxusboutiquen. Von Bob-Marley-Mützen in die «high»-Fashion-Frühlingskollektion von Alexander Wang. Von «Pass that Dutch» zu «Ein Stückchen Schokolade mit 80 Prozent Kakaogehalt und 10 Milligramm THC von der Sorte Sativa?».
Frauen wie Sängerin Rihanna, Schauspielerin Chelsea Handler oder Komikerin Sarah Silverman stehen öffentlich zu ihren Cannabis-Gewohnheiten, und wie immer sind die Celebritys nur die Spitze des Eisbergs. Jetzt kommen die High Functioning Lady Stoners: Karrierefrauen, die abends einen Joint rauchen, um herunterzukommen. Kunststudentinnen, die bei Joint und Bio-Eistee angeregte Kreativmeetings abhalten. Und Vollblutmütter, die sich mit einem THC-haltigen Kaubonbon auf den Kindergeburtstag vorbereiten. «Ein gutes Gras ist wie ein guter Wein, ein guter Champagner, eine gute Zigarre», sagt Cheryl Shuman, Markenspezialistin und Gründerin des Beverly Hills Cannabis Club. Ihr Highend-Gras verkauft die gutbetuchte Kalifornierin für 25 Dollar das Gramm. Übers Kiffen zu reden, meint Shuman, sei salonfähig geworden – selbst in den besten Kreisen Hollywoods. «Es ist, wenn Sie so wollen, als wäre man Teil einer eingeschworenen Gemeinschaft.»
Um dieses urplötzliche «Yes, We Cann!» in den USA zu verstehen, zunächst ein wenig Pflanzenkunde: Cannabis ist nicht gleich Cannabis. Es gibt von der Pflanze zwei Spezies, die sich in ihrer Wirkung fundamental unterscheiden: Cannabis sativa (eher anregend) und Cannabis indica (eher beruhigend) – und es gibt unzählige Kreuzungen von beiden. Jede dieser gezüchteten Sorten enthält diverse Wirkstoffe, darunter über hundert verschiedene Cannabinoide; vom bekannten Tetrahydrocannabinol (THC) über Cannabidiol (CBD) bis zum Cannabigerol (CBG). Berauschend wirkt nur das THC, dieses dafür je nach Konzentration und Kombination mit anderen Cannabinoiden sehr unterschiedlich – vor allem sehr unterschiedlich stark psychoaktiv. In der Schweiz beispielsweise, wo der Anbau von Cannabis mit über 1 Prozent THC-Gehalt nach wie vor illegal ist und das Gras gänzlich unkontrolliert auf dem Schwarzmarkt landet, ist deshalb im Grunde jeder Joint eine Wundertüte. So kann es vorkommen, dass sich die Konsumentin – wenn man es mal mit dem Alkohol vergleichen möchte – vermeintlich ein Glas Prosecco gönnt, nach zehn Minuten jedoch feststellt, dass sie sich soeben einen ultra-psychoaktiven Schnaps eingeflösst hat.
Die Damen vom Beverly Hills Cannabis Club können und wollen sich das nicht leisten. Sie – und mit ihnen offenbar auch Tausende anderer Cannabis-Fans – wollen, was bei legalen Rauschmitteln von der Schmerztablette bis zum Whiskey selbstverständlich ist: ein streng kontrolliertes und transparent deklariertes Produkt mit kalkulierbarer Wirkung. Wenn dieses Functional Herb dann auch noch so exquisit daherkommt wie ein Sprüngli-Praliné, umso besser.
Just diesem Bedürfnis haben findige Unternehmerinnen in jenen US-Bundesstaaten, in denen der medizinische und teils auch der nicht-medizinische Cannabis-Konsum in den letzten Jahren legalisiert worden ist, Rechnung getragen – und verdienen damit Millionen. Zu verdanken haben sie diese Entwicklung zum Beispiel Frauen wie Tracy Ryan. Beziehungsweise ihrer Tochter. Beziehungsweise der Tatsache, dass Cannabis eben nicht nur high-, sondern auch heilbringend ist.
Sophie war acht Monate alt, als Tracy ein Zittern in ihrem Auge bemerkte. Sie brachte sie zum Kinderarzt, dann zum Augenarzt, dann ins Spital für ein MRI. Die Diagnose: Optikusgliom. Ein seltener Krebs, eine langsam wachsende Wucherung. Eine Operation ist nicht möglich, weil sich der Tumor wie ein Netz um die Sehnerven gelegt hat. Die gängige Behandlung ist Chemotherapie, die das Wachstum des Tumors allerdings nur verlangsamen soll. «Wir waren am Boden zerstört. Erschüttert und lahmgelegt», sagt Tracy Ryan.
