Leben
«BDSM ist ein Spiel der Sinne»
- Interview: Leandra Nef; Foto: GettyImages, Privat / Piper Verlag
BDSM muss kein Fetisch sein, erklärt Dania Schiftan. Mit uns spricht die Sexologin über die spielerische Variante der Sexualpraktik, verrät, wie man das Tabuthema am besten anspricht und was es beim Praktizieren zu beachten gilt.
annabelle: Dania Schiftan, wir haben für unsere Spezialausgabe zum Thema Tabu mit einem Schreiner gesprochen, der BDSM-Möbel anfertigt. Er wollte anonym bleiben, und auch seine Kundschaft wünscht sich Diskretion. Warum ist es in unserer übersexualisierten Gesellschaft noch immer ein Tabu, über BDSM zu sprechen?
Dania Schiftan: Dem Mythos der übersexualisierten Gesellschaft stimme ich nicht zu. Wir schneiden das Thema Sex zwar oft an, bei einem Bier etwa. Wirklich darüber reden tun aber die wenigsten. Oder nur, solang es gut läuft, alles andere scheint zu intim. Dabei kann es doch nur bereichernd sein zu hören, wie andere Sexleben funktionieren.
Und wer selten über Sex spricht, spricht noch seltener über BDSM?
Meistens, ja. Wobei es genau dieses Tabu ist, das Verbotene, das BDSM mitunter reizvoll macht. Diese Sexualpraktiken leben ja weit mehr Leute aus, als man denkt. Unter dem Strich lässt sich aber sagen: Der Aufklärungs- und Redebedarf ist immer noch enorm. Man muss BDSM endlich entdramatisieren. «Fifty Shades of Grey» war da für viele ein Türöffner.
Man kommt bei diesem Thema also tatsächlich nicht umhin, über dieses popkulturelle Phänomen zu sprechen?
Klar, die Bücher und Filme sind nicht unumstritten, aber dank ihnen wurde BDSM zum Thema. Man durfte plötzlich im Tram mit Kollegen darüber sprechen. Auch bei mir in der Praxis gab es eine «Fifty Shades of Grey»-Welle, viele meiner Patienten haben BDSM angesprochen. Das ist mittlerweile wieder abgeflacht.
Entsprechen die Handlungen in den Büchern und Filmen der gelebten Realität?
In vielen Punkten ja. Aber es bleibt ein fahler Beigeschmack. Eines haben nämlich auch die Bücher und Filme nicht überwunden: das Image des Gestörten in einer solchen Konstellation, jemand mit gestörter Kindheit. Dem ist einfach nicht so. Es gibt so viele Leute, die BDSM praktizieren. Und trotzdem werden Menschen, die sagen, dass sie darauf stehen, kritisch beäugt. Dafür muss BDSM doch nicht mal ein Fetisch sein. Es kann auch eine Spielvariante sein.
Bevor wir über die Spielvariante sprechen: Wie definiert sich im Gegenteil das Wort Fetisch?
Ein Fetisch bedingt immer eine Ausschliesslichkeit. Ich habe zurzeit einige Patienten, die einen Fetisch haben. Sie können nur durch einen bestimmten Trigger erregt werden, was für die Betroffenen anstrengend sein kann.
Wie entsteht ein Fetisch?
Einen Fetisch entwickeln Menschen typischerweise in ihrer Kindheit. Die meisten Jungs ziehen irgendwann die Schuhe ihrer Mutter an. Sie finden das unglaublich spannend und aufregend. Und es gibt immer wieder Jungs, die dabei vor lauter Aufregung eine Erektion bekommen. Das ist überhaupt kein Problem. Die Frage ist nur: Macht der Junge aus diesem Zufall eine Gewohnheit, weil es so gut funktioniert hat? Entwickelt er einen Schuhfetisch? Oder denkt er: Es hat gut funktioniert, jetzt probier ich noch das aus und das und das. Das kommt ganz auf die Kreativität des Jungen an.
Menschen mit Fetisch sind in sexueller Hinsicht also unkreativer als andere?
Das würde ich so nicht sagen. Sie sind auf eine andere Art kreativ: Sie investieren wahnsinnig viel darin, ihren Fetisch noch interessanter zu machen. Und oft auch darin, ihn zu verstecken. Ich hatte vor Kurzem ein Paar bei mir in der Praxis. Sie hatte herausgefunden, dass er immer Windeln für die Selbstbefriedigung benutzt. In der Paarsexualität hat er das lang gut kaschiert, die Windel lag beim Sex unter dem Kopfkissen oder unter der Matratze. Wir haben dann einen Weg gefunden, wie er auch auf andere Art erregt werden kann, nicht mehr nur dank der Windel.
Vom Extrem der Ausschliesslichkeit hin zur Spielvariante. Was können Sie darüber sagen?
BDSM ist ein endloses Spiel der Sinne. Man kann dabei mit allen Arten von Berührungen arbeiten: mit leichten, starken, mit Kitzeln, Streicheln, Wärme und Kälte. Einzelne Sinne können verstärkt werden, indem man andere ausschaltet. Es ist ein Spiel mit Macht und Hingabe, es geht darum, ausgeliefert zu sein und Verantwortung zu tragen. Man kann dieses Spiel über Stunden ausweiten und seine Sexualität voll auskosten. BDSM ist eine Spielwiese für Erwachsene – und der Gegensatz zu einer routinierten Form der Sexualität, wie sie die allermeisten Paare leben.
