Leben
Eine Begegnung mit New Yorker Topmodel Barbara Mullen: «Wir waren jung, dünn und hatten verdammt viel Glück»
- Text: Jacqueline Krause-Blouin
- Bilder: Marvin Zilm
Sie kam von ganz unten und wurde zum Topmodel. Dann traf die New Yorkerin diesen Skilehrer in Klosters – und blieb. Vergangene Woche ist die Amerikanerin gestorben. Unsere Editor-at-large Jacqueline Krause-Blouin besuchte Barbara Mullen 2016 in ihrer Wohnung in Zürich. Die Begegnung aus dem Archiv.
Dieser Artikel ist erstmalig im Februar 2016 erschienen.
«Schon 13 Uhr? Zeit für Weisswein!» Wir sind noch nicht einmal über die Türschwelle getreten, da blitzen sie uns schon herausfordernd an, die kugelrunden Augen, irgendwie kindlich. Und der Hals reckt sich in die Höhe, grazil und damenhaft. Das unscheinbare Haus an der Üetlibergstrasse in Zürich scheint nicht so richtig angemessen. Charmant ist es, ja, aber stellt man sie sich nicht eher in einer glamourösen Residenz, Liz-Taylor-like, oder in einer verlassenen Dachwohnung im Kerzenschein à la Bardot vor?
Dennoch, hier wohnt sie – das etwas andere Model der Fünfziger, Muse von Lillian Bassman und Showroom-Mädchen der ersten Stunde von Christian Dior: Barbara Mullen, 87 Jahre alt. Nach einem kräftigen Händedruck geleiten sie und ihr Mann Freddie uns ins üppig dekorierte Wohnzimmer.
Mullen setzt sich und ist kaum noch zu sehen inmitten all der Rüschenkissen. «Na, müssen Sie noch meine Geschichte erzählen, bevor ich abkratze?», fragt sie und lacht selbst am lautesten. «Wer will denn so was hören?»
Ein Kind der Unterschicht
Alle wollen das. In dieser kleinen Dreizimmerwohnung am Hang residiert schliesslich Modegeschichte. Dabei hatte Mullen gar nicht vorgehabt, Model zu werden. Sie war ein Kind der Unterschicht, aus Harlem, New York. Zufällig ergatterte sie einen Job bei Bergdorf Goodman, dem wichtigsten Warenhaus der Stadt, wo sie reichen Kundinnen teure Kleider präsentieren durfte. Manche wurden ihr gar auf den Leib geschneidert.
Mullen hatte da schon niemanden mehr – ihre Mutter, alleinerziehend, verschwand spurlos, da war sie gerade 17. «Sie wollte am Weihnachtstag einen Christbaum holen», sagt Mullen fast beiläufig. «Doch wiedergekehrt ist sie nie mehr, man glaubt, sie sei verbrannt.» Tatsächlich hatte es an jenem Tag gebrannt in Harlem. Ob ihre Mutter dort aber wirklich umgekommen ist, weiss niemand mit Sicherheit.
«Tja, meine Taille war nicht ohne!»
Doch er kam, Mullens Cinderella-Moment: Eines Tages im Jahr 1947 rief die «Vogue» bei Bergdorf Goodman an; ein Kleid des Warenhauses musste dringend fotografiert werden, aber es passte keinem Model, und Mullens winzige Taille, auf deren Masse es angepasst worden war, musste her.
So fand sich die rothaarige Warenhausbeauty plötzlich auf einem flaschengrünen Plüschsofa wieder, absolut ahnungslos, was als Fotomodell von einem erwartet würde – das allererste professionelle Foto der damals 19-Jährigen landete auf den Hochglanzseiten der US-«Vogue», über ihr der Slogan «The new beauty is part attitude».
«Vogue» zahlte 12 Dollar die Stunde
«Tja, meine Taille war nicht ohne!», sagt Barbara Mullen vom Zürcher Sofa aus und nippt am Weisswein. «Aber Taillen konnten nie schmal genug sein, wir trugen ständig Taillenmieder.» Sie unterschrieb einen Vertrag bei der renommierten Modelagentur Ford Models und wurde jeden Tag gebucht. «Wissen Sie, damals wusste noch niemand, was eine Modelagentur eigentlich sein soll. Die Leute dachten, Ford Models sei ein Bordell!»
Der junge Richard Avedon, den Mullen nur Dick nennt, rief an. Norman Parkinson und Horst P. Horst. «Harper’s Bazaar», «Vogue», «Elle». Nichts Besonderes für das ziemlich ahnungslose Mädchen von damals. «Wir waren jung, dünn und hatten verdammt viel Glück», sagt sie heute. Das junge Model rief morgens bei ihrer Agentin Eileen Ford an, schrieb sich die Adressen in ihr Notizbuch und tauchte im Studio auf. «Vogue» zahlte 12 Dollar die Stunde, «Harper’s Bazaar» 15.
