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Das letzte Interview mit der Ballettlegende Maija Plissezkaja

Das letzte Interview mit der Ballettlegende Maija Plissezkaja

  • Text: Barbara Loop; Foto: Tanja Kernweiss

Am 2. Mai 2015 ist die russische Ballettlegende im Alter von 89 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Wir hatten das Glück, Maija Plissezkaja kurz vor ihrem Tod in München kennen lernen zu dürfen. Das letzte Interview mit einer Frau, die nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Leben Haltung bewies.

Am Ende dieses Nachmittags wird Maija Plissezkaja der Reporterin die Hand auf den Arm legen, ihr in die Augen schauen und sagen: «Fassen Sie sich kurz! Schreiben Sie nur das Interessanteste.» Leichter gesagt als getan. Denn das Leben der bald neunzigjährigen Ballett-Ikone hat das dramaturgische Format eines Dostojewski-Romans.

Maija Plissezkaja ist eine Primaballerina assoluta, eine der absolut grössten Balletttänzerinnen ihrer Zeit. Fünfzig Jahre lang stand sie auf der Bühne des Bolschoi-Theaters in Moskau. Berühmt für ihre hohen Sprünge und ihre Perfektion, vor allem aber für die Ausdruckskraft, mit der sie selbst gestandene Männer zum Weinen brachte.

Der «Sterbende Schwan» war Maija Plissezkajas Paraderolle. Sie hat das Solo Tausende Male getanzt, allein die Filmaufnahmen davon verursachen Gänsehaut: Auf der verdunkelten Bühne ist erst nur der Tüll des Tutu zu erkennen. Mit dem Rücken zum Saal tanzt Maija Plissezkaja auf den Fussspitzen dem Publikum entgegen. Sie scheint zu schweben, wird grösser und grösser. Ihre Arme heben und senken sich – so sanft, als wären da keine Gelenke, gerade so wie der Flügelschlag eines Schwans, der sich ein letztes Mal aufbäumt.

Heute lebt die Ballett-Legende mit ihrem Mann, dem Komponisten Rodion Schtschedrin (82), in München. Das Paar kommt gerade von einem Mittagessen mit Freunden. Kaum durch die Haustür, verschwindet Maija Plissezkaja im Badezimmer, um sich für das Foto zurechtzumachen, ihr Mann ruft derweil aus der Küche: «Mutige Frauen trinken!» Mit kehligem Lachen erscheint er im Wohnzimmer, eine Flasche Wein in der einen, eine Flasche Grappa in der anderen Hand.

Im hohen Alter ist Maija Plissezkaja noch immer eine Schönheit: das lange Haar im Nacken gebunden, die Augen schwarz umrandet, eine Haut wie Seidenpapier. Den Gruyère und die in Honig eingelegten Trauben aus Armenien, die ihr Mann aufgetischt hat, rührt Maija Plissezkaja nicht an. Später wird er den Wein aus ihrem Glas in seines schütten.

Am Abend zuvor, erzählt sie, habe sie im Fernsehen eine Folge einer russischen Serie über die Stalinzeit gesehen. «Aber was die da zeigen, ist nicht wahr. Alle hatten Angst vor Stalin», sie reisst die Arme in die Höhe und schlägt sie über der Brust zusammen: «Das Herz stand still, wenn man in seiner Nähe war.»

Maija Plissezkaja hatte allen Grund, sich vor Stalin zu fürchten. Sie war elf Jahre alt, als seine Schergen ihren Vater abführten; einer von abertausend angeblichen Volksfeinden. Kurz darauf wurde auch ihre Mutter verhaftet und zusammen mit dem neugeborenen Sohn in einem Viehtransporter ins Arbeitslager nach Sibirien gebracht. Mutter und Bruder überlebten, ihr Vater wurde hingerichtet. Maija Plissezkaja selber kam bei ihrer Tante unter, einer Tänzerin und Choreografin. Mit acht Jahren begann sie die Ausbildung an der Moskauer Staatsakademie für Choreografie, neun Jahre später trat sie dem Ensemble des Bolschoi-Theaters bei. Maija Plissezkaja wurde – welche Ironie! – zum Symbol der Stärke und Erhabenheit der Sowjetunion.

Stalin habe die Oper geliebt, erzählt sie. Einmal, in der Rolle eines Schwertfischs, habe sie ein spitzes Horn auf dem Kopf getragen, mit dem sie bei jedem Sprung in eine bestimmte Richtung zustechen sollte. «Zack, zack, zack.» Mitten im Stück habe sie realisiert, dass der nächste Stoss genau in die Richtung der Zarenloge zeigen würde, wo Stalin, der Mörder ihres Vaters, sass. «Ich zögerte eine halbe Sekunde, dann sprang ich und stiess das Horn senkrecht nach oben. Es war undenkbar, auf ihn zu zeigen.»

Maija Plissezkaja spricht russisch, ein Dolmetscher übersetzt. Wenn sie etwas unterstreichen will, fügt sie ein paar Brocken auf Englisch hinzu. Ihre Hände und ihr Gesicht sprechen eine Sprache, die jeder versteht.

