Böses Erwachen: Bericht eines K.-o.-Tropfen-Opfers
- Text: Nadine Chaignat, Illustration: Shout
Sie schmecken nach nichts und riechen nach nichts. Doch wer K.-o.-Tropfen trinkt, ist schon Minuten später ein willenloser Mensch – ein Opfer, das im Nachhinein sogar sich selbst misstraut. Das Protokoll eines Filmrisses.
Die Bettdecke riecht fremd. Sie ist nicht zuhause. Doch wo ist sie? Und wieso ist sie nackt? Ein Mann kommt ins Zimmer. Sie kennt ihn nicht. Bestimmt wird sie gleich aufwachen und feststellen, dass sie bloss geträumt hat. Doch sie ist bereits wach. «Dein Freund ruft an», sagt der Mann. Ihr Handy vibriert, sie kramt es hervor. Es ist acht Uhr morgens. Sie liegt bei einem fremden Mann im Bett. Was soll das? Sie hat einen Freund. Sie liebt ihn. Was macht sie hier? Was ist passiert?
Fabienne Stettler * (29) feiert gern. Sie trinkt auch gern. Am Abend zuvor hatte sie sich mit einer Freundin am Berner Barstreet-Festival verabredet. Die letzten Wochen waren streng. Die Immobilienbewirtschafterin hatte viel gearbeitet. «Ich habe mich extrem auf diesen Abend gefreut», sagt sie, «ich war total gut drauf, hatte mega Spass.» 50 000 Besucher erwartete das Festival, das sich jeweils über fünf Wochenenden erstreckt; es ist traditionell die erste grosse Sause nach Silvester. Die «pulsierende Partystadt», so versprach die Website, biete «unvergessliche Partynächte».
Um 2.30 Uhr wollte ihre Freundin nachhause. Fabienne Stettler blieb und schloss sich den Kollegen ihrer Freundin an. Mit dem Alkohol war sie zurückhaltend und stieg schliesslich auf Wasser um. Trank ein, zwei Becher, tanzte. Als Letztes erinnert sie sich daran, wie zwei Männer auf sie zukamen und mit ihr sprachen. Sie erzählte ihnen, sie sei der Liebe wegen nach Bern gekommen. Das weiss sie noch. «Dann ist da nichts mehr. Von einem Moment auf den andern. Wie eine weisse Wand. Alles weg.»
Das Handy klingelt erneut. Sie nimmt ab. Ihre Freundin fragt, wo sie sei. Sie sagt, sie wisse es nicht. Ob sie bei einem Mann sei? «Ja», antwortet sie und kann die Tränen kaum zurückhalten. Was hat sie getan?
Erinnerung fehlt
An mehr als flüchtige Bilder kann sich Fabienne Stettler bis heute nicht erinnern. «Ich bin in ein Auto eingestiegen, ganz selbstverständlich, ohne Angst. Aber ich war wie leer. Wahrscheinlich bin ich freiwillig mitgegangen, keine Ahnung.» Die nächste Erinnerung: «Das Auto hält an. Der Fahrer steigt aus.» Dunkelheit. Einige Sequenzen im Bett. «Ich weiss nicht, ob ich dabei nackt war. Aber am nächsten Morgen war ich es.»
Das macht alles keinen Sinn, denkt Fabienne Stettler. Sie ist wegen Lukas * nach Bern gekommen. Wenn diese Beziehung kaputtgeht, hat sie eigentlich niemanden hier. Warum sollte sie ihn betrügen wollen? Sie weiss ja nicht einmal, wie der Typ heisst, der da in der Wohnung herumschleicht. Sie muss hier raus. Vorsichtig steht sie auf, die Decke um den Körper gewickelt. Ihre Kleider sind überall im Bett verteilt. Nur ihre Schuhe stehen akkurat nebeneinander auf dem Boden. Das irritiert sie. Hätte sie sich selbst ausgezogen, hätte sie sie bestimmt nicht so ordentlich hingestellt. Dann kommt der Typ zurück. Streckt ihr ihre Ohrringe entgegen, die kleinen, schwarzen. Verwirrt fragt sie sich, warum sie sie abgelegt hat. Das passt alles nicht zusammen. «Ruf mir ein Taxi», sagt sie ruppig. Ihr ist schwindlig und übel. «Ich fahre dich», antwortet er, «das ist das Mindeste, was ich tun kann.» Egal, bloss weg hier. Sie weiss ja nicht einmal, wo sie ist.
