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Bertram Eisenhauer über das Dicksein

Bertram Eisenhauer über das Dicksein

  • Text: Verena Lugert; Foto: Ramon Haindl 

Bertram Eisenhauer futtert sich fett und fetter. Bei Kartoffelsalat und Wienerli spricht er über seine Gier nach Essen. Und die elenden Folgen.

Er tritt durch die Tür der gerammelt vollen Frankfurter Altstadtbeiz, es ist Mittagszeit, die Kellner balancieren Teller mit Schnitzel und Braten durch die Menge. Und dann steht er im Raum. Unübersehbar.

Weil er ein Dicker ist.

Er setzt sich, fädelt sich mühsam ein zwischen Tisch und Sitzbank, schwitzt ein wenig. Badischer Singsang, freundliches Wesen, hinreissend geistreich, belesen, sprühend vor Intelligenz. Ein Mann in den besten Jahren, ein Mann mit einem Prestige-Job, er ist Leiter des Ressorts Leben bei der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung», einem von Deutschlands angesehensten Blättern. Er entscheidet über Interviews mit Hollywoodgrössen oder führt sie gleich selbst, sein Ressort bildet Stil ab, Kunst, Kochkunst, Klangkunst, Mode, es ist ein Marktplatz des kultivierten Hedonismus, ein Hochamt auf die Ästhetik des Seins.

Er ist beredt. Er ist charmant. Verdient sicher nicht schlecht. Und so einer hat keine Frau, keine Freundin?

Weil er ein Dicker ist.

«Inzwischen kommt es mir vor, als wirkte ich im besten Fall wie ein trauriger Clown, im schlechtesten wie ein Jahrmarktfreak. Das Dicksein lässt mich nicht nur komisch aussehen; es hat inzwischen auch auf meine gesamte körperliche Befindlichkeit durchgeschlagen», schreibt Bertram Eisenhauer (51) in seinem Buch «Weil ich ein Dicker bin. Szenen eines Lebensgefühls». Er berichtet darin brillant, ehrlich, berührend, manchmal resignierend über eines der letzten Tabus: dick, nein, fett zu sein. Mit einer Adipositas permagna geschlagen zu sein, einer Disposition, die er höchstselbst füttert, jeden Tag. Mit Fastfood, Schokolade, Dönertellern. Er schreibt, was das Dicksein mit einem Leben macht. Mit der Liebe. Mit dem eigenen Selbstwertgefühl. Mit der Chance auf Intimität, auf Sex, auf eigene Kinder. Das Dicksein ist «wie eine Wunde, die ständig einen Verband durchblutet. Und das stiehlt dir Lebenschancen. Es ist ein Knacks, der sich häufig durch deine gesamte Existenz zieht. Je mehr du wiegst, umso schlimmer wird es; es ist wie eine schleichende Vergiftung.» Eisenhauer, der Intellektuelle, zitiert dazu den Soziologen Erving Goffman, der dieses Phänomen eine «beschädigte Identität» nennt. Eisenhauer zitiert auch ein Mädchen aus einer Studie über dicke Kinder. Dicksein sei, als «trage man ein Huhn auf dem Kopf». Es stigmatisiert. Und es ist unübersehbar.

«Dicksein ist ein öffentliches Phänomen», sagt Eisenhauer, während wir bestellen. Wir entscheiden uns beide für Wienerli und Kartoffelsalat, dazu ordert er Cola. Warum Cola?, frage ich mich, mein Kalorienkalkulator, in meinem Gehirn seit den ersten Teenagerdiäten fest installiert, springt an. 210 Kalorien! Ich bestelle Wasser. Und dann denke ich: Wer ist hier eigentlich essgestört? Ich oder er? Oder: alle?

«Man kann das Dicksein nicht verstecken, wie man andere Süchte verstecken kann, Alkoholismus oder Tablettenmissbrauch», sagt Eisenhauer. Das Dicksein ist wie der Elefant im Zimmer. Auch hier im Restaurant, man starrt ihn an. Übers Abnehmen wurden Hunderte von Regalmetern geschrieben. Aber übers Dicksein als Zustand? Über den Dauerkrieg mit dem eigenen Körper, den Kampf mit dem eigenen Willen, die Wut auf sich selbst und das Wegdimmen schlechter Gefühle durch Pizza und Schokolade? Da ist Eisenhauer der Erste.

