Die Berliner Künstlerin Annique Delphine kämpft mit überdimensioniertem Pappmaché-Busen und Nacktheit gegen die Erotisierung von Frauen an. Wie funktioniert das?
Es bedarf nicht viel Zeit, um einem Menschen wehzutun. Ein Schlag ins Gesicht, ein beleidigendes Wort, das alles ist schnell geschehen. Manchmal allerdings braucht es Jahre, bis die erlittenen Verletzungen für einen Menschen lebensbedrohlich werden.
Annique Delphine war 24, als sie sich plötzlich nicht mehr aus ihrem Apartment in Los Angeles bewegen wollte. Und wenn, dann nur, um sich in Clubs mit Alkohol und Drogen zu betäuben. «Ich glaube», sagt sie, «dass ich unter Schock stand von den ständigen Beleidigungen, die ich in der Branche einstecken musste.» Mit 14 war sie in Deutschland als Model entdeckt worden und ging nach der Matura nach Mailand, um ihr Glück zu versuchen. Wie oft sie sich in jener Zeit anhören musste, dass der Bauch zu dick, das Haar zu dünn oder die Haut zu schlecht sei, kann sie gar nicht mehr sagen. Nur, dass die Erinnerungen daran tief sitzen. Auch die Erinnerungen an Redaktoren, die sie als hässlich aburteilten. Oder an die mit viel Aufwand durchgeboxte Schulbefreiung für einen Job in Paris, der damit endete, dass sie nach zwei Tagen wieder heim nach Wiesbaden geschickt wurde. Zu dick.
In Los Angeles hoffte sie, als Schauspielerin Karriere zu machen. Doch als Rettungsanker entpuppte sich das Angebot, als Fotoassistentin zu arbeiten: «Ich fühlte mich zwar nicht schlagartig glücklich, aber zumindest viel weniger unglücklich», erinnert sie sich. «Da habe ich gemerkt, dass ich depressiv bin und es vermutlich schon lang gewesen sein muss. Ehrlich gesagt, wird mir erst heute richtig klar, wie schlimm das alles war.»
Die Kunst wurde zu einer ihrer stärksten Waffen im Kampf gegen ihre Depressionen. Sie absolvierte die Neue Schule für Fotografie in Berlin, begann danach Fotos zu machen, Collagen, Installationen mit Pappmaché-Brüsten, Filme rund um Objektifizierung und Sexualisierung von Frauen, jene Objektifizierung und Sexualisierung, die Annique Delphine selbst erlebt hatte. Dabei bringt sie sich selbst immer wieder mit ein, verarbeitet persönliche Erfahrungen, stellt sich vor und hinter die Kamera.
Für ihre Fotoserie «Alien Nature» fuhr die heute 37-Jährige Ende letzten Jahres in die kalifornische Wüste. Den Kofferraum voll mit künstlichen Blumen und einem Busen aus Pappmaché. «Ich zog mich aus, setzte die Pappmaché-Brust auf den Kopf und machte Bilder mit Selbstauslöser. Wenn man bedenkt, dass ich mit dem Boobie auf dem Kopf nichts sehen kann, nicht ganz so einfach. Noch dazu hatte ich ständig Schiss, dass mich jemand verhaftet.» Die Serie, betont die Künstlerin, hat auch einen therapeutischen Zweck, bringt sie doch ihre Schmerzen, Konflikte, Unsicherheiten und nicht zuletzt auch ihren Selbsthass zum Ausdruck.
Zentrales Element von Annique Delphines Arbeiten sind neben ihren Pappmaché-Werken kugelrunde Silikonbrüste, die sie einkauft, stets auf Reisen für Guerilla-Installationen dabei hat und die kistenweise in ihrem hellen Studio in Berlin-Wedding stehen. Was wäre auch besser dafür geeignet als der Einsatz von Brüsten, dem ultimativen Inbegriff von Weiblichkeit, im Versuch, die Welt mit ihrer gestörten Wahrnehmung von nackten Frauen und deren ständiger Erotisierung zu konfrontieren? Nun prangen die Silikonbrüste auf Fotos mit Glaces, gehen als Ufos in die Luft oder wachsen in rosaweissen Blumenmeeren auf Asphalt.
Endlich dürfen die hautfarbenen Bällchen mehr sein als Scherzartikel, Sextoy oder gar Stressball. In «Flying Object» (Beverly Hills), einer ihrer berühmtesten Arbeiten aus der Serie «Objectify me», schwebt ein Exemplar am Palmenhimmel über dem Beverly Drive. Als eine Art ausserirdisches Wesen inmitten eines vom Silikonwahn besessenen Landes, das von Burgern bis hin zu Autos und Waffen alles mithilfe von sexy Brüsten verkauft, das Entblössen einer echten Brust allerdings mit einem prüdem Aufschrei quittiert.
