Kann man mit der Schriftstellerin auch über anderes als ihren jüngeren Bruder Christoph reden? Man muss sogar. Denn Judith Giovannelli-Blochers Leben ist ein überaus spannendes Stück Sitten- und Frauengeschichte.
«Sehen Sie da oben, meine Frau?», sagt Sergio Giovannelli (77). Und tatsächlich, im sechsten Stock des Wohnblocks bewegt sich eine Gestalt am Fenster: Judith Giovannelli-Blocher, weiss gelockt und mit ihren achtzig Jahren nicht mehr gut zu Fuss. Deshalb hat Ehemann Sergio die Reporterin vom Bahnhof in Biel abgeholt, was, wie er dieser unverblümt zu spüren gibt, nicht zu seinen Lieblingsaufgaben zählt. «Man hört, Sie pfeifen gern den Blondinen nach?», sagt die Reporterin, in der Hoffnung, den Charme des alten Herrn wachzukitzeln. Diese Information hat sie der Autobiografie seiner Frau entnommen, in der Judith Giovannelli-Blocher ihren Mann als einen vitalen und sinnesfreudigen Spontanmenschen schildert. «Falsch!», knurrt Sergio Giovannelli. «Ich pfeife allen Frauen nach. Nicht nur den blonden!» An der Tür übergibt er den Gast an seine Gattin.
Seit dem Erscheinen von Judith Giovannelli-Blochers Autobiografie ist mehr Unruhe im Haus, als dem Ehepaar lieb ist. Nicht alle Journalisten, die die gemütliche, teilweise mit Brockenhausmöbeln eingerichtete Stube der Giovannellis heimsuchen, machen sich die Mühe, das Buch vor dem Gespräch überhaupt zu lesen. Manche interessieren sich sowieso nur für das eine immer gleiche Thema: Christoph Blocher, der SVP-Politiker und acht Jahre jüngere Bruder von Judith, über den man von der so unterschiedlichen Schwester Privates und Pikantes zu erfahren hofft. Gibt Judith – eine Pionierin der Sozialarbeit, die lebenslang auf der Seite der Schwachen und vom Schicksal Gebeutelten stand – diesem Wunsch statt und äussert, wie es ihrer Natur entspricht, nicht ausschliesslich Schmeichelhaftes, so ruft das augenblicklich die Jünger ihres Bruders auf den Plan: Sie neide Christoph Blocher ja bloss seinen Glanz und wolle in seinem Kielwasser zu unverdientem Ruhm gelangen. Es ist also kompliziert. Unnötig zu erwähnen, dass auch wir an genanntem Thema nicht gänzlich uninteressiert sind. Doch dazu später mehr.
Judith Giovannelli-Blocher lässt sich am Esstisch nieder. Sie sei nun, so sagt sie, «vom autonomen ins fragile Alter» vorgerückt. «Jeder Tag wird kostbar.» Ihr Gesicht ist schief – Folge einer Operation, die ihren Gesichtsnerv beschädigt hat. Auch das Gehör macht nicht mehr richtig mit. Doch nach wie vor bewohnt den hinfällig gewordenen Körper ein höchst dynamischer Geist. Ihr autobiografisches Buch, das siebte, seit sie mit 67 Jahren ihre zweite Karriere als Schriftstellerin begonnen hat, ist mehr als die Rückschau einer 80-Jährigen. Es ist ein Stück Zeitgeschichte. Unsentimental und im besten Sinn schonungslos blickt Giovannelli-Blocher auf die Höhen und Tiefen ihres Lebens zurück, das – zumindest in der ersten Hälfte – von der Herkulesaufgabe geprägt war, als Frau in der Vor-Feminismus-Ära einen selbstbestimmten Weg zu finden und sich von den Prägungen des puritanischen Elternhauses zu befreien. Ganz nebenbei erfährt man dabei auch einiges Erhellende über ihren Bruder.