Sie ist eine grosse Frau, amerikanisch glänzendes Haar, amerikanisch lautes Lachen, energiegeladen, bestimmt, und das Wort lahmgelegt ist schwer in Einklang zu bringen mit ihrer Präsenz. Sie sitzt in ihrem Büro am Sunset Boulevard in Los Angeles. Wenn man aus dem Fenster schaut, sieht man noch etwas von der Auffahrt zum «Château Marmont», dem Hotel, wo Hollywoodstars auf allen Arten von Drogen abstürzen und sich wenn nötig auch monatelang verstecken. Nebenan im Büro arbeitet ihre Schwester, und im Gang hat Tracy Ryans Mann seinen Schreibtisch. Sie alle, plus acht andere Angestellte, arbeiten jetzt für Tracys Firma Cannakids.
«Wir begannen zu recherchieren. Wir bewegten uns buchstäblich eine Woche lang nicht vom Sofa weg. Wir lasen alles, was wir kriegen konnten. Und ich richtete eine Facebook-Seite ein mit dem Titel ‹Prayers for Sophie›, und darüber wurden wir irgendwann mit Ricki Lake und Abby Epstein zusammengeführt.»
Ricki Lake ist eine Berühmtheit in den USA, sie hatte eine Talkshow und inzwischen schon mehrere Dokumentarfilme gemacht, einer davon ist «The Business of Being Born». Jedenfalls erfuhr Tracy Ryan so, dass die beiden gerade an einem Film über Cannabis-Öl zur Behandlung von Kindern mit Krebs arbeiteten. «Wir lasen uns also ein, und mit exakt neun Monaten nahm Sophie ihre erste Dosis Cannabis-Öl und wurde dabei gefilmt. Über die ganze Zeit haben Ricki und Abby uns begleitet.» Der Film heisst «Weed the People» und soll noch in diesem Frühjahr erscheinen. Zunächst zeigte die Behandlung keine Wirkung. Und als der Arzt eines Tages am Telefon zu Tracy Ryan sagte, dass es keine Rettung für Sophies linkes Auge gebe und nur schlechte Aussichten für das rechte, blieb ihr nur noch eine Option, um die Hoffnung nicht aufzugeben: Sie und ihr Mann beschlossen, den Ärzten nicht zu glauben. Und machten weiter mit dem Cannabis-Öl und der Chemotherapie. «Zuerst ging es Sophie immer schlechter, etwa vier Wochen lang», sagt Tracy Ryan. «Und plötzlich begann es ihr besser zu gehen. Und besser. Und der Tumor wurde kleiner. Und kleiner.»
Über Facebook entstand so eine geheime Gruppe von über 2000 Familien mit kranken Kindern, die ihre Erfahrungen mit Cannabis-Öl austauschten. Und es wurde schnell klar, dass das Bedürfnis nach qualitativ hochwertigem, geprüftem Öl besteht und nach Pflegepersonal, das sich damit auskennt. Tracy Ryan trieb einen Investor auf, eröffnete ein 300 Quadratmeter grosses Treibhaus und produzierte ihre erste eigene «Medizin». Leider wurde sie von ihrem Züchter ausgeraubt, er verschwand mit 17 Kilo Blüten und 21 Wärmelampen. Seither haben sie die Produktion ausgelagert – und arbeiten jetzt nur noch mit Frauen zusammen.
Über 500 Patienten hat Cannakids in den letzten eineinhalb Jahren behandelt. «Wir begleiten sie von der ersten Dosis an sehr eng, wir wissen, wie viele Gramm von welcher Sorte, zu welcher Zeit, mit welcher Diät, wir haben jedes Untersuchungsergebnis der Ärzte.» All das wird weitergeleitet an ein Institut in Israel, das die Daten wissenschaftlich erforscht und aufbereitet.
