Okay, wir haben uns mittlerweile damit abgefunden, im Epizentrum geschichtsträchtiger Ereignisse zu stehen. Und im Sog dieser Einsicht wird ganz besonders eine neuerwachte Solidarität zelebriert, die Solidarität mit Alten, Kranken und vor allem mit Pflegenden; und auch ich habe mich aus dem Fenster gelehnt und kräftig geklatscht, um dem Pflegepersonal in den Spitälern zu danken, in dessen Händen, jetzt, im Sturm der Pandemie, das Schicksal unseres Gesundheitssystems liegt.
Doch noch während ich klatschte, beschlich mich das Gefühl, mich einem romantischen Akt hinzugeben, der im Prinzip an Naivität kaum zu überbieten ist. Denn erkennen wir tatsächlich erst jetzt, wie fürsorgeabhängig wir sind? Fürsorge, ich weiss, wird gern mit mütterlicher Hingabe, meistens aber mit Sozialmief gleichgesetzt. Doch bedeutet Fürsorge im Grund nichts anderes als die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse. Grundbedürfnisse wie Pflege, Nahrung und Sauberkeit. Die Qualität dieser Fürsorge bestimmt das Leben jedes Einzelnen sowie die Stabilität des gesellschaftlichen Kitts. Totally basic, könnte man nun sagen, doch ehrlich: Wer von uns hat das Wissen darum im täglichen Strudel von Deadlines und Work LifeBalance nicht längst verdrängt oder die Erfüllung dieser Bedürfnisse als selbstverständlich erachtet?
Und nun lässt uns Corona nackt dastehen, lässt uns als Lendenschurz nur noch das Toilettenpapier und führt uns damit die Abhängigkeiten vor Augen: Jetzt, da es darum geht, die Gesellschaft am Laufen zu halten, dominieren nicht mehr Konzernchefs oder Influencerinnen die öffentliche Wahrnehmung, sondern eben die Pflegenden in den Spitälern, das immer-wieder-die-Regale-auffüllende Verkaufspersonal in Lebensmittelgeschäften, die Disponenten in den Warenlagern der Grossverteiler, die Transporteure, die Müllmänner, und ganz besonders auch die Mütter (und Väter), die Homeschooling, Haus und Familienarbeit unter einen Hut bringen müssen. Alles fürsorgerische Tätigkeiten, notabene, die zwar mit dem Label «systemrelevant» versehen sind, aber dennoch ganz unten stehen in der Status und Einkommensskala – oder, wie die Haus und Familienarbeit, gar nicht erst bezahlt werden. Soll der solidarische Applaus also nicht verpuffen, sobald diese Krise ausgestanden sein wird, ist es nicht mit Klatschen getan. Es braucht bessere Löhne und Arbeitsbedingen, gerade im Gesundheitswesen, aber mehr noch: Sichtbarkeit der Menschen in Fürsorgeberufen. So könnten etwa Verkäuferinnen oder Intensivpflegende regelmässig in TVSendungen wie der «Arena» oder dem «Club» zu Gast sein und am WEF mit CEOs auf Augenhöhe darüber reden, was sie für die Bevölkerung tun. Es gilt, einem Denken und Handeln zum Durchbruch zu verhelfen, das sich weniger um Gewinnmaximierung als um unser aller Fürsorgeabhängigkeit dreht. Übrigens, die Schweizer Armee machts bereits vor: In der grössten Mobilmachung seit dem Zweiten Weltkrieg kommen nicht, wie es sich wohl mancher Militärangehörige vorgestellt hätte, Sturmgewehre zum Einsatz – sondern Beatmungsgeräte.