annabelle-Redaktorin Helene Aecherli trauert um die Häuser in der jeminitischen Hauptstadt Sanaa, in die saudische Bomben tiefe Wunden rissen.
Es sieht aus wie ein Körper, dem man mit voller Wucht die Eingeweide herausgerissen hat: Aus klaffenden Löchern quellen Kabel und Drähte. Wo kurz zuvor noch Mauern gestanden sind, türmen sich Trümmer, an einem abgebrochenen Rohr hängt ein Fensterrahmen in grotesker Schieflage.
An jenem Morgen im Juni waren bei erneuten Luftangriffen Saudiarabiens auf die jemenitische Hauptstadt Sanaa fünf prachtvolle Turmhäuser getroffen worden. Die Raketen forderten mindestens sechs Menschenleben und Dutzende von Verletzten und verwandelten innert Sekunden Gebäude in Schutt und Asche, die 2500 Jahre lang Zeugen der jemenitischen Geschichte gewesen waren, Juwelen der islamisch-arabischen Städtearchitektur. Als ich das Bild der Zerstörung sehe, bin ich den Tränen nahe.
Wie oft bin ich in Sanaa, der Legende nach die älteste noch bewohnte Stadt der Welt, durch die verwinkelten Gassen geschlendert und konnte mich nicht sattsehen an den betörend schönen Lehmziegelbauten, die so gern mit Lebkuchenhäuschen verglichen werden. Sie ragen bis zu dreissig Meter in den Himmel, um ihre Mauern laufen Ziegelbänder, verziert mit weiss gestrichenen Zickzack- und Rautenreliefs. Schmale Treppen führen zum Dach, das mit weissen Zinnen gekrönt ist und wo sich – ganz standesgemäss – der Empfangsraum des Hausherrn befindet, der Mafradsch, dicht mit Kissen ausgelegt. Und über den Fenstern thronen Oberlichter, Kirchenfenstern ähnlich, aus gefärbtem Glas. Wenn sich das Sonnenlicht in diesen Scheiben bricht und den Raum mit flirrenden Strahlen durchflutet, ist es, als wäre man vom Universum umschlungen.
Nicht umsonst sind die Altstadt Sanaas und ihre Turmhäuser 1988 zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt worden. Ihre Schönheit schien unantastbar. Und auch wenn ich jedes Mal wehmütig erkannte, wie sehr manche Häuser vom Zerfall bedroht sind, so war ich stets der naiven Überzeugung, dass sich äussere Gewalt vor ihrer Pracht verneigen würde. Dass es nicht so sein sollte, macht mich fassungslos.
Gegen die Menschlichkeit
Jetzt könnte man natürlich sagen, meine Trauer um die zerstörten Gebäude sei bloss das Lamento einer romantisierten Westlerin. Doch ein Blick in die Social-Media-Kanäle, allen voran Facebook und Twitter, zeigt mir, dass ein Grossteil der Bewohner Sanaas, aber auch Jemeniten in der Diaspora genauso fühlen: Kaum ist die Zerstörung publik geworden, verbreiten sich Bilder, die die Häuser vor und nach dem Bombenangriff zeigen. Die Posts zeugen von Entsetzen und tiefer Trauer. «Der Schlag gegen unsere Altstadthäuser ist nicht nur ein Schlag gegen die Menschheit, sondern gegen die Menschlichkeit», schreibt Abdo Ramadan (42), ein Geschäftsmann in Sanaa und enger Freund von mir. Doch mischen sich auch andere Stimmen in diesen Kanon. Stimmen, die den Trauernden Oberflächlichkeit, gar Zynismus vorwerfen, weil sie sich «dem Luxus hingeben», um Steine zu weinen. «Ein paar kaputte Häuser», so ein aufgebrachter Kommentar, «scheinen euch mehr zu bewegen als all unsere Toten.»
Die Kritik scheint nicht unberechtigt. Seit über fünf Monaten herrscht im Jemen ein erratischer, multilateraler Krieg. Gemäss der Hilfsorganisation Oxfam haben die Kämpfe zwischen der von Saudiarabien angeführten Militärkoalition, Huthi-Rebellen, Milizen und religiösen Extremisten bisher über 4500 Menschen das Leben gekostet. 22 Millionen, achtzig Prozent der Bevölkerung, mangelt es an Wasser, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung, zwölf Millionen sind von akuter Hungersnot bedroht. Ein humanitäres Desaster, angesichts dessen es in der Tat geradezu absurd erscheint, um Steine zu weinen. Denn Steine kann man wieder aufschichten, Gebäude rekonstruieren. Ausgelöschte Leben aber sind für immer verloren.
Doch geht es hier nicht darum, den Tod von Menschen und die Zerstörung antiker Schätze gegeneinander auszuspielen. Sondern darum, vom Menschen kunstvoll Erschaffenes als Teil seiner selbst zu verstehen. So gibt die 26-jährige Politologiestudentin Layla M. Asda unumwunden zu, dass sie um die Turmhäuser trauert wie um einen geliebten Menschen – trotz des Krieges. Unzählige Stunden hatte Layla im Haus ihrer Tante verbracht, die in jenem Quartier lebte. Für sie ist es, als hätten diese Bauten eine Seele gehabt, als wären sie aus Fleisch und Blut gewesen. «Unsere Stadt bedeutet alles für uns. Am liebsten würde ich in die Welt hinausschreien: Kommt her und seht sie euch an!», fügt sie hinzu. «Der Verlust dieser Häuser hat uns unseren ganzen Stolz geraubt.»
2000 Jahre alt
Dass Steine mehr sind als tote Materie, wussten auch die Taliban, als sie die Buddha-Statuen in der afghanischen Provinz Bamyan in die Luft sprengten. Oder die al-Qaida, die in Timbuktu Bibliotheken verbrannte und islamische Mausoleen zerstörte. Oder die Schergen des IS, die im Museum von Mosul jahrtausendealte Kulturschätze zertrümmerten – und jüngst erst den 2000 Jahre alten Tempel Baal Shamin in der syrischen Ruinenstadt Palmyra. Und noch während ich dies schreibe, geht in den Social Media das Gerücht um, die Saudi-Koalition wolle tausend Bomben über Sanaa abwerfen.
Werden solche Kulturgüter, solche Monumente zerstört, gehen nicht nur bauliche Kunstwerke verloren, sondern auch kollektive Erinnerungen, Symbole, über die die Vergangenheit eines Volkes für nachfolgende Generationen greifbar wird. Die Vernichtung historischer Kulturgüter zielt explizit darauf ab, Stolz, Würde und Gedächtnis eines Volkes zu erodieren. Und sie zeugt von einer abgrundtiefen Geringschätzung der kulturellen Vielfalt, für die diese Werke stehen.
Man darf also nicht nur, man soll sogar um Steine weinen.
Um zerstörte Kulturgüter als 3D-Modelle zu rekonstruieren, darunter Exponate aus dem Museum in Mosul und die Turmhäuser Sanaas, wurde das PROJECT MOSUL ins Leben gerufen. Dabei werden Menschen auf der ganzen Welt dazu aufgerufen, ihre Fotos von diesen Objekten auf die Website hochzuladen: www.projectmosul.org
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Helene Aecherli auf dem Dach des Hauses ihrer Freunde