Bewohnbares Möbel: Zu Besuch bei Designer David Glättli in Kyoto
- Text: Rebekka Kiesewetter; Fotos: Gorta Yuuki
Der Zürcher Designer David Glättli wohnt in Kyoto in einem traditionellen Reihenhaus, einem Machiya. Seine japanischen Freunde würden das nie tun.
Ab und zu fühlt David Glättli sich so japanisch, dass er beim Blick in den Spiegel fast ein wenig erschrickt, wenn er seine europäischen Gesichtszüge sieht. Denn Japan ist so etwas wie der rote Faden in seiner Biografie, den er vor seinem Industriedesign-Studium in Mailand und an der Écal in Lausanne mit einigen Semestern Japanologie aufgenommen hat.
Fünf Jahre hat er in Osaka gelebt, jetzt wohnt er seit einigen Monaten in Kyoto. Als einziger Europäer arbeitet er beim Möbelproduzenten Karimoku als Art Director des Labels Karimoku New Standard und ist so gut integriert, dass er sich die japanische Art des Verhandelns – dieses Nichts-Sagen und doch Viel-Mitteilen – zu eigen gemacht hat.
Er sagt, dass er sich in Japan nie fremd, sondern immer gut aufgehoben und akzeptiert gefühlt habe. Und er wohnt seit kurzem in einem traditionellen japanischen Stadthaus, einem Machiya. Aber gerade hier tickt der 36-Jährige überhaupt nicht japanisch und schon gar nicht wie seine Altersgenossen. «Kaum jemand möchte ein altes Haus, zumindest solange es nicht nach neuen Standards ausgebaut ist», sagt er. Die meisten von seinen kinderlosen Bekannten wohnen in modernen Wohnungen, die jungen Familien in seinem Freundeskreis suchen sich ihre Einfamilien-Neubauten gern im Katalog aus, Hypotheken haben in Japan eine lebenslange Laufzeit.
David Glättli hingegen zog in ein hundertjähriges Haus in einem traditionellen Wohnviertel, in dem vor allem Alteingesessene und Alte wohnen. «An Feiertagen gibt es Quartierveranstaltungen, im winzigen Restaurant an der Ecke kocht das schweigsame Wirtepaar das, worauf ich gerade Lust habe.» Nicht der nostalgisch verklärte Blick des Europäers auf die Vergangenheit seiner Wahlheimat ist der Grund, warum David Glättli das gesucht hat, was die in dieser Kultur Aufgewachsenen als unkomfortabel und nicht mehr zeitgemäss betrachten. Sondern seine Begeisterung für die japanische Handwerks- und Gestaltungskultur: «Alte japanische Häuser sind wie bewohnbare Möbel, sie wurden von Schreinern und nicht von Architekten gebaut, sie sind filigran, und in ihre Konstruktion sind viele Funktionen integriert, die normalerweise von Einrichtungsgegenständen übernommen werden: Wandkästen etwa gibt es in meinem Haus en masse.»
Typisch sei auch, dass die Proportionen der alten Häuser durch die Masse von Tatamimatten definiert wurden: «Ein Zimmer ist also zum Beispiel 3, 4.5 oder 6 Matten gross, die Türen sind halb so breit, wie eine Matte lang ist.» «Für mich», sagt David Glättli, «ist Wohnqualität nicht gleichbedeutend mit Aircondition; und ich finde es spannend, aktuelles Design in einem Haus wie meinem wirken zu lassen. Das Neue widerspricht dem Alten nicht, es stellt einen Bezug zwischen der traditionellen Umgebung und dem modernen Alltag her und gibt ihm so eine neue Relevanz.»
Um seine Vorstellungen vom Wohnen umzusetzen, nimmt David Glättli Umstände in Kauf, die – vorsichtig ausgedrückt – suboptimal sind: «Traditionelle Reihenhäuser sind lang und schmal, Fenster haben sie nur an den Stirnseiten. Deshalb ist das Licht im Kern des Hauses immer dämmrig. Klar, das Spiel mit dem Schatten ist ein Bestandteil der japanischen Architektur – aber trotzdem …»
Ständig rieselten Verputz und Staub von der Decke, und wenn Kinder zu Besuch waren, müsse er die Papiertüren reparieren. Damit ist die Liste aber noch nicht zu Ende: «Die Toilette ist im Garten. Ich habe keine Heizung, im Sommer ist es heiss und im Winter kalt. Einigermassen warm geben ein Elektroöfeli und ein Kotatsu, wie man die kleinen Tische nennt, an denen eine Decke und auf der Unterseite ein Heizstrahler befestigt sind. Da kann man die Beine drunterstrecken. Mein Haus ist nicht isoliert und undicht, durch Ritzen in den Wänden sieht man ins Freie und in angrenzende Räume. Man kann sich durch sie hindurch unterhalten – auch mit den Nachbarn.»