Im Auto merkt sie, dass der Typ im selben Quartier wohnt wie die Familie ihres Freunds. «Wie lange bist du schon mit deinem Freund zusammen?», fragt er. Er fährt ruhig und konzentriert. Sie schaut ihn nicht an, sondern blickt stumm zum Fenster hinaus. Draussen ist alles so wie immer. Die Stadt erwacht. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen sie beim Haus ihrer Freundin an. Er fährt rechts ran. «Viel Glück», sagt er. Sie steigt aus und knallt die Autotür zu.
Normalerweise hätte sie anders reagiert, da ist sich Fabienne Stettler sicher. Hätte den Mann zur Rede gestellt, gefragt, wer er sei und was passiert ist. «Aber ich war in einer Art Schockzustand, konnte das alles nicht einordnen.»
Zuerst wollte sie das Vorgefallene vor ihrem Freund Lukas verheimlichen. «Ich konnte doch nicht sagen, ich sei nackt bei einem Typen aufgewacht, aber ich habe das nicht gewollt. Das glaubt dir doch kein Mensch!» Drei Jahre waren Lukas und Fabienne zu diesem Zeitpunkt bereits ein Paar. Ein halbes Jahr zuvor war sie zu ihm nach Bern gezogen, in eine schmucke Dreizimmerwohnung in einem ruhigen Quartier. Nun stand das alles plötzlich auf dem Spiel. Trotzdem hielt sie die Heimlichtuerei keinen Tag lang durch. Weinend berichtete Fabienne Stettler ihrem Freund, was passiert war. «Er reagierte wütend, konnte es kaum fassen», sagt sie, «war aber auch besorgt.»
Lukas riet ihr, ins Spital zu gehen. Von selbst wäre sie nicht auf diese Idee gekommen, «ich war ja total überfordert, konnte nicht mehr klar denken.»
Spurensicherung, gynäkologischer Untersuch, Blutentnahme
Im Spital hört Fabienne Stettler erstmals das Wort K.-o.-Tropfen. Ein Gerichtsmediziner wird gerufen. Es folgt eine Spurensicherung: ein gynäkologischer Untersuch, Abstriche wegen möglicher Geschlechtskrankheiten, Blutentnahme, Urinprobe. Fabienne muss sich entscheiden, ob sie die HIV-Prophylaxe nehmen will, die in solchen Fällen vorgeschlagen wird – starke Medikamente mit unangenehmen Nebenwirkungen. In Fabiennes Erinnerung gab es keinen Geschlechtsverkehr. «Zudem war die Wohnung sehr ordentlich, gar nicht siffig. Der Mann machte auf mich auch keinen dummen Eindruck. Deshalb hatte ich nicht in erster Linie vor Krankheiten Angst.» Sie verzichtet auf die Prophylaxe.
Viele der Substanzen, die unter dem Begriff K.-o.-Tropfen oder Date-Rape-Drugs zusammengefasst werden, sind leicht zu beschaffen. Die bekannteste heisst GBL (Gammabutyrolacton) und ist als Partydroge Liquid Ecstasy in der Szene erhältlich. Den Wirkstoff GHB (Gammahydroxybutyrat) kann man ganz einfach per Mausklick im Internet bestellen. Andere Substanzen stammen aus handelsüblichen Medikamenten und werden normalerweise als Schlaf- und Beruhigungsmittel verschrieben. K.-o.-Tropfen sind meist geschmack- und geruchlos, weshalb die Opfer nichts davon bemerken, wenn ihnen der Täter heimlich etwas in den Drink geschüttet hat. Etwa 15 Minuten nach der Einnahme werden die Opfer euphorisch, bald darauf müde. Sie wirken betrunken oder leicht weggetreten und leiden später unter Erinnerungslücken. Da sich die Substanzen rasch wieder abbauen, sind sie im Blut nur rund acht Stunden, im Urin maximal zwölf Stunden nach der Einnahme nachweisbar. Zu kurz für die meisten Opfer.
Bliebe noch die Möglichkeit einer aufwendigen Haaranalyse. «Diese kann auch Wochen später noch Hinweise darauf geben, ob eine Person in Kontakt mit entsprechenden Substanzen war», erklärt der Mediziner Jochen Beyer, Leiter des Fachbereichs Forensische Toxikologie am Kantonsspital St. Gallen. Allerdings ist die zeitliche Eingrenzung eines solchen Kontakts aufgrund von unterschiedlichen Haarwachstumsgeschwindigkeiten und anderen Faktoren recht grob. «Es können keine Tage und erst recht nicht Stunden einer möglichen Verabreichung angegeben werden. Daher ist ein positives Ergebnis einer solchen Analyse nur ein Indiz in den Ermittlungen von Justizbehörden», betont Jochen Beyer – und kein Beweis.