Angefangen hatte sein Buchprojekt mit der Erkenntnis, dass seine Körperfülle kein nurmehr ästhetisches Problem darstellt, sondern ein gesundheitliches Hochrisiko. Und dass er handeln muss. «Ich habe an einem therapeutisch betreuten Programm teilgenommen, in dem 52 Wochen lang versucht wurde, das Gewicht zu reduzieren, Gruppentherapie inklusive. Drei Monate gab es Pulverkost, den Rest des Jahres sollte das erreichte Gewicht stabilisiert werden.» Eisenhauer schrieb in seiner Zeitung eine anonyme Kolumne – «Fetter» hiess sie – über seine Erfahrungen, ehrlich und ungeschönt, wie dies die Anonymität so geschmeidig ermöglicht. Seine Deckung flog jedoch bald auf. «Leute haben mich angesprochen, mir gratuliert.» Eisenhauer versteckte sich nicht mehr – so entstand das Buch.

Es gibt darin ergreifende Szenen wie jene, in der er seine Leser auffordert, gedanklich einen Fatsuit anzuziehen, einen Anzug, der das Dicksein simuliert: «Begleiten Sie mich, von dem Moment am Morgen, da ich mit leisem Stöhnen aufstehe, bis zu dem, an dem ich mich mit einem leisen Stöhnen wieder ins Bett lege. Das wiederholte Ächzen, mit dem mein Körper allmorgendlich das Aufwachen begrüsst, ist eine Art Druckausgleich nach der Bewusst- und Sorglosigkeit der Nacht. Es ist das widerstrebende Eingeständnis, dass die Erdenschwere mich wiederhat, eine Selbstvergewisserung des Elends, eine Checkliste der Beschwernisse.»

Die Beschwernis liegt in der eigenen Schwere, die schmerzhaft manifest wird in einer Welt, deren Möbel für viel leichtere und schmalere Menschen gebaut sind als ihn. Eisenhauer ist Gulliver in einem Lilliputland. Hält die Bank?, schoss es mir blitzartig durch den Kopf, als Eisenhauer sich mir gegenüber niederliess.

Eisenhauer schreibt über die Schwierigkeiten, in die Dusche zu steigen. Sich anzuziehen, allmorgendlich. Ein paar Schritte zu Fuss zu gehen. Alles ist Schwere, ein Kampf gegen die Gravitation.

Er schreibt über die katastrophalen Bedingungen für die Partnersuche, wenn es um Anziehung, Liebe, Gemeinsamkeit, Vertrautheit, um Ehe, Kinder, ein Familienleben, ums Erwachsenwerden geht, «um Dinge, die ein gelungenes Leben ausmachen».

«Inzwischen kommt es mir vor, als wirkte ich im besten Fall wie ein trauriger Clown, im schlechtesten wie ein Jahrmarktfreak»

«Andere Leute haben Beziehungen, du bist ein Zuschauer. Ein Schaufensterbummler, dem nur bleibt, die Nase an die Scheibe zu drücken.» Jeder Satz ein Schnitt mit dem Skalpell. Und falls es doch mal klappt mit einer Frau? Sei er ohnehin zu gehemmt, das Flirten ist für ihn nichts Spielerisches. «Falls sich jemals doch etwas ergeben sollte in diesem Spiel, musst du dich ausziehen, du Dicker. Und bevor jemand das aushält, muss die Anziehung schon gross sein. Da überlegst du dir dreimal, ob du mit deinem Herzen derartig va banque spielen willst.»

Wieso zieht Eisenhauer seelisch derart blank, etwa in dem mit «Brief an ein nie gezeugtes Kind» überschriebenen Kapitel, bei dem man als Leserin zwischen Tränen des Mitleids und bassem Erstaunen, ja Empörung schwankt: Warum mutet einer sich so etwas zu? Seinem Körper, seinem Leben, seinem Glück?

Selber schuld? Er wird nicht zwangsernährt, er schreibt offen von Fressattacken, vom McDonald’s Drive-in, wo er sich Burgerorgien hingibt, vom nächtlichen Besuch des Pizzalieferdiensts.