Alles andere als gut erzogen
Im Warenhaus bei Bergdorf Goodman hatte Mullen 25 Dollar verdient – pro Woche. «Dick Avedon war mein liebster Fotograf, er war lustig. Aber ich muss sagen, er sah nicht besonders gut aus, er war nicht gross und ich nicht sehr beeindruckt von ihm», sagt sie trocken über den wohl wichtigsten Fotografen der Modehistorie. Barb, so wurde das Model mit dem losen Mundwerk damals genannt. «Sie war alles andere als gut erzogen und fluchte sehr viel», liess Modefotograf William Klein einmal über Mullen verlauten.
Auch heute, als wir zusammen ihre alten Bilder anschauen, spürt man, wie es Mullen noch immer leicht irritiert, dass sich überhaupt irgendjemand für sie interessiert. Nein, in der heutigen Zeit wäre sie kein Insta-Girl mit aufgeblasenem Ego – Zurückhaltung im Modelbiz hat sich mit den Jahren offenbar umgekehrt proportional zur wachsenden Selbstpromotion entwickelt.
«Wir schämten uns dafür, Model zu sein»
1947 war Model kein begehrter Beruf, im Gegenteil. «Wissen Sie, die Bezahlung war fantastisch. Aber niemand von uns sprach darüber, Model zu sein – wir schämten uns dafür, weil man nicht besonders schlau sein musste und keine College-Ausbildung brauchte», sagt Mullen und blättert durch eine alte «Harper’s Bazaar»-Ausgabe. «Ausserdem war ich alles andere als eine Schönheit.»
Wie bitte? Die Muse der einst angesagtesten Fotografen der Welt geplagt von Minderwertigkeitskomplexen? «Auf der Strasse schaute mich kein Typ zweimal an!», sagt sie. «Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen Fotogenität und Schönheit. Ich war nie ein schönes Mädchen.» Freddie, ihr Schweizer Mann, schüttelt amüsiert den Kopf und beobachtet seine Barbara. So, als könnte er es selbst nicht glauben, dass diese Frau, seine Frau, einmal ein solches Leben geführt hat.
Um 17 Uhr gings zurück an den Herd
Freddie lebte damals noch in Klosters und gab jeden Tag Skiunterricht – derweil Barbara sich in New York in Jim Punderford, ihren ersten Ehemann, verliebte. «Ein hervorragender Polospieler!», wie sie noch mehrmals betonen wird. Man verlobte sich, heiratete und kaufte ein kleines Haus auf Long Island. Die Shootings waren stets um 17 Uhr zu Ende, damit die Ladys zurück an den Herd konnten, um für ihre Männer Abendessen zu kochen.
«Ich verdiente zwar 100-mal mehr als mein Mann, aber das war nie Thema», sagt sie. «Dann hätte er sich ja schlecht gefühlt – der arme Kerl hat so hart gearbeitet, da sollte er sich doch wenigstens wie ein Mann fühlen. Auch heute ist das noch schwer, wenn die Frau mehr verdient, das ist gefährlich», sagt sie und schenkt Wein nach.
«Menschen, die man liebt, sterben nie ganz»
Eines Tags sagte Jim, ihr Mann, exakt den gleichen Satz dreimal nacheinander. Das war der Tag, an dem bei ihm ein Gehirntumor diagnostiziert wurde. Und der Tag, von dem an Barbara Mullen nur noch für die Begleichung der Spitalrechnungen arbeitete. «Ich musste gut sein. Ich wollte, dass Jim ein Einzelzimmer hat.» Weniger später starb er, Barbara Mullen war 27 Jahre alt – und wieder einmal auf sich allein gestellt. Aber sich selbst zu bemitleiden, kommt nicht in Frage. «Für ihn war es schlimm, nicht für mich. Er wollte mich ja nicht allein lassen», sagt sie. Und: «Ich vermisse ihn jeden Tag. Menschen, die man liebt, sterben nie ganz.»
Freddie nickt und schaut lächelnd die alten Fotos seiner jungen Frau an. Als er sie im Badeanzug sieht, grinst er breit. Gerüchten zufolge soll Mullen nach dem Tod ihres Mannes Halt bei Jerry Ford, dem Mann ihrer Modelagentin, gesucht haben. Aber darüber spricht sie nicht. Nur so viel: «Diese Zeit ist voller Geheimnisse. Mein Jim war ein toller Mann. Und ein hervorragender Polospieler.»
Auf nach Paris
Barbara Mullen wollte weg aus New York, sie ging mit ihrer neuen Agentin nach Paris, wo diese eine Agentur eröffnet hatte. Die Kollektionen wurden zwar stets in Paris gezeigt, und viele Designer waren vor Ort ansässig, aber die Models wurden damals noch aus Amerika eingeflogen. Barbara Mullen zieht ein Foto aus dem Stapel auf dem Wohnzimmertisch, es ist ein Bild aus «Harper’s Bazaar». «Grosser Gott, das bin ich in Dehli! Oh Barb, gar nicht schlecht, Barb!»
