Brauchtum: Alpsegen von Sennen
- Text: Sven Broder
«B’hüets Gott!» Alles Gute kommt von oben, trichtern Sennen mit dem Alpsegen denen im Tal ein. Auch Mina Inauen beherrscht den Betruf.
Wenn Mina Inauen (61) zur Abenddämmerung den hölzernen Milchtrichter vom Nagel nimmt und draussen auf der Wiese ihre sonore Stimme zum Alpsegen erhebt, dann zieht sich ein magischer Kreis um die Alp am Sämtisersee am Fuss des Alpsteins auf 1200 Meter über Meer. Ein Schutzbann, der alles Böse abwehrt und die lichten Kräfte herbeiruft, damit sie Wache halten für die Nacht: Gott und Maria. Den heiligen Antoni, Beschützer des Borstenviehs. Sebastian, Bewahrer vor Seuche und Krankheit. Moritz, den hiesigen Landespatron. So will es die Tradition. Und so will es Mina Inauens Glaube.
Man hört sie nicht mehr oft, die Betrufe der Sennen in den katho-lischen Berggebieten der Schweiz, Frauenstimmen schon gar nicht. Aber ausser ihr tue es hier oben eben niemand mehr, sagt sie. Und: «Ich kann als Frau beten wie ein Mann. Warum sollte ich nicht auch den Alpsegen rufen können wie ein Mann?» Gefragt, was die anderen Älpler davon halten, hat sie nie. «Wer weit fragt, wird nur weit herumgewiesen.» Und schliesslich hat sie es schon in jungen Jahren getan. Damals, als sie als 13-jähriges Mädchen dem Vater zur Hand ging, wie sie heute ihrem Mann hier oben hilft, den Rahm zum Schmalz rührte und dann – vom fremden Milchkontrolleur eines Nachmittags in die Kunst des Betrufs eingeweiht – an einem Sommerabend zum ersten Mal das «Ave Maria» an die Felsen warf: Vier Töne nur, aber sie fuhren Mina Inauen tief ins Mark.
Seit zwölf Jahren ist sie wieder Teilzeitsennin aus Leidenschaft. Wenn sie nicht auf der Alp ist bei ihrem Mann, unterweist sie die Dorfkinder im Tal in Hauswirtschaft und textilem Werken. Oder hilft auf dem Hof ihres Sohns. Oder schaut zu den Enkeln. Unten ist immer was zu erledigen. Auf der Alp aber, sagt sie: «Das ist pure Erholung.» Deshalb geht sie während des 13-wöchigen Alpsommers jeden freien Tag hinauf, lässt den «Alltagsplonder» hinter sich und ruft gegen 20 Uhr den Alpsegen. Ob sie denn auch glaube, was sie da singe? «Sicher», sagt sie. «Nüt isch efach so!» Und deshalb hängt auch in ihrem Heimetli in Appenzell an der Haustür eine Schale mit geweihtem Wasser, um die Finger zu tunken und das Kreuz zu schlagen, wenn man das Haus verlässt, damit Gott und die Heiligen die Hand über einen halten.
Mina Inauens tiefe Religiosität hat was Rührendes. Etwas rührend Naturverbundenes und damit auch ganz Unzimperliches: Vor der Tür, an den Stangen, wo die Hausfrau sonst den Teppich ausklopft, hängt ein Kaninchen, aufgehängt an den Hinterläufen, der Nachbar zieht ihm gerade das Fell ab. Ein Jammer, müsste man meinen. Trocken meint Mina Inauen: «Das muess ebe au sy.» Kein Grund jedenfalls, deswegen den Heiligen Sebastian anzurufen.
Der Film
In den katholischen Berggebieten der Schweiz ist der Betruf eine jahrhundertealte Tradition. Regisseur Bruno Moll gibt im Dokumentarfilm «Alpsegen» Einblicke in den Alltag von fünf Älplern, darunter auch Mina Inauen, die den Betruf heute noch praktizieren.
«Alpsegen» ab 5. April im Kino