Beyers Kollegen vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich konnten in den letzten 15 Jahren nur in sechs Fällen zweifelsfrei K.-o.-Tropfen nachweisen. Verdachtsfälle jedoch gibt es viele, allein auf der Notfallstation des Universitätsspitals Zürich bis zu sechs pro Monat. Eine deutliche Häufung vermerkt die ärztliche Leiterin Dagmar Keller bei grösseren Events: «An der letztjährigen Street-Parade hatten wir 32 Patienten mit Intoxikationen, davon viele mit Mischintoxikationen, unter anderem auch GHB.»
In Fabienne Stettlers Erinnerung ist es, als hätte sie in jener Nacht vergessen, wer sie ist, wo sie herkommt – wo sie hingehört. Sonst wäre sie doch nie zu diesem Mann gefahren, sondern heim zu ihrem Freund. «Obwohl, vielleicht habe ich ja auch gemeint, dass er mein Freund sei. Mir ist, als hätte ich ihm nachts ins Gesicht geschaut und sei irritiert gewesen, weil er der Falsche war. Dass ich dann nicht reagiert habe, ist komisch.»
Blutergüsse an Busen und Oberschenkeln
Frauen, die sexuelle Gewalt erleiden, übernehmen häufig und wie automatisch eine Mitverantwortung für das Geschehene. «Bei K.-o.-Tropfen spitzt sich diese Thematik noch zu», sagt Therese Burri von der Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt in Bern. Sie hat schon viele Opfer getroffen. Manche berichten, dass sie plötzlich aus einem Tiefschlaf aufgetaucht seien und erlebten, wie ein fremder Mann sexuelle Handlungen an ihnen vollzog. Andere bemerkten Blutergüsse an Busen und Oberschenkeln oder erwachten auf der Strasse, im Wald, auf Spielplätzen. «Alle erzählten von einem sehr ausgeprägten Unwohlsein beim Aufwachen und schilderten, dass ihnen ihr Körper während mehrerer Stunden nicht richtig gehorcht habe.» Viele glauben, auch deshalb für die Tat mitverantwortlich zu sein, weil sie ihren Drink unbeaufsichtigt stehen liessen. Manche befürchten auch, sie hätten dem Täter Avancen gemacht. Weil sich die Tropfen im Blut so schwer nachweisen lassen, bleibt die Frage der Mitverantwortung meist offen. Das macht es noch komplizierter, das Geschehene zu verarbeiten.
Auch Fabienne Stettler kam zu spät ins Spital, um die Substanz in ihrem Blut noch nachweisen zu können. Sie legt sich ihre eigene Wahrheit zurecht. Eine, die sie – wie sie sagt – entlastet. Dass es keinen Geschlechtsverkehr gegeben habe. Sie glaubt, sich an einen Moment zu erinnern, in dem sie sich von dem fremden Mann abwendete, ihm signalisierte: Lass mich. «Ich denke, der hat mich dann sicher in Ruhe gelassen.» Erinnerungen, die nicht zu dieser Version passen, blendet sie aus. «So ist es erträglich für mich.»
«Du darfst entscheiden, ob wir zusammenbleiben oder nicht», hatte sie Lukas gesagt, als sie sich noch tief in seiner Schuld gefühlt hatte. Jetzt allmählich begreift sie, dass sie sich die Situation nicht ausgesucht hat. Sie ist ihr passiert. Sie ist ihnen beiden passiert. Die ersten Tage sind schlimm. Sie steht unter Schock, sitzt stunden-, tagelang am selben Ort. Tut nichts, isst nichts. Nicht zu wissen, was passiert ist, macht sie krank.
Über 3500 Franken kosteten sie die Folgen jener Nacht: Arzt, Medikamente, Psychotherapie, Rechtsberatung. Einen grossen Teil davon hat die Opferhilfe beglichen. Drei Wochen war Fabienne Stettler krankgeschrieben. Ihren Arbeitskollegen hat sie mitteilen lassen, es habe einen «Vorfall» gegeben, über den sie nicht sprechen wolle, sie brauche Zeit, um sich davon zu erholen. «Das haben alle akzeptiert.»
Inzwischen weiss sie, wer der Mann war, in dessen Bett sie aufgewacht ist. Mit ihrem Freund hat sie das Haus gesucht, in dem alles passiert ist. «Obwohl ich damals überhaupt nicht darauf geachtet habe, wo ich bin, erkannte ich das Haus sofort, als ich davorstand.» Zuhause googelten sie die Namen von den Klingelschildern. Kurze Zeit später lachte er sie von einem Foto an.
«Das ist er», sagt sie. Und spürt, wie Lukas sich verkrampft. Schon krass. Er sieht aus wie ein Mensch, dem man so etwas gar nicht zutrauen würde. Er ist Zahnarzt. Intelligent. Er hat Geld. So einer ist so pervers und berechnend?