Studien zu den gesundheitlichen Effekten von Cannabis werden in den USA sehr selten bewilligt – obwohl in 28 Bundesstaaten für medizinische Zwecke und in 8 Staaten bereits gänzlich legalisiert, gehört die Substanz unter US-Bundesgesetz immer noch zu Drogen der Klasse I. In Israel sind die Gesetze liberaler. Cannabis gehört dort zwar auch zu den illegalen Drogen, als Arzneimittel wird die Pflanze aber seit über zwanzig Jahren erfolgreich eingesetzt und ihre medizinische Wirkung wissenschaftlich erforscht – es gibt in Tel Aviv sogar ein Altersheim, wo die wohl glücklichsten Senioren der Welt medizinisches Cannabis verabreicht bekommen – mit klinisch verifiziertem Erfolg: gegen Artritisbeschwerden, Entzündungen, Parkinson, multiple Sklerose, sogar zur Bewältigung von posttraumatischen Störungen bei Holocaust-Überlebenden.
Sophie, die Tochter von Tracy Ryan, wurde während der Chemotherapie mit einer Dosis von 400 mg im Verhältnis 2:1 behandelt. Das bedeutet zirka 250 mg THC auf 150 mg CBD, was für einen ungeübten Cannabis-Konsumenten einem brutalen High gleichkommt. Wie hat man sich ein Baby auf dieser Menge THC vorzustellen? «Es passiert tatsächlich nicht viel. Der Stoffwechsel von Kindern ist viel schneller, und ihr Gehirn ist noch nicht so verdrahtet wie bei Erwachsenen. Sophie war nur sehr glücklich und machte ein langes Mittagsschläfchen. That’s it.» Die Nebenwirkungen seien ansonsten nur positiv. Heute ist Sophie in einer klinischen Studie mit einem MAP-Kinase-Inhibitor, einem Medikament, das die Zellteilung im Tumor verhindern soll. Ihr Tumor ist sehr aggressiv; sobald man die Behandlung stoppt, wächst er wieder. «Ihr ist oft sehr schlecht von der Therapie, und man kann die Uhr danach stellen, wann das THC zu wirken beginnt: Dann will sie essen. Und so haben wir es geschafft, ihr Gewicht zu halten, was unglaublich wichtig ist.»
Tracy Ryan selber isst ein Stückchen Schokolade mit 10 bis 12 mg THC am Abend gegen ihre Schmerzen von der Arthrose und damit sie besser schlafen kann. Das war schon immer ihr Problem, Schlaflosigkeit, aber immerhin wälzt sie sich jetzt nicht auch noch wegen Ärger im Job. «Es ist wirklich eine Frauendomäne. Es ist grossartig. Ich habe bisher nur in sehr männerdominierten Bereichen gearbeitet: Film, Werbung, Medien. Ich habe nichts gegen Männer. Aber es ist sehr viel angenehmer, mit Frauen zu arbeiten. Ich fühle mich beschützt und geborgen, wir stehen füreinander ein. So habe ich das vorher nie gefühlt, da habe ich ständig damit rechnen müssen, dass mir jemand in den Rücken fällt.» Wie sagte einst Madeleine Albright, die erste Aussenministerin der USA? «In der Hölle gibt es einen speziellen Platz für Frauen, die anderen Frauen nicht helfen.» Sie dürfte ihre Freude am Canna-Biz haben.
Ein weiterer Faktor für den auffällig hohen Anteil von Frauen im Business dürfte auch sein, dass es ein junger Wirtschaftszweig ist. Es passiert nicht oft, dass Industrien dieser Grössenordnung geboren werden, und Frauen springen auf, weil die männlichen Seilschaften noch nicht so verknäult, die gläsernen Decken noch nicht so dick sind – hier gibt es plötzlich die Möglichkeit, eine Industrie von Grund auf mitaufzubauen. Mit alten Traditionen zu brechen und neue Regeln aufzustellen.
Bonni Goldsteins Praxis liegt in einem grossen, modernen Glas-und-Stahl-Gebäude in Lawndale, etwas ausserhalb von L. A. Eine Familie sitzt im Wartezimmer. Der kleine Bub ist ständig in Bewegung, er untersucht den Mechanismus der Scharniere in der Tür, schaut, was unter den Sesseln ist, erkundet, wie es hinter dem Wartezimmer weitergeht. Die Mutter kommentiert alles, was er tut («Oh, what’s down there, babylove?»), er spricht nur ein einziges Mal: «Beat it», sagt er, nach etwa zehn Minuten im Wartezimmer. Die Mutter fragt mich, ob es störe, wenn sie Michael Jackson laufen lasse auf dem Handy, es sei sein Lieblingslied. Tut es natürlich nicht, und der Bub beginnt zu tanzen und auf den Sesseln herumzuhopsen.