Lob gab es so gut wie nie
Wie ist es möglich, dass in ein und derselben Familie Kinder mit derart entgegengesetzten politischen Einstellungen herangewachsen sind? «Das ist nichts Besonderes», sagt Judith Giovannelli-Blocher. «Geschwister wollen sich eben voneinander unterscheiden.» Die Atmosphäre im elterlichen Pfarrhaus in Laufen am Rheinfall schildert sie als eine Art «Dampfkochtopf», in dem die nicht weniger als elf Kinder «mit überzüchtetem Gewissen und überforderten Gehirnen brüteten», von allen Seiten unter Druck durch kaum zu erfüllende moralische Ansprüche. Die Leute im Dorf meldeten sofort, wenn eines der Pfarrerskinder Kirschen gestohlen oder jemandem Schlötterlig angehängt hatte. Lob gab es so gut wie nie, was nicht nur am neurotischen Zwang des Vaters lag, an sich und anderen immer zuerst die Unzulänglichkeiten festzustellen, sondern auch am Zeitgeist, der propagierte, zu viel Ermutigung verleite die unfertige Kinderseele zu Hochmut und Eitelkeit. «Zu alledem kam auch noch Gott, der die ganze Zeit von oben zuschaute», sagt Giovannelli-Blocher. Jedes Familienmitglied habe sich ohne Unterlass schuldig gefühlt. Sie selbst wuchs in der festen Überzeugung heran, wegen ihrer schlechten Schulnoten «die Familienschande» zu sein.
Judith, ganz die pflichtbewusste älteste Tochter, ging der unentwegt schwangeren und stillenden Mutter zur Hand, und litt bald unter derselben chronischen Überforderung wie sie. Christoph entwickelte seine eigene Strategie, um dem Dampfkochtopf zu entkommen: Er hielt sich von früh bis spät auf dem benachbarten Bauernhof auf. Später setzte er sich mit Unterstützung von Judith gegen den Widerstand der Eltern durch und wurde Landwirt – bevor er dann doch noch Jus studierte. «Ein toller Kerli» sei er damals gewesen, sagt Judith Giovannelli-Blocher, die erst viel später wagte, die eigenen Wünsche zu verwirklichen.
Der Samen dazu war jedoch auch in ihr gesetzt. Denn Pfarrer Blocher war zwar fromm und konservativ, aber auch ein höchst widersprüchlicher und unkonventioneller Denker, ein Freigeist, der auf die Fragen seiner Kinder niemals in vorgefertigten Standardsätzen antwortete. Atheisten bezeichnete er als «mutige und meist interessante Leute». Den Kirschenklau seiner Sprösslinge mochte er nicht in die Kategorie «Sünde» einordnen, «denn eine wirkliche Sünde ist es, wenn der Mensch zu wenig liebt». Neben den hartherzigen Erziehungsmethoden gab er seinen Kindern einen regen Widerspruchsgeist mit auf den Weg, der alle elf stark geprägt hat. «Eines kommt in unserer Familie garantiert nicht vor: Langweiler», sagt Judith Giovannelli-Blocher. «Unmöglich. Bei dem Vater!»
«Ich reagierte wie die meisten Frauen: Ich fühlte mich schuldig»
Judith ist nicht das «weisse Schaf» der Familie Blocher, wie es fälschlicherweise zuweilen kolportiert wird. «Manche Leute glauben ja sogar, ich sei bloss aus Protest gegen meinen Bruder so sozial eingestellt. Völliger Blödsinn!» Auch andere Geschwister haben ein ausgeprägtes Mitgefühl für Schwache, allen voran die im Jahr 2002 verstorbene Sophie, die nach ihrer Pensionierung in Frenkendorf BL ein Haus für Obdachlose gründete.
Glaubt man Judith, so hat selbst Christoph trotz seines lautstarken Gezeters über Scheininvalide und Asylschmarotzer eine fürsorgliche Ader. Was geht in ihr vor, wenn sie seine Tiraden hört? Macht ihr das zu schaffen? «Wahnsinnig, wahnsinnig, wahnsinnig, wahnsinnig.» Herzweh bereite es ihr, wenn er andere Menschen oder Parteien verächtlich behandle, «so undemokratisch, so unschweizerisch». Am lautesten knallte es zwischen den beiden im Jahr 2006. Sie – einst Mitglied der regierungsrätlichen Härtefallkommission des Kantons Bern – engagierte sich gegen die Verschärfung des Ausländer und Asylgesetzes, das er in seiner Amtszeit als Bundesrat mit ausgearbeitet hatte. Familientreffen sind seither wie ein Tanz im Minenfeld. Trotzdem spricht Judith Giovannelli-Blocher auch voller Wärme über ihren gehassliebten Bruder, dem sie in jungen Jahren sehr nahe stand: «Ich habe diesen Menschen nicht abgeschrieben.» Sie erinnert sich an seine erste Session im Bundeshaus, 1979, als er, ein Nobody von noch nicht vierzig Jahren, von den Silberrücken des Nationalrats «einfach untergebuttert» wurde, weil die der Meinung waren, der Jungspund solle erst einmal die übliche Ochsentour absolvieren, bevor er das Maul aufreisst. Furchtbar sei das gewesen, sagt sie. «Ich bin überzeugt, darin liegt der Grund, warum er in die Opposition gegangen ist. Es war die einzige Rolle, die man ihm übrig liess.»