Viele denken bei BDSM aber vermutlich weniger an eine Spielwiese als an Schmerzen oder gar an Gewalt.
Häufig wird Erniedrigung so verstanden. Aber BDSM ist nicht gleichzusetzen mit der Lust am Gemeinsein. Natürlich, es gibt Paare, die Gewalt anwenden – das liegt im Ermessen der Praktizierenden. Wenn ein Paar BDSM ernst nimmt, sprechen sie vor einer Session sehr genau ab, wer wie weit gehen darf. Sie vereinbaren Sicherheitswörter. Beide müssen sich darauf verlassen können, dass der andere die Grenzen nicht überschreitet. Das hat sehr viel mit Vertrauen zu tun. Darum praktiziert man BDSM im Normalfall auch nicht mit irgendjemandem, sondern mit einem Menschen, dem man vertraut und der weiss, was er macht. Niemand darf einfach so draufloshauen.
Weil das gefährlich wäre?
Ja. Auf die Nieren schlagen etwa ist gefährlich. Oder Würgespiele. Oder bei Spielen mit Wachs herkömmliche Kerzen verwenden: Die werden viel zu heiss, da kann es zu Verbrennungen kommen. Klar, dass Neulinge dann denken, BDSM sei Quatsch, und es fortan bleiben lassen. Dabei hätte das nicht sein müssen.
Wie eignet man sich entsprechendes Wissen an?
Man kann Filme schauen, Bücher lesen oder Kurse besuchen. Es gibt beispielsweise Spieltreffs, bei denen man lernt, wie man richtig fesselt, haut, hält. Da steckt eine ganze Wissenschaft dahinter.
Ist BDSM etwas, das Sie Paaren empfehlen, deren Sexualität eingeschlafen ist?
Machts noch wilder, dann kommts gut? So ist es nicht. In Paartherapien geht es nie darum, explizit etwas auszuprobieren. Da fragt man eher: Warum habt ihr keine Freude mehr am Sex? Wenn das Paar aber selber auf die Idee kommt, sich im BDSM Inspiration zu holen, dann sage ich natürlich nicht Nein.
Was, wenn ein Partner BDSM praktizieren möchte und der andere nicht? Soll sich der eine Partner dann auswärts austoben dürfen?
Tatsächlich schlagen mir das viele Paare als Lösung ihrer Probleme vor. Ich bin aber selten überzeugt, dass das wirklich eine Lösung ist. Meistens ist das Paar ja bei mir in der Praxis, weil es eben doch nicht okay ist für einen von beiden. Dann gibt es zwei Überlegungen. Entweder man holt sich woanders, was einem der Partner nicht geben kann. Oder aber man fragt sich, ob man denn wirklich all seine Bedürfnisse ausleben muss. Wir werden ja durch vieles angezogen, durch braune Haare oder grosse Hände etwa. Der Partner erfüllt immer nur einen gewissen Teil dieser Anziehungscodes – wenn überhaupt. Andersrum kann man aber natürlich auch fragen: Warum ist der andere Partner gegen BDSM? Hat er es ausprobiert und findet es doof? Oder will er es aus Prinzip nicht?
Sind es eher Frauen oder Männer, die BDSM praktizieren möchten?
Meine Erfahrung als Paartherapeutin sagt: Das ist völlig ausgeglichen. Auch innerhalb von BDSM gibt es keine Vorlieben, die ich eher Männern oder Frauen zuschreiben könnte.
Bei Ihnen landen die Paare ja meist erst, wenn sie zu zweit nicht mehr weiterkommen. Wie aber informiert man seinen Partner in einem ersten Schritt über seine – vielleicht ausgefallenen – sexuellen Bedürfnisse?
Hauptsache, nicht im Bett während des Sex. Am besten einen Gesprächstermin abmachen, dann kann der andere sich nämlich auch Gedanken machen und wird nicht überrumpelt. Man sollte sich ganz genau überlegen, was man sich wünscht, und dazu dann auch schon Infos ins Gespräch mitbringen. Vielleicht erschrickt der Partner im ersten Moment, aber ist dann doch interessiert daran, die Wünsche bis zu einem gewissen Grad zu erfüllen.
Sie arbeiten seit vielen Jahren als Therapeutin. War Ihnen je eine BDSM-Praktik zu extrem?
Schwierige Frage. Mir muss ja nicht gefallen, was ein Paar macht. Darum bewerte ich auch nicht, ob es mir zu extrem ist oder nicht. Die Fragen, die mich beschäftigen, sind: Ist die Praktik gesundheitsschädigend? Gefährlich? Falls nicht, kann ich gut damit arbeiten. So schnell falle ich vor Schreck jedenfalls nicht vom Stuhl. Es kommt aber auch keiner und fragt sich: Womit kann ich Frau Schiftan heute erschrecken? Dafür ist eine Sprechstunde bei mir etwas zu teuer.
Dania Schiftan arbeitet als Sexologin und Psychotherapeutin. Sie lebt in Zürich und hat soeben ein neues Buch veröffentlicht: Dania Schiftan: Coming Soon. Orgasmus ist Übungssache. Piper-Verlag, München 2018, 203 Seiten, ca. 23 Franken