Ich habe mir schon ein paar Diagnosen überlegt (ADHS?) aber keine hätte mich mehr überrascht als diese: Der Bub, erklärt mir seine Mutter, hat eine mitochondriale Erkrankung. Durch einen Defekt funktioniert die Energieversorgung in den Zellen nicht optimal – Schwäche und Müdigkeit sind Leitsymptome. Beim Achtjährigen war das so stark, dass er die ersten Jahre seines Lebens kaum ansprechbar war, Autismus war der Verdacht. Zusätzlich dazu wurde er aber immer dünner und körperlich schwächer. Seit der Diagnose vor fünf Jahren wurde ihm ein Zugang in den Magen gelegt, um ihm die rund 5000 Kalorien zuzuführen, die er täglich braucht, und verschiedene andere Medikamente wurden verschrieben – aber eine richtige Verbesserung, sagt die Mutter, gibt es erst, seit er täglich CBD-Öl nimmt. «Das war vor drei Jahren, und fast sofort wurde alles besser. Plötzlich war er da, ich kann es nicht anders beschreiben. Wie eingeschaltet. Er hatte plötzlich Energie» – immer noch, der Bub ist keine Sekunde nicht in Bewegung –, «und seine geistige Entwicklung war seither rasant.» Der Junge schreibt gerade «hallo» in sechs verschiedenen Sprachen. Und «laundry», sein Lieblingswort.
Bonni Goldstein ist eine kleine, lockige Frau von nichtschätzbarem Alter. Sie arbeitete 25 Jahre als Kinderärztin in der Notaufnahme. Als ihr Sohn auf die Welt kam, nahm sie eine halbjährige Auszeit. Eine ihrer Freundinen wurde krank und fragte sie, ob sie schon von medizinischem Cannabis gehört habe. Hatte sie nicht. Sie begann zu recherchieren und war bald mehr als fasziniert. Seit 2008 behandelt sie Patienten mit Cannabis, mit überzeugenden Ergebnissen. «Ich bin Naturwissenschafterin, keine Schamanin. Mich interessieren wiederholbare Resultate. Und die kriege ich in meiner Praxis zuhauf.» Als ihr Vater sich vor ein paar Jahren die Schulter brach, verschrieb sie ihm CBD-Öl – er rührte keine einzige der Schmerztabletten an. Goldstein macht einen grossen Unterschied zwischen Life-saving-Pharma und Quality-of-Life-Pharma. Für sie gehört Cannabis zur zweiten Kategorie, obwohl es sich durchaus auch in der ersten behauptet habe.
Die nächste Patientin ist eine Frau in der Menopause, die massive Schlafprobleme hat. Von den Schlafmitteln, die ihr der Hausarzt verschrieben hatte, erholte sie sich am nächsten Tag fast nicht mehr, hatte einen Hangover. Seitdem sie abends ein Stückchen Cannabis-Schokolade isst oder ein, zwei Züge vom Vaporizer nimmt, ist alles tipptopp. Auch die anderen Wechseljahrbeschwerden haben sich gemildert. Sie ist happy, Bonni Goldstein auch, Rezept erneuert, bye-bye.
Danach kommt eine Frau Mitte vierzig, sie ist quirlig und von der Sorte Mensch, dem das Leben immer wieder eins draufgibt, aber Resignation ist keine Option. Sie ist alleinerziehend, hat drei Jobs und nimmt seit Jahren Antidepressiva. Cannabis fing sie vor sieben Jahren an, und seither fühlt sie sich so gut, dass sie versucht hat, das Zoloft abzusetzen, da wurde sie aber bipolar. Cannabis sei ihre Rettung, sagt sie. Bei Schmerzen nehme sie die Sorte X, wenn sie einen Putzflash wolle, die Sorte Y. Vor allen Dingen aber «macht mich das Cannabis zu einer besseren, geduldigeren Mutter».
Die Bestrebungen, Marihuana für medizinische Zwecke zu legalisieren, hat dazu geführt, dass es auch für den nichtmedizinischen Gebrauch leicht zu bekommen ist – und damit wenden wir uns der «männlichen» Seite der Pflanze zu: Sobald es um recreational Marihuana geht, also um den nicht medizinisch indizierten Freizeitkonsum, hat man es nämlich gegenwärtig fast ausschliesslich mit Männern und einer männlich geprägten Szene zu tun. Los Angeles ist voll von Dispensarys, Apotheken für Cannabis-Produkte. Ihre Schilder sind gross, oft mit Hanfblatt und fast immer grün. Kifferstyle-Ästhetik.