Es gibt in ihrem Buch einige Kapitel, die nicht in der Ich-Form geschrieben sind, sondern in der dritten Person, als wäre das, was geschildert wird, nicht ihr selbst passiert, sondern jemand anderem. Ein junges Mädchen sei einst «gestrauchelt», ist da an einer Stelle zu lesen, und habe «in die Abgründe hinter wohlanständigem bürgerlichem Gehabe» geblickt. Was ist damit gemeint? Judith Giovannelli-Blocher zögert. Es falle ihr noch immer schwer, darüber zu sprechen, sagt sie, um dann doch damit herauszurücken, was sich hinter den kryptischen Zeilen verbirgt: Mit knapp 17 Jahren wurde sie von einem viel älteren Mann, einem Freund der Familie und respektablen Mitglied der Kirchenpflege, vergewaltigt. «Ich habe reagiert wie die meisten Frauen in dieser Situation: Ich fühlte mich schuldig.»
Nach der Tat lebte sie über zwei Jahrzehnte lang wie eine Nonne, überzeugt, ihr Leben lang ledig zu bleiben. Sie wurde Sozialarbeiterin, weil man ihr sagte, das könne sie doch so gut: für andere da sein. Ging auf in dem Gefühl, gebraucht zu werden, das in Wirklichkeit doch bloss ein Ersatz für die eigenen Ambitionen war. Sie betreute hilfsbedürftige Alte, Prostituierte, Sonderlinge und Originale, kleine Gauner und unterprivilegierte Familien. Später wurde sie Dozentin, Supervisorin und eine charismatische Vortragsrednerin, gab Kurse zur Vorbereitung der Pensionierung, machte Standortbestimmungen für Frauen in der Lebensmitte, präsidierte die Sozialkommission der Schweizerischen Krebsliga. Eine beeindruckende Karriere, aber nicht die, die ihr entsprochen hätte. «Journalistin hätte ich werden sollen. Oder Dokumentarfilmerin. Denn eigentlich bin ich eher eine Beobachterin als eine Macherin», sagt Judith Giovannelli-Blocher, und Ärger über die verpassten Chancen ist ihr noch immer anzumerken.
Bis zum vierzigsten Altersjahr hatte sie keine Ahnung, «wie das Leben geht». Nach der Arbeit sass sie stets einsam im stillen Kämmerlein. Obwohl alles andere als ein Mauerblümchen, hüllte sie sich in hochgeschlossene Costumes à la Fräulein Rottenmeier, um potenzielle Verehrer abzuschrecken. «Es lag nicht nur an der Vergewaltigung», sagt sie. «Es lag auch an der Erziehung.» Nicht sexualitätsfeindlich, aber sexualitätsfern sei es im Hause Blocher zugegangen. Heimlich blätterte sie manchmal in der annabelle eines Dienstmädchens, wo die Frauen – wie unerhört! – schön sein durften. Judith dagegen wurde als junges Mädchen mit den Worten «Schämst du dich nicht, so aufgetakelt bei Tisch zu erscheinen!» aus dem Raum gewiesen, als sie es einmal wagte, nach dem Haarewaschen eine Hochsteckfrisur auszuprobieren.
Elf Jahre Psychotherapie waren notwendig, um sich vom eisernen Korsett des Puritanismus zu befreien. «Dabei steckt doch eigentlich eine Italienerin in mir.» Als Anfang der Siebzigerjahre endlich erste Therapieerfolge spürbar waren, riss ausgerechnet der Staatsfeind Nummer eins das Bollwerk ihrer Tugendhaftigkeit nieder: Konrad Farner, sozialistischer Intellektueller, berüchtigter Womanizer und prominentestes Opfer der Kommunistenhatz in der Schweiz. Ein Jahr lang schrieb ihr der verheiratete Mann täglich einen Liebesbrief, bis ihn Judith Giovannelli-Blocher unter entsetzlichen Gewissensqualen endlich erhörte – da war sie 39 Jahre alt.
