So schön die Retrowelle auch ist: Wir müssen uns von der klebrigen Verliebtheit in die Vergangenheit befreien. Sie bremst uns in einer Zeit, die mehr denn je Engagement braucht.
Heraufbeschworen von der Hipster-Bewegung ist die Nostalgie inzwischen im gesellschaftlichen Mainstream zuhause. Das legen die allgegenwärtigen Einmachrezepte nahe, die menschenvollen Schrebergärten und die zahlreichen Vintage-Möbelläden mit ihren verkratzten Beizentischen, an denen später in Altbauwohnungen Eintöpfe wie zu Grossmamas Zeiten gelöffelt werden.
Die süsse Nostalgie überzieht aber nicht nur unsere Oberflächen, sie tröpfelt auch in unseren Geist. Und dort richtet sie weniger schöne Dinge an als in unseren Wohnungen. Hier verdickt sie, verklebt das denkerische Getriebe als Bremsklotz unserer Zeit.
Denn Nostalgie kehrt unser Blick nach hinten – und uns damit ab von der Welt und ihren aktuellen Realitäten. Hier tut sich ein Raum auf, der so gut und schön erscheint, weil in ihn alles hineingeschrieben werden kann: Das Landleben, das so genügsam war. Die harte, aber ehrliche Arbeit. Die nach frischem Brot riechende Wohligkeit des Hausfrauendaseins. Eine Romantik, die wir nie überprüfen können.
Der rückwärtsbezogene Zeitgeist lähmt uns – und den Fortschritt. Denn er öffnet auch die Türen für reaktionäre Gesellschaftsbilder. Der grösste Populist unserer Zeit hat sich auf dieser Welle an die Spitze geschwemmt, mit der Berufung auf die Romantik des Gestern – Make America Great Again. Derselben Rhetorik bedient sich die AfD in Deutschland, die allen Fortschritt wieder rückgängig machen will. So wie damals, als die Welt noch gut war.
Doch die gute alte Zeit war gar nicht so gut. Für die viele Menschen auf dieser Welt sogar eine schlechtere als heute. Eine Zeit, in der in weit weniger Ländern demokratisch gewählt werden konnte, in der mehr Menschen gefoltert wurden, mehr Menschen in Kriegen starben. Und es war vor allem eine miserable Zeit für Frauen, die von der Politik ausgeschlossen waren und generell als Wesen angeschaut wurden, das dem Mann nicht ebenbürtig ist, nicht fähig, eigenständig zu denken.
Wie soll man mit rückwärts gewandtem Blick vorwärtskommen? Aus Nostalgie entsteht keine Aktion. Darum ist sie fehl am Platz in einer Zeit, die mehr denn je Engagement von uns verlangt. Um die grossen Gräben zwischen Volk und Eliten zu schliessen und die umwälzenden Veränderungen zu bewältigen, wie das Verschwinden zahlreicher Berufe, weil sie von Robotern übernommen werden. Es sind Dinge, die Angst machen können. Aber sie erschrecken uns noch mehr, wenn wir sie nicht kommen sehen.
Darum müssen wir jetzt den verklebten Bremsklotz aus dem Getriebe treten, den Blick nach vorne richten und aktiv werden. In einer Partei, in einer Organisation, in unserem Quartier. Nur dann gestalten wir eine Welt mit, auf die wir später an unseren alten Beizentischen mit Fug und Recht nostalgisch zurückblicken können.