Das Internet sagt zu gleichen Teilen, es sei unmöglich, als Nichtkalifornierin zu einem Arztrezept für Marihuana zu kommen, wie auch, es sei durchaus möglich. Ausprobieren macht schlauer. Auf Weedmaps.com, einer Online-Karte für alle Bedürfnisse in Sachen Cannabis, suche ich den nächstgelegenen Arzt. Die Praxis liegt in einem Haus, in dem auch noch Massagen, Psychic Readings und Steuerberatung angeboten werden, das Wartezimmer, ein Raum voller Plastikstühle, ist leer. Ein junger Mann, der viel zu klischiert stoned aussieht, wartet hinter dem Schalter mit Glasscheibe. Unmöglich, sagt er. Und wenn möglich, dann unmöglich, nachher in einem Dispensary etwas zu bekommen. Tja, schade. Aber wenn es wirklich unbedingt sein müsste? Dann am ehesten in Venice Beach, sagt er.
Ah, Venice Beach. Biotop der Freaks, Selbstdarsteller und Schaulustigen mit Sinn für Strandromantik. Schon nach ein paar Schritten stehen einem junge Männer in Grasgrün im Weg und bieten das Rezept für 40 Dollar an. Auch für Non-Residents? Klar, kein Problem. Vorbei an einer Bong-Verkaufstheke, die, wie jede Bong-Verkaufstheke, aussieht wie eine Glasdildo-Verkaufstheke, geht es in den ersten fensterlosen Raum, wo einem ein majestätisch gelangweilter Mann ein Formular zum Ausfüllen gibt. Nach einer kurzen Wartezeit wird man zum Arzt geführt. Der Arzt sitzt in einem besenkammergrossen fensterlosen Raum an einem Pult. Ein Mann um die fünfzig mit langen braunen Strähnen unter einer Cap, er trägt grosse Kopfhörer und eine kleine, ovale Sonnenbrille, er sieht aus wie ein Unhold. Er schaut lang nicht auf, dann schiebt er den Kopfhörer bloss von einem Ohr. «Oh, hello. Was ist das medizinische Problem?», fragt er. Es gibt Aufzeichnungen von über 200 Beschwerden und Krankheiten, bei denen eine Behandlung mit Cannabis Erfolge gezeigt hat, aber ich entscheide mich für Schlafprobleme. «Da hilft Marihuana sehr gut», sagt er und schreibt etwas. «Aus der Schweiz? Da war ich auch schon. In Lausanne. Ich erinnere mich aber nur noch an die Holzbrücke.» Es klopft, der Nächste bitte, bye.
Dann in den Warteraum: ein fensterloses Zimmer mit Stühlen und einer Mikrowelle. Es riecht nach Gras und Beutelsuppe. Nach einer Weile kommt eine stark geschminkte blonde Frau mit russischem Akzent und Arztkittel und führt mich in einen fensterlosen Raum, der sogar noch kleiner ist als Doktors Besenkammer: Ein Tischchen, ein Stuhl für sie, ein Stuhl für mich und ein Geldautomat stehen darin. Alle Geschäfte rund um Cannabis werden in bar abgewickelt, weil es – trotz Legalisierung – nicht viele Banken gibt, die diese Unternehmen als Kunden akzeptieren. «195 Dollar macht das dann», sagt sie. «Aber draussen heisst es doch 40 Dollar?» – «Aber du hattest eine Arztkonsultation.» Ach so. Ja dann. Ich kriege ein hübsches geprägtes Papier mit goldener Plakette und darf jetzt bis zu 250 Gramm Marihuana besitzen.
