Autorin Sarah Diehl: «Frauen sind viel zu selten allein»
- Text: Sonya Jamil
- Bild: Ivo Mayer
In ihrem Buch «Die Freiheit, allein zu sein» zeigt Autorin Sarah Diehl auf, wieso Frauen das Alleinsein weniger zugestanden wird. Ein Gespräch über alte Jungfern und einsame Wölfe.
annabelle: Sarah Diehl, in Ihrem Buch schreiben Sie: «Wenn ich allein bin, ist die ganze Welt bei mir.» Was meinen Sie damit?
Sarah Diehl: Wenn ich allein bin, gehe ich nach Lust und Laune meinen eigenen Bedürfnissen nach – ich muss sie nicht disziplinieren, an niemanden anpassen. Ich gehe auch gerne allein auf Reisen und habe so einen ganz anderen Zugang zu Fremden, als wenn ich in einer Gruppe unterwegs bin. Ich bin in einem Dorf aufgewachsen und habe schon in meiner Jugendzeit viel Zeit allein verbracht. Ich bin meine eigene beste Freundin.
Was aber, wenn man sich im Alleinsein einsam fühlt?
Ich will Einsamkeit nicht beschönigen. Und dennoch möchte ich darauf aufmerksam machen, dass man in der Einsamkeit eben meist das vorfindet, was man glaubt, vorzufinden: Wenn ich schon vorweg Scham oder Angst empfinde, kann ich mir das Alleinsein gar nicht versöhnlich gestalten. Mein Buch soll Frauen dazu inspirieren und ermutigen, das Alleinsein immer wieder bewusst zu suchen und zu ihren Bedingungen frei zu gestalten. In unserer Gesellschaft wird Männern das Alleinsein immer noch mehr verziehen als Frauen. Deshalb sind Frauen auch viel zu selten allein.
Wie meinen Sie das?
Bei Männern wird das Alleinsein oft als aktiv gewählter Zustand gesehen: Sie sind «begehrte Bachelors» oder «einsame Wölfe». Alleinstehende Frauen werden hingegen nicht selten als «alte Jungfern» abgestempelt, die niemand will. Bei einer Frau kann das Angst auslösen: vor einer Trennung, einer Scheidung und der Abwertung ihres sozialen Status.
«Die typische bürgerliche Kleinfamilie ist kein Heilmittel gegen Einsamkeit»
Ist diese Angst berechtigt?
Nicht zwingend. Es hat sich gezeigt, dass Frauen durch ihre sozialen Kompetenzen nach einer Trennung viel schneller wieder gesellschaftlichen Anschluss finden als Männer. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich finde eine Partnerschaft oder Mutterschaft etwas Schönes, aber die typische bürgerliche Kleinfamilie ist auch kein Heilmittel gegen Einsamkeit. Im Gegenteil: Sie treibt viele Menschen in die Einsamkeit.
Warum?
Weil sie grössere solidarische Gemeinschaften verhindert. Ausserdem wird Frauen von klein auf beigebracht, die Bedürfnisse anderer über ihre eigenen zu stellen – das kommt vor allem in Familien zum Tragen. Ein grosser Teil der Fürsorgearbeit lastet immer noch auf der Frau. Wenn sie diese Verantwortung nicht übernimmt, wird ihr das übel genommen. Das macht es schwierig, sich Freiräume zum Alleinsein zu schaffen. Ich wünsche mir, dass Frauen eine gesunde Ignoranz für gesellschaftliche Massstäbe entwickeln und selbstbewusster ihren eigenen Werten vertrauen.
Wie schafft man es, in einer Partnerschaft «gemeinsam allein» zu sein?
Man sollte sich von der Vorstellung befreien, wie eine Beziehung auszusehen hat. Ich zum Beispiel halte meine Partnerschaft frei von gemeinsamem Wohnraum oder Bankkonto; so kann ich meinen Partner viel eher für den Menschen akzeptieren und lieben, der er ist. Diese bewusste Trennung mag nicht bei allen funktionieren, aber ich kenne auch Paare mit Kindern, die es so handhaben.
Was müsste sich gesellschaftspolitisch ändern, damit Frauen mehr allein sein können?
Es beginnt mit der Wertschätzung und der entsprechenden finanziellen Entlohnung der Fürsorgearbeit, welche die Frau leistet. Und gäbe es vermehrt grössere Verantwortungsgemeinschaften abseits der Mutter-Vater-Kind-Konstellation, wie grosse WGs, Mehrgenerationenhäuser und soziale Elternschaft mit Freund:innen, könnte die Elternschaft und Fürsorgearbeit auf mehrere Schultern verteilt werden. Frauen hätten somit mehr Raum zum Alleinsein, da sie im Alltag Aufgaben abgeben könnten und nicht jede Herausforderung allein bewältigen müssten. Und es braucht auch mehr Vorbilder, die dazu ermutigen, über den Tellerrand zu schauen.
Sarah Diehl (44) lebt als Autorin und Aktivistin in Berlin. Sie arbeitet zum Thema «Internationale reproduktive Rechte von Frauen», gründete die NGO Ciocia Basia und gibt Seminare zum Thema «Will ich Kinder?». In Ihrem Buch «Die Uhr, die nicht tickt» kritisiert sie die Abwertung der kinderlosen Frau. In ihrem aktuellen Buch «Die Freiheit, allein zu sein» (ca. 34 Fr.) will sie Frauen dazu ermutigen, das Alleinsein zu hinterfragen und bewusst zu suchen.
Ich (61) kann diesem Diskurs nur zustimmen, weil ich das Alleinsein seit jungen Jahren schätze. Als Kind habe ich oft allein in meinem Zimmer gespielt, im Mädcheninternat benötigte ich den Rückzug als Ausgleich, bereits als 20jährige bin ich alleine gereist trotz (damals) schrägen Blicken, in der Beziehung benötige ich meinen Freiraum um zu bestehen, ein eigenes Bankkonto ist eine Selbstverständlichkeit, Alleinsein an manchen Wochenenden als Balance zum anspruchsvollen Berufsleben ist wunderbar, Kinofilme wähle ich nach meinem Interesse… Wenn eine Frau so leben kann, ist sie m.E. stärker. Und wie eine italienische Redewendung sagt: Meglio soli che male accompagnati (Besser allein als in schlechter Begleitung).