Auf der Zugfahrt zu ihm in die Toscana, wo Farner im Kreis illustrer marxistischer Denker einige Sommerwochen verbrachte, erschien ihr ihr Couchette wie der Rost, auf dem sie über dem Höllenfeuer brutzelte. Drei Jahre später starb der 25 Jahre ältere Farner, doch Judith Giovannelli-Blocher fiel nicht zurück in die alte Einsamkeit, sondern lernte auf einer Studienreise nach Auschwitz ihren Mann Sergio kennen. Der italienische Emigrant und stolze Arbeiter stammte aus La Spezia in Ligurien, einer Gegend, in der «sogar die Olivenbäume rot waren». Wie sie selbst hat sich Sergio im Lauf seines Lebens ein breites Wissen angelesen, ohne jemals eine Universität zu besuchen. 32 Jahre sind die beiden inzwischen verheiratet.
Gestritten wird mit Vorliebe über Israel
Seit geraumer Zeit schon schweben Essensgerüche durch den Raum. Sergio steckt den Kopf zur Tür herein. «Wie lange geht das denn noch?», grantelt er. «Eine Viertelstunde», antwortet Judith Giovannelli-Blocher. «Sehen Sie? So ist Sergio!», flüstert sie, als er wieder in der Küche verschwunden ist. «Immer ehrlich und geradeheraus und nicht so furchtbar gut erzogen wie ich.» Nachher dürfe sie sich wieder ein Donnerwetter anhören, weil sie so lange rede und er deswegen mit dem Essen warten müsse. Wehe, wenn wir um halb eins nicht fertig seien. «Und wissen Sie was? Ich mag das sehr an ihm. Man weiss immer genau, woran man ist.»
Die Ehegatten, beide einst aktive Mitglieder der Friedensbewegung, sind sich in herzlichem Zank verbunden. Gestritten wird mit besonderer Vorliebe über Israels Umgang mit den Palästinensern (er: pro Palästinenser; sie: eigentlich auch), über die Existenz von Gott (er bei jeder Naturkatastrophe: «Na, wo ist er jetzt, dein Gott?») und über den Gartenzwerg auf dem Balkon (er: «Herzig!»; sie: «Sobald du wegschaust, schmeiss ich ihn in den Abfall!»). Beunruhigend ist das nicht, denn auf den Sturm folgt stets die gloriose Versöhnung. «Wir finden uns immer interessant, und wir haben uns immer etwas zu sagen», fasst Judith Giovannelli-Blocher ihre glückliche Ehe zusammen.
Zwei Minuten nach halb eins, höchste Zeit für letzte Fragen. Frau Giovannelli-Blocher, haben Sie Angst vor dem Tod? «Nein», sagt sie, «Lebensfreude und Todesakzeptanz gehören nach meiner Erfahrung zusammen.» An der Wohnungstür ist nun wütendes Schlüsselklappern zu hören, das in heftiges Türeknallen übergeht. «Ui», sagt Judith Giovannelli-Blocher, «jetzt ist der Sergio wohl gegangen.» Ist das schlimm? «I wo», sagt sie, «der beruhigt sich schon wieder. So ist das eben bei uns.» Die Reporterin, die lieber nicht riskieren möchte, Zeugin des bevorstehenden Ehe-Hurricans zu werden, tritt rasch und geordnet den Rückzug an.
Judith Giovannelli-Blocher: Der rote Faden. Die Geschichte meines Lebens.
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2012, 248 Seiten, ca. 28 Franken
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Auch Sergio Giovannelli hat seine Autobiografie verfasst: Va’ pensiero. Geschichte eines Fremdarbeiters aus Ligurien.
Edition 8, Zürich 2008, 296 Seiten, ca. 36 Franken
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1.
«Lebensfreude und Todesakzeptanz gehören nach meiner Erfahrung zusammen»: Judith Giovannelli- Blocher auf dem Balkon ihrer Wohnung in Biel
2.
1979: Sergio und Judith Giovannelli- Blocher im Jahr vor ihrer Hochzeit
3.
1937 mit Zöpfchen und Blumenkranz
4.
1944 als 12-jährige Schülerin
5.
Familie Blocher 1949: Judith (2. v. l.) ist das zweitälteste von elf Kindern