Ist Essen eine Sucht? Ist Dicksein eine Krankheit, Bertram Eisenhauer, für die man nichts kann, die einen ereilt, anfällt? Fast 190 Kilo wog er zu Beginn seiner Diät. «Ich empfinde mich nur ungern als Opfer. Ich stelle mir schon die Frage, inwieweit ich selbst verantwortlich bin. Hätte ich etwas tun können dagegen?», sagt er. Und? «Ich weiss es nicht. Vermutlich schon. Aber man gewöhnt sich, man arrangiert sich.»

Das Essen kommt, mein Blick verweilt auf unseren Tellern, den farblosen Wienerli, dem bleichen Kartoffelsalat. «Ich würde mir wünschen, ich könnte alles Drumherum ums Essen – dass es gut schmeckt, dass es mich tröstet, dass es mich aus meiner Langweile holt – wegnehmen. Und das Essen als das betrachten, was es ja ist: Kalorien, Nährwert. Treibstoff für den Körper.»

Wir beginnen zu essen, die Wienerli, den Kartoffelsalat, ein fades Mahl. Eisenhauer beachtet das Essen kaum, er erzählt, konzentriert, engagiert. Als Student wog er einmal eine ganze Zeit lang um die 70 Kilo, war schlank, fast schon drahtig, ging jeden Tag joggen. In dieser Zeit hatte er eine grosse Liebe, eine leidenschaftliche Beziehung, die jedoch in die Brüche ging.

Und dann ist er wieder dick geworden. Aus Selbstschutz? Grundkurs Psychologie, Kapitel eins: Liegt da vielleicht etwas ganz Tiefes hinter dem Schlingen und Stopfen? Schön wärs, sagt Eisenhauer. «Wenn du wenigstens komplizierte psychologische Prozesse für dich in Anspruch nehmen könntest, etwas Kafkaeskes, fast Nobles, wenn du einen Vater töten müsstest, den du in dir spürst, indem du dich selbst zu Tode frisst, irgend so was. Womöglich ist es aber nur Faulheit, Bequemlichkeit. Du bist nur jemand, der gar nicht mehr aufhören will zu essen und der diese Sabotage seiner selbst nicht verhindert. So ist es, wenn du echt abgewirtschaftet hast und dir nur noch das Essen einen Anschein von Glück beschert», schreibt er. Das ist so ehrlich, das tut fast weh. Auch beim Schreiben? «Das blubberte über. Das Buch wollte raus aus mir», sagt Eisenhauer. Sein Essen hat er kaum angerührt, es muss fast kalt sein mittlerweile.

Haben Sie keine Angst, dass Ihre Mutter das liest? «Meine Schwester hat es gelesen, sie fand es gut. Hat mir aber bei ein paar Stellen zu etwas mehr Diskretion geraten. Auch sie machte sich Sorgen, wie unsere Mutter reagieren würde. Aber erstens weiss unsere Mutter natürlich, dass ich übergewichtig bin. Und zweitens weiss sie, dass sich mein Leben nicht in meinem Übergewicht erschöpft», sagt er.

«Das Ächzen, mit dem mein Körper allmorgendlich das Aufwachen begrüsst, ist das widerstrebende Eingeständnis, dass die Erdenschwere mich wiederhat»

Eisenhauer war immer schon ein guter Esser, pummelig als Teenager, recht korpulent als junger Erwachsener. In sein Tagebuch schrieb er als 18-Jähriger, als er 99.5 Kilo wog: «Mein Selbstbewusstsein hat sich, glaube ich, gebessert, da ich inzwischen durch konsequentes und hartes Hungern sechs Kilogramm abgenommen habe. Ich habe wohl noch ein Doppelkinn, einen leichten Fettring an der Hüfte, einen deutlichen Bauch und starke Oberschenkel.» Mit 19 Jahren moderierte er den Abiturball als Conférencier. Nachdem er ein Video davon gesehen hatte, notierte er in seinem Tagebuch, er sei «ordentlich», also okay gewesen. «Wenn auch deutlich korpulent (man beachte die erste Nahaufnahme bei meinen Begrüssungsworten!), nervös und irgendwie auch seltsam und fremd.»