Die Dispensary, die mir die russische Frau empfohlen hat, liegt im ersten Stock eines etwas heruntergekommenen Einkaufskomplexes, ich muss lange warten, bis der Mann hinter der Glasscheibe auftaucht und zwei grosse, weisse Männer vom Typ Stand your Ground, die 100-prozentig einen Pick-up fahren, aus der Sicherheitstür gesurrt werden und den Laden mit einem Papiersack in der Hand verlassen. Mein Rezept wird überflogen, der Pass kurz studiert, und der dünne, schmierige Mann winkt mich mit einer Kopfbewegung zur surrenden Tür. Dahinter ist ein grosser – natürlich fensterloser – Raum mit Spannteppich, der aussieht wie ein schäbiger Süssigkeitenladen. Was er auch ist. In einer Kühlvitrine gibt es bunte Limonaden, in einer Theke alles von Schokolade über Kaubonbons, Gummibärli, Gummiwürmchen, Apfel- und Pfirsichringe, Cookies. Ausserdem Badezusätze, fertig gerollte Joints, Blüten und Vaporizer-Flüssigkeit. Ich brauche Beratung. Er fragt nicht, was meine Beschwerden sind, sondern kommt gleich auf den Punkt. «Wie willst du denn drauf sein?» «High.» «Also nicht stoned.» «Nein, high und glücklich.» «… but fully functional.» «Genau.» «Dann empfehle ich die Gummibärli. Jedes hat zehn Milligramm THC, nimm zwei und warte 45 Minuten.» «Und vapen würde ich auch gern mal.» «Dann rate ich dir zu diesem Liquid von der Sativa-Sorte. Indica würde dich eher müde machen. Ein, zwei Züge reichen. Dann einfach nachlegen bei Bedarf. Das wird dich sehr, sehr glücklich machen.»
Ich verlasse den Laden mit einem zugebostitchten Papiersack, den ich nicht in der Führerkabine des Autos lagern und erst am Bestimmungsort aufmachen soll. Darin sind zehn Gummibärli für 40 Dollar und Liquid für 60 Dollar, das reicht für etwa 200 Züge und ein paar medizinisch absolut nicht indizierte Highs.
Ich bin nicht sehr empfänglich für frauenspezifisches Marketing. Ich brauche kein Auto, das extra für Frauen designt ist, und einen rosa Bohrer würde ich nie in die Hand nehmen. Aber in dieser Sparte des Konsums hätte ich mir tatsächlich einen weiblichen Touch gewünscht: Alles etwas schöner, sauberer, weniger unterweltig und ein paar Fenster mehr wären der Tatsache schon angemessen gewesen, dass ich ja absolut legal ein paar Produkte erstehe. Die Produkte selber sprechen eine ganz andere Sprache: Es sind attraktiv und professionell gestaltete Verpackungen mit genauesten Angaben zu Herkunft, Art und Stärke des enthaltenen Cannabis. Diese Akribie ist besagten Anstrengungen aus dem medizinischen Lager zu verdanken. Vorbei sind die Zeiten, zumindest in den USA, als aufs Geratewohl geraucht wurde, was gerade kursierte, um dann ein paar Stunden paranoid in der Ecke zu sitzen. Oder ein Cookie zu essen, um sich auf die Party einzustimmen, mit dem Ergebnis, dass man es vor Müdigkeit gar nicht an die Party schafft. Dieser kontrolliertere Konsum spricht Frauen an. Eher als Männer wollen sie wissen, was und wie viel sie zu sich nehmen, und es ist ihnen peinlich, in einem Shop einzukaufen, dessen Emblem ein Hanfblatt mit Rastamütze ist. Frauen sind auch gesundheitsbewusster – und die Tatsache, dass noch nie jemand an Marihuana gestorben ist und Cannabis auch eine Heilpflanze ist, hat sich herumgesprochen.
Was die Klassifizierung der Substanz als Rauschmittel der Klasse I noch absurder macht. Auch Heroin ist Klasse I, Kokain hingegen gehört zu Klasse II. Klasse I bedeutet, dass die Substanz «keinen medizinisch anerkannten Nutzen hat», genau das Gegenteil des Umstands also, dem Tracy Ryan, Bonni Goldstein und Tausende andere Frauen im medizinischen Canna-Biz ihr Leben verschrieben haben. Ich habe zwar keine Beschwerden, aber zumindest seit langem nicht mehr so gelacht wie mit den Gummibärli. Und Lachen ist gesund, das wird Ihnen jeder Arzt unterschreiben.