Mit der alleinstehenden alten Dame etwa, die in der gleichen Häuserzeile wohnt und jeden Tag mit dem Taxi zu ihrem Sohn fährt. Oder mit dem frisch pensionierten Paar aus Kobe von nebenan. Die Frau schenkt ihm ab und zu einen Fisch, der Mann übt Fechten im kleinen Quartierpark. David Glättli kennt seine Nachbarn, denn wer einzieht, bringt allen Einwohnern im näheren Umfeld ein kleines Geschenk und stellt sich vor. Ausserdem haben Neuzuzüger beim Quartierverwalter vorzusprechen und ihm einen Beitrag zur Kollekte für das «Wohl des Quartiers» zu entrichten.
Null Komfort, die Nachbarn sechzig plus: David Glättli, wiegt das Positive wirklich alles Schwierige auf?
«Auf jeden Fall: Ich wohne in einem kleinen Kunstwerk aus einer anderen Zeit. Der Sommerwind zieht durchs Haus, vom Engawa – dem Gang, der Garten und Innenraum trennt – sehe ich dem Regen zu, der auf die Blätter und Steine im winzigen Garten fällt. Ich stehe hinter dem Bambusgitter am offenen Fenster und höre dem Geplauder der alten Frauen auf der Strasse zu, betrachte auf dem WC sitzend den Garten und fahre mit dem Velo direkt ins Haus.»
Wenn David Glättli Gäste hat, hängt er die Schiebetüren aus und macht aus zwei Räumen einfach einen grossen. Japanische Freunde aus seinem früheren Wohnort Osaka sind die häufigsten Gäste. Sie kommen vorbei, jeder bringt etwas mit, David Glättli kocht. Meistens italienisch mit – je nach Erhältlichkeit der benötigten Zutaten – auch mal fernöstlichem Einschlag. Bei japanischen Essen wird jeweils viel getrunken: «Danach ist es für den Besuch meist zu spät, um noch nachhause zu fahren. Dann lege ich Futons aus.»
Freunde aus der Schweiz übernachten hingegen jeweils im Gästezimmer, bleiben einige Tage, und David Glättli spielt den Tourguide – falls es seine Arbeit erlaubt. Denn er arbeitet viel und oft von daheim aus. Sein Haus ist sein Büro und ein wenig auch ein Showroom. Er möchte die Stücke von Karimoku New Standard und 1616/Arita Japan, einer Keramikmanufaktur, für die er häufig arbeitet, und Werke von jungen Künstlern und Designern wie Shiho Ueda oder Soshi Matsunobe in einer realen Wohnumgebung zeigen. Denn in Japan ist es nicht anders als wohl so ziemlich überall sonst auf der Welt. «Möbel von Designern werden als etwas angesehen, das sich nur Reiche und Architekten leisten können und mögen», sagt David Glättli, «das stimmt natürlich nicht, und diesem Irrglauben möchte ich entgegenwirken.»
Link-Tipp
1.
Traditionell japanisches Reihenhaus: Machiya
2.
Der Sommerwind zieht durchs Haus: Innenraum und Garten trennt ein Gang, der Engawa heisst
3.
Was David Glättli mag: Dem Regen zusehen, der auf die Blätter und Steine im winzigen Garten fällt
4.
Mit dem Velo direkt ins Haus fahren: David Glättlis Fahrräder haben ihren Platz im Gang, der mit Schiebetüren vom Wohnraum abgetrennt ist
5.
Dient auch als Showroom: Im Wohnzimmer stehen einige Möbel von David Glättlis Arbeitgeber (www.karimoku-newstandard.jp)
6.
Wohnen ohne Schnickschnack: Ein schlichtes Waschbecken im Bad
7.
Ein funktionales Schlafzimmer
8.
Hier kocht der Zürcher in Japan häufig italienisch: Küche mit Wandschränken
9.
«Für mich ist Wohnqualität nicht gleichbedeutend mit Aircondition»: David Glättli vor seiner Haustür