Als «Tochter eines Volksfeindes» blieben ihr Tourneen im Ausland lange verwehrt. Nicht exportierbar, hiess es, Fluchtgefahr. Man hielt sie gar für eine Spionin. Erst 1959, mit 34 Jahren, in einem Alter, in dem andere schon nicht mehr tanzen, durfte sie erstmals im Westen auftreten. Der Ehemann zuhause war das Pfand, das ihre Rückkehr garantierte. Dass Maija Plissezkaja so spät mit ausländischem Ballett in Kontakt kam, war mit ein Grund für ihre lange Karriere. Zu ihrem 70. Geburtstag schrieb Maurice Béjart die Choreografie «Ave Maya». Sie tanzte das Stück zum letzten Mal in Athen – mit 85.

Amerika, erzählt sie, das Ziel ihrer ersten Auslandreise mit dem Bolschoi-Theater, war ein Schock. «Ich dachte, dass die Menschen dort Hunger leiden.» Stattdessen wurden sie am New Yorker Flughafen von einer jubelnden Menge empfangen. «Und dann waren da all die Geschäfte. Einer aus unserer Truppe ist durchgedreht, als wir ein Warenhaus besuchten», erzählt sie. «Wir mussten ihn ins Irrenhaus bringen.»

Schönheit, Intelligenz, Unerschrockenheit

Maija Plissezkaja weiss um gute Pointen, und sie ist schonungslos direkt. Fragen, die ihr zu oft gestellt worden sind, ignoriert sie, Anekdoten erzählt sie kein zweites Mal. Der russische Dichter Puschkin, sagt sie, habe die ganze Wahrheit in drei Worte fassen können. Drei Worte für Maija Plissezkaja? Schönheit, Intelligenz, Unerschrockenheit. Aber da ist noch viel mehr: diese Aura, der Glamour, der Witz und diese absolute Haltung, die sie nicht nur auf der Bühne bewies.

Zwei Autobiografien hat Maija Plissezkaja veröffentlicht. Sie stellt darin den KGB bloss, diese «furchtbare, gesichtslose Tarantula», prangert die Doppelbödigkeit der Parteibonzen an, nennt «Schurken, Blutsauger, Vollstrecker» beim Namen, aber auch diejenigen, die ihr geholfen haben. Die Wohnung, die nur ein paar Minuten von der Bayerischen Staatsoper entfernt liegt, ist spärlich eingerichtet. Ein riesiger Flachbildschirm, ein Bücherregal, auf dem Sofa liegt eine Bratsche. Nur der kleine Konzertflügel ist überstellt mit weissen Lilien, Pfingstrosen und gerahmten Fotografien. Maija Plissezkaja zieht eine russische Ausgabe ihrer ersten Autobiografie aus dem Regal und blättert durch die Fotos, auf denen sie mit den Berühmtheiten der Welt lächelt. «Frank Sinatra, John F. Kennedy, Jack Lemon, Juan Carlos, Richard Avedon, Gregory Peck, Elizabeth Taylor und …», sie hält einen Moment inne: «Schtschedrin.» Das Bild zeigt ein schönes junges Paar beim Spazieren. Sie wirft ihrem Mann einen liebevollen Blick zu. «Das erste Foto von uns beiden.»

Die Zusammenarbeit mit ausländischen Choreografen wie Roland Petit oder Maurice Béjart in den Sechzigerjahren kam beim Regime nicht gut an. «In der Sowjetunion hatte man vor allem Angst, das neu war.» Was im Ausland ein Erfolg war – wie die «Carmen Suite», zu der ihr Mann die Musik geschrieben hatte –, sorgte in der Heimat für Skandale. Der internationale Durchbruch jedoch bescherte Maija Plissezkaja Freundschaften mit den Grossen der Modezunft, Coco Chanel etwa oder Pierre Cardin, der Kostüme für sie entwarf, genauso wie Yves Saint Laurent.

Anfang der Siebzigerjahre habe sie ein sowjetischer TV-Regisseur gefragt, ob sie ihre Garderobe für eine Modeschau zur Verfügung stellen würde, die er im Studio aufzeichnete und im Staatsfernsehen zeigen wollte. Maija Plissezkaja gab ihre Kleider und war auch gleich das einzige Model. «Ich trug meine Kleider von Cardin und die Costumes von Chanel …» – «Wie ein kleiner Soldat hast du ausgesehen!», unterbricht Rodion Schtschedrin lachend. «Ja, und der Regisseur hatte tatsächlich geglaubt, dass er für den Silvester eine Sendeerlaubnis bekommen würde», sagt Maija Plissezkaja – natürlich wurde die Sendung nie ausgestrahlt. Westliche Designerstücke am TV zu präsentieren, war zu Sowjetzeiten ausgeschlossen. Von ihren Auslandreisen ist Maija Plissezkaja immer wieder zurückgekehrt. Wegen Rodion Schtschedrin, ihrer grossen Liebe, aber auch, weil sie den KGB selbst im Ausland noch fürchtete und weil diejenigen, die ihr jahrelang misstrauten, nicht Recht bekommen sollten.

Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist das Paar nach München gezogen. «Mein Mann kann hier arbeiten, ausserdem gibt es in München die besten Ärzte.» Maija Plissezkaja zeigt auf ihre Knie, die Füsse, die Oberschenkel, die Schultern, den Rücken. «An mir ist alles operiert, ausser das hier», sie tippt sich auf die Nasenspitze.

— Ich, Maija. Die Primaballerina des Bolschoi-Theaters erzählt aus ihrem Leben. Verlag Lübbe, 2006, erhältlich bei Schott Music.
— Haltung bewahren. Zornige Aufzeichnungen einer Primaballerina Assoluta. Verlag Schott, 2009, ca. 26 Franken