«Wenn Menschen heutzutage etwas gegen medizinisches Cannabis haben», sagt Tracy Ryan, «dann sind sie entweder fehlinformiert oder borniert. Oder sie arbeiten in der Pharmaindustrie. Dass die was gegen uns hat, kann ich verstehen», sagt sie und lacht. «Kein Wunder, stecken sie Milliarden in Kampagnen gegen die Legalisierung, denn sie sehen sich unglaublichen Verlusten gegenüber, wenn wir so weitermachen.» Wenn jeder seine Medizin auf dem Balkon ziehen kann, heisst das, und wenn Menschen nicht mehr auf Medikamente angewiesen sind, deren Nebenwirkungen mit noch mehr Medikamenten bekämpft werden müssen.
Es ist ein gut gelaunter Kampf, den diese Frauen führen. Und er wird weitergehen – daran kann auch Präsident Trump nichts ändern. «Natürlich kann er konservative Richter ernennen und uns Steine in den Weg legen», sagt Bonni Goldstein. «Aber die Bewegung um medizinisches Cannabis ist schon längst über das Moment hinaus, an dem es aufgehalten werden könnte.» Dank dieser Pflanze werden Frauen vielleicht zum ersten Mal einen Wirtschaftszweig dominieren. Und viele werden sich die Freiheit nehmen, Marihuana zu konsumieren. Weil sie generell nicht mehr bereit sind, sich Freiheiten nehmen zu lassen.
1.
Die kalifornische Ärztin ist eine der prominentesten Befürworterinnen des medizinischen Einsatzes von Cannabis. Sie ist Inhaberin und medizinische Direktorin von Canna-Centers.
2.
«Ein guter Freund fragte mich, ob ich meine berühmten Cookies mit dem Gras aus seiner Apotheke versetzen würde. Und ich dachte: Warum nicht?», sagt die Gründerin und CEO von Sweet Grass Kitchen. Jede Woche produziert ihre kleine Bäckerei über 45 000 Cannabis-Schokoladenguetsli, die sie in Denver und Umgebung verkauft. Die Wachstumsrate von Sweet Grass lag 2016 bei über 300 Prozent.
3.
«Der Umsatz, der im Cannabis-Business möglich wäre, wird auf 47 Milliarden Dollar geschätzt, das ist mehr als bei allen anderen Nutzpflanzen zusammen: Es ist also klar, dass Cannabis nicht nur Krankheiten, sondern auch das US-Defizit heilen könnte», sagt Cheryl Shuman. Sie ist – ohne Zweifel – die bekannteste und wohl auch illusterste Pot-Aktivistin der USA. Seit zwanzig Jahren setzt sich die First Lady of Cannabis, wie die Presse die 54-Jährige gern nennt, für die Legalisierung von Cannabis ein und propagiert ihren medizinischen Nutzen, egal ob im TV bei CNN oder bei Gala-Dinners in Hollywood. Neben der Leitung von Cheryl Shuman Inc., ihrer eigenen Business-Development-, Public- Relations- und Marketingfirma, ist sie Gründerin und Präsidentin des Beverly Hills Cannabis Club und Geschäftsführerin von Moms for Marijuana, der ältesten und grössten Frauen-Organisation im Marihuana-Dunstkreis der USA.
4.
Die Gründerin von Stock Pot Images, dem grössten und einzigen exklusiven Cannabis-Bild-Archiv der Welt in Pasadena, über ihr Ziel: «Ich will die wahren Gesichter und Gemeinschaften hinter dem Cannabis zeigen und sie dadurch entstigmatisieren. Denn die Sicht der Menschen auf Cannabis ist nach wie vor enorm verzerrt.»
5.
Sie ist CEO von Mindful, dem grössten Marihuana-Anbauer von Colorado. Das Hauptlager misst über 4000 Quadratmeter und liegt gegenüber einem Polizeiposten.
6.
Tracy Ryan, Gründerin von Cannakids, mit ihrer Tochter Sophie.
7.
Laut «Forbes» gehören die Co-Gründerinnen von MJFreeway bereits zu den zehn hoffnungsvollsten Businessfrauen der USA. MJFreeway vertreibt Software-Lösungen für Cannabis-Unternehmen. Die beiden sind stolz, «einen Beitrag zur Zukunft eines legalen Cannabis-Markts zu leisten, in dem die Patienten viel bessere Produkte finden können als auf dem Schwarzmarkt».
8.
Die Marihuana-Produzentin ist Co-Eigentümerin von Good Meds Network in Denver. Im Bundesstaat Colorado ist der Anbau von medizinischem Marihuana seit 2001 zugelassen, und seit 2012 ist auch der private Freizeitkonsum von Cannabis straffrei.