Fabienne Stettler glaubt, ja. Er ist gefahren in jener Nacht, er war nicht betrunken, das macht ihn für sie verdächtig. Und an die K.-o.-Tropfen kommt er als Zahnarzt leicht heran. Fabienne Stettler hat den Mann niemals wieder getroffen. Nach wie vor ist sie unsicher, ob sie ihn anzeigen soll. Sie hat kaum etwas gegen ihn in der Hand. Spermaspuren gab es keine. Erinnerungen an die Nacht hat sie kaum. Auch mit Krankheiten hat er sie nicht angesteckt. «Es steht also Aussage gegen Aussage – im Zweifel würde das Gericht für ihn entscheiden», glaubt sie. Gut möglich, dass sie mit ihrer Einschätzung recht hat.
Noch kein Jahr ist es her, da wurde vor dem Obergericht Zürich ein Mann vom Vorwurf entlastet, eine 16-jährige Schülerin mit K.-o.-Tropfen betäubt und dann sexuell missbraucht zu haben. Trotz geringer Erfolgschancen hatte die zuständige Staatsanwältin Iris Matzinger auf Schändung geklagt. Bereits in erster Instanz wurde der heute 26-jährige Mann freigesprochen. Die Angaben des Opfers waren laut Gericht «sehr fragwürdig» und somit «nicht glaubhaft», wie der «Tages-Anzeiger» schrieb. Trotzdem rät Iris Matzinger jedem Opfer, eine Anzeige ernsthaft zu erwägen. «Ich finde es schlimm, wenn eine Frau auf eine Anzeige verzichtet, nur weil sie glaubt, vor Gericht keine Chance zu haben. Chancen gibt es immer, auch wenn der Beschuldigte die Tat bestreitet.»
Sexueller Missbrauch unter Betäubung
Nach einer Anzeige gibt es kein Zurück mehr. Sexueller Missbrauch unter Betäubung gilt als Offizialdelikt, das von Amts wegen verfolgt wird. Fabienne Stettler müsste einen Prozess durchstehen. Müsste aushalten, dass man ihre Aussagen anzweifelt. «Das ist unangenehm», sagt Iris Matzinger. «Man muss die Tat detailliert schildern, alles wird breitgetreten vor Gericht, die Zeitungen berichten darüber. Am Ende muss jede Frau mit sich selbst ausmachen, ob sie dazu in der Lage ist.»
Viele Opfer von K.-o.-Tropfen verzichten deshalb lieber auf eine Anzeige. Das zeigt auch der im vergangenen Sommer publik gewordene Fall aus dem aargauischen Hendschiken: Insgesamt sechs Frauen soll ein 60-jähriger Mann mit K.-o.-Tropfen betäubt, missbraucht und dabei gefilmt haben. Bei der Durchsuchung seines Hauses und eines Kellerabteils, das er im Nachbardorf gemietet hat, stiessen die Polizisten auf eine «Kammer des Schreckens» («Blick»). Darin: ein Bett, eine Videokamera, Licht und ein Fernseher. Laut Staatsanwaltschaft wurden auch diverse Tabletten sichergestellt. Die beschlagnahmten Videos zeigen, wie der Mann die bewusstlosen Frauen schändet, schlägt und quält. Doch nicht eines der sechs Opfer hat nach der erlittenen Pein die Polizei kontaktiert, wie der stellvertretende Oberstaatsanwalt Daniel von Däniken auf Anfrage bestätigt. Dem Mann auf die Spur kam die Polizei nur per Zufall – wegen einer Hanfplantage.
Für Fabienne Stettler wäre eine Anzeige ein Schritt aus ihrer Ohnmacht und Wehrlosigkeit. Sie weiss das. Ausserdem könnte sie dadurch andere schützen – «die künftigen Opfer», sagt sie. Aber noch ist sie sich nicht sicher, ob sie auch die nötige Kraft dazu hat.
Das Geschehen ist jetzt ein Jahr her. Weiterhin besucht sie eine Psychotherapeutin. Gemeinsam mit ihrem Freund geht sie auch in eine Paartherapie, um alles zu verarbeiten. «Was wir beide zusammen haben, geben wir nicht so schnell auf.»
Sie sind mit dem Auto unterwegs zu Lukas’ Familie. Sie nähern sich dem Haus des Zahnarztes. Wenn es woanders passiert wäre, wäre es einfacher, denkt sie. Dann wäre es nur noch in ihrem Kopf. Beide sagen sie nichts, als sie am Haus vorbeifahren. Aber beide denken an dasselbe.
* Namen geändert
1.
Die freie Berner Journalistin Nadine Chaignat hat für uns recherchiert.