Bis der Busen über den Palmen schwebte, vergingen jedoch Stunden harter Arbeit. «Da stand ich mit dieser grossen Gummibrust inmitten einer Villensiedlung in Beverly Hills und warf sie immer wieder für mein Foto in die Luft. Ich weiss nicht, wie oft sie auf den Boden knallte, schmutzig wurde und ich zum Feuchttuch greifen musste.» Irgendwann fuhr einer dieser Hollywood-Tourbusse vorbei, «und wahrscheinlich gibt es jetzt irgendwo auf der Welt ein grossartiges Foto von mir, wie ich meinen Gummibusen in die Luft werfe», erzählt sie grinsend.
Es passt zu Annique Delphine, dass sie ihre Arbeiten nicht am Computer anfertigt, sondern im wahren Leben inszeniert. Sie ist in ihrer Kunst so ungekünstelt wie im direkten Gespräch. Derzeit kann sie nicht von der Kunst leben. Und das, obwohl sie über Saatchie Art, einem der grössten virtuellen Kunstmärkte, ihre Bilder verkauft und der chinesische Künstler Ai Weiwei zu ihren Instagram-Followern zählt. Sie ist Mutter eines vierjährigen Kinds. Drei Jahre lang nahm sie es in ihr Atelier mit, wo es oft schlief, während sie arbeitete. Ihr Kind in eine Krippe zu geben, ist für sie nie infrage gekommen. Dass ihr Mann, ein erfolgreicher Filmproduzent, die Familie im schönen Berlin-Mitte nicht nur ernährt, sondern seine Frau auch unterstützt und ermutigt, sich künstlerisch zu entfalten, erachtet sie als Privileg.
Mit dem Busenwerfen wird Annique Delphine nun aber eine Weile aussetzen müssen – kaputte Bandscheibe. «Ich glaube, dass ich mich letztes Jahr übernommen habe und mein Körper jetzt Stopp schreit», meint sie. Sie werde versuchen, daraus zu lernen und weniger perfektionistisch zu sein. Was sich die Künstlerin für die Zukunft vorgenommen hat? «Eine Kampfsportart lernen. Ich will stärker werden.»
Denn Annique Delphine kämpft an vielen Fronten. Nicht nur, weil sie noch immer einen grossen Zorn in sich trägt, sondern auch, weil sie getrieben ist, in der Gesellschaft Gutes zu tun. So malt und bastelt sie mit Flüchtlingskindern in Berliner Kunstworkshops, engagiert sich in feministischen Gruppenausstellungen (zuletzt in New York «Hotter than July: Hands of My Cuntry»), leitet Diskussionen rund um die Geburtenkontrolle, moniert, dass die Hauptlast der Verantwortung dafür auf dem Rücken der Frauen liegt, spricht sich gegen Trumps Abtreibungspolitik und für die Organisation Planned Parenthood aus. In London lässt sie in Telefonzellen Brüste und Blumen wachsen, in Frankreich tut sie es in Regenrinnen, als Zeichen dafür, dass sich die weibliche Natur trotz aller Widrigkeiten immer wieder ihren Weg bahnen wird. «Ich war schon immer ein empathischer Mensch, aber seit ich Mutter bin, geht einfach nichts mehr an mir vorbei», sagt sie fast schon entschuldigend. «Es klingt vielleicht naiv, aber ich bin durch mein Kind von der Idee beseelt, die Welt schöner und aufrichtiger zu machen.»
Dass ihre Busenbilder auf Instagram pausenlos zensuriert werden und sie zuweilen aneckt mit dem, was sie macht, damit kann Annique Delphine inzwischen leben – solang ihre Kunst Dialoge entfacht. War ihr Atelier lang eine Art Keimzelle ihrer One-Woman-Show, sucht sie nun immer mehr den öffentlichen Raum. Ihre Kunst wird politischer, ihr grösser gewordenes Selbstbewusstsein ermöglicht es ihr, sich vom persönlichen Schicksal einer übergeordneten Ebene zuzuwenden: Für die Serie «Girl Disruptive» sucht sie den Ort in Los Angeles auf, wo Elizabeth Short alias Black Dahlia 1947 vergewaltigt und ermordet wurde. Am diesjährigen Weltfrauentag setzte sie in Berlin Hedwig Porschütz ein Denkmal, einer Frau, die während des Zweiten Weltkriegs Juden vor der Deportation gerettet hatte und in den Sechzigerjahren für ihren vermeintlich unmoralischen Lebenswandel als Prostituierte bestraft wurde. «Ich kaufte für 200 Euro Blumen und fing an, sie in gewohnter Manier aufzubauen, als mich plötzlich ein Mann ansprach und fragte, was ich da mache. Als ich es ihm erklärte, fand er es so toll, dass er zuhause mehr über Hedwig Porschütz lesen wollte.»
So etwas macht Annique Delphine glücklich, schliesslich bedeutet es, dass ihre Kunst wirkt, inspiriert. Und dass es gar nicht so naiv ist, die Welt ein wenig schöner und aufrichtiger machen zu wollen.
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