Fremd ist ihm sein Körper, diese «Schnittstelle zur Welt». Und fremd ist er auch in der Welt. Denn immer spürt er, «dass man aussen vor ist, dass man nicht so ganz dazugehört». Warum? Er denkt nach. «Viele Dicke neigen dazu, sich etwas zurückzunehmen. Die eigenen Interessen nicht zu stark zu artikulieren. Ich will nie als der dastehen, der für Reibereien verantwortlich ist», sagt er. «Man muss ein bisschen was dafür tun, damit man mehr ist als nur geduldet. Man muss das soziale Gleitmittel spielen. Oder den Entertainer. Diese Rolle habe ich ja nicht erfunden. Der Dicke als Entertainer, das ist ja ein Klischee, an dem viel Wahres ist.»

Hat das Anderssein auch Vorteile? «Vielleicht», sagt Eisenhauer. «Dieses Die-Dinge-ein-bisschen-anders-Sehen, von einer anderen Warte aus.» Wird man so zum besseren Journalisten? «Ich weiss nicht, ob besser oder nicht. Ich erinnere mich, dass Schauspielerin Diane Keaton in einem Interview zu mir sagte: ‹Oh, you are good at what you do. You are asking a different kind of questions.›» Kommt das vom Dicksein? «Nein, aber dieses Gefühl ‹Du gehörst nicht dazu› führt wahrscheinlich schon zu einer eigenen Perspektive. Dass sich bestimmte Reliefs von Situationen schärfer abbilden.»

Ich nehme noch Kaffee, er nicht, fast zwei Stunden reden wir nun schon. Für mich ist «der Dicke» schon lange verschwunden, einzig ein interessanter Gesprächspartner sitzt da mit mir am Tisch. Wir sprechen über Kafka, der seinen Vater zur Weissglut getrieben hat, weil er jeden Bissen 33 Mal kaute. Über die Fettakzeptanzbewegung in den USA und Modebloggerinnen, die wegen drei Kilo Nervenzusammenbrüche kriegen. Essen ist ein Diktator, der seine Knute schwingt, ist Autonomie, Leiden, Triumph, ein Kampfplatz. Und auch ein Reflex: Das Guetsli neben meinem Kaffee schmeckt wie Sägemehl, doch es verschwindet in meinem Mund.

Wir sprechen über die US-Autorin Lionel Shriver, Eisenhauer hat mit ihr ein Interview geführt, das auch in seinem Buch abgedruckt ist. Es ging um ihren Roman «Grosser Bruder», der von zwei Geschwistern handelt. Ein Mann frisst sich tot, und die jüngere Schwester muss hilflos zusehen. Der Roman hat einen erschreckenden Hintergrund: Auch Shrivers Bruder starb an seinem irrwitzigen Übergewicht, Shriver konnte nichts dagegen tun. «Da geht es nicht nur ums Essen. Es geht um ein Leben, das in Zeitlupe kollabiert. Das ist das Traurige – nicht das Gewicht», sagte Lionel Shriver. «Beim Lesen dachte ich: Diese Art Existenz führst du, wenn dein ganzes Leben aus den Fugen ist», schreibt Eisenhauer. «Das Essen und das Übergewicht sind nur ein Symptom.»

Auch er ist ein grosser Bruder. Auch er hat eine kleine Schwester, die ihm beständig in den Ohren liegt. Er müsse etwas unternehmen, es sei ein Punkt erreicht, an dem er handeln müsse, wenn er nicht vor seiner Zeit sterben wolle. Er stimmt dem zu. «Es ist nicht nur so, dass dein Körper dir zur Last wird. Das Leben selbst wird dir zur Last», schreibt er.

Im Januar hat er einen neuen Anlauf gestartet. Zum dritten Mal. Ein Lebensthema würden Diät und Gewicht für ihn bleiben, hat ihm die Therapeutin gesagt. Weil er ein Dicker ist.

Bertram Eisenhauer: «Weil ich ein Dicker bin, Szenen eines Lebensgefühls». C.-Bertelsmann-Verlag, München 2016, 336 Seiten, ca. 29 Franken