Sie richtet sich auf und klemmt sich ein Rüschenkissen hinter den Rücken. «Norman Parkinson, der Verrückte, wollte mich im Badeanzug in Indien fotografieren. Ich sagte zu ihm: Norman, jetzt denk doch mal nach! Du kannst mich doch nicht in einem Badeanzug vor dem Taj Mahal fotografieren. Da werde ich ja gesteinigt! Ich schlug ihm also vor, mit einem Boot aufs Gewässer vor dem Taj Mahal zu fahren – von da aus hätten mich die Steine nicht treffen können. Er hatte nur ein paar Sekunden für das Foto. Verrückter Kerl!»
Auch eine Frau fand Gefallen an ihr. Die erfolgreiche Lillian Bassman machte sie zu ihrer Muse, Mullen ist der Star ihres Gesamtwerks. «Lilian war zauberhaft, unsere Chemie stimmte einfach. Sie mochte mich, weil ich kein feines Mädchen war und weil ich mich bewegen konnte. Sie sagte immer nur ‹Bleib so, bleib so!›.»
New York, Paris – Barbara Mullen fand überall schnell Freunde und war in der Partyszene berüchtigt, Partys mit Audrey Hepburn oder Greta Garbo waren keine Seltenheit. «Meine Agentin sagte eines Tages: ‹Barbara, deine Augenringe reichen bis zum Boden! Du musst nach Klosters›.» Gesagt, getan – eine Detoxkur, bevor das Wort überhaupt existierte.
An Detox war nicht zu denken
Klosters war damals sehr angesagt, viele Künstler und Berühmtheiten trafen sich im Schweizer Alpendörfchen. An Detox war also nicht zu denken. «Ich lernte Après-Skifahren!», sagt Mullen. Und Freddies glückliche Stunde kam. Heute lächelt er leise, wenn er an die Zeit zurückdenkt.
«Mein Vater, ebenfalls Skilehrer, hatte mich beim Abendessen gebeten, am nächsten Tag diese Kundin, diese seltsame Amerikanerin, zu übernehmen. Verrückt sei sie, sie wolle nicht Skifahren lernen, sondern mit einem Lehrer im Schnee spielen», erinnert sich Freddie und prustet los. Mullen unterbricht ihn. «Ich wollte den ältesten und hässlichsten Skilehrer von Klosters, aber stattdessen kam Freddie, dieser heisse Adonis! Da wusste ich, es ist vorbei mit mir!»
«annabelle war das beste Magazin der Schweiz»
Sie blieb bei ihrem zwölf Jahre jüngeren Skilehrer in Klosters – lange, sehr lange. Es wird geheiratet, und sie eröffnet ihre Designerboutique Barbara’s Bazar. Hie und da modelt sie noch, zum Beispiel für annabelle. «annabelle war das beste Magazin der Schweiz, die damalige Chefredaktorin Eva Maria Bohrer hat sehr viel für die Schweizer Frau getan.»
Heute posiert Barbara Mullen noch einmal für annabelle, und sie tut dies mit der Grazie einer Ballerina, und mit dem schelmischen Charme einer Lauren Bacall zu ihren besten Zeiten. «Schauen Sie in die Kamera», gibt unser Fotograf Anweisung. «Aber Darling, ich schaue lieber in Ihre Augen!», schiesst sie zurück. Und als er ein Glas Weisswein ablehnt, fragt sie prompt: «Achtest du auf deine Figur, Schätzchen? Ich jedenfalls achte sehr auf deine Figur!» Gelernt ist eben gelernt.
«Ich hasse das Älterwerden»
Mullen ist ein Relikt aus jener Zeit, in der Models und Schauspielerinnen noch Persönlichkeiten haben durften. Es ist eine Freude, ihr zuzusehen, so agil und lebendig – selbst wenn sie sagt, dass ihr ständig alles weh tue. «Ich zwicke mich jeden Morgen, um festzustellen, ob ich noch lebe», sagt sie. «Ich hasse das Älterwerden. Nicht, weil ich beschissen aussehe, sondern weil ich für immer bleiben möchte.»
Wenn sie lacht, kokettiert und diesen berühmten Hals in die Höhe reckt, dann ist sie nicht 87, sondern wieder 25. Und wir sind nicht an der Üetlibergstrasse, sondern an der Madison Avenue. Und unter dem Vorhang der alten Kamera, die unser Fotograf mitgebracht hat, versteckt sich nicht er, sondern Richard Avedon. Oh, Barbara – wie machen Sie das nur? «Das Geheimnis ist, weiter zu trinken